Als 1861 das weitgehend unbesiedelte und vor allem landwirtschaftlich oder gärtnerisch genutzte Land nördlich der Stadt Berlin eingemeindet wurde, erfolgte dies gegen den Willen der Berliner Stadtväter. Mit der Bevölkerung auf dem Wedding und am Gesundbrunnen wollten sie gar nichts zu tun haben, diese würden bald städtische Infrastruktur und Wohlfahrt brauchen. Das ließ hohe Kosten erwarten. Das war sehr kurzsichtig, denn die Gebietserweiterung verschaffte der aufblühenden Industrie neue Erweiterungsflächen außerhalb der dicht bebauten Stadt. Und so stieg das vorstädtische Gelände rund um Wedding und Gesundbrunnen zu einer dicht bebauten Stadt voller Arbeitsplätze auf.
Die großen Namen
Viele Betriebe hatten sich um die Eisengießerei in der Invalidenstraße angesiedelt und brauchten neue Flächen. Diese fanden sie im nördlich angrenzenden Wedding. Wo sich schon die Weddingsche Apparatefabrik befunden hatte, breitete sich ab 1888 die (wenige Jahre zuvor gegründete) AEG aus. Das noch immer erhaltene mit rotem Backstein verkleidete AEG-Mutterhaus aus den Jahren 1888–90 kann man im Block Ackerstr./Feldstr./Hussitenstr./Max-Urich-Str. besichtigen. Die AEG übernahm auch ab 1894 den benachbarten Nordteil der Fläche des bis 1870 mit beeindruckenden Hallen und Ställen angelegten Schlacht- und Viehhofs südlich des neu angelegten Humboldthains. Der Schlachthof verschwand vollständig, nur die Bahngleise des Viehmarkts sind noch immer an der Einfahrt an der Hussitenstraße/Gustav-Meyer-Allee zu sehen. Für die AEG wurde das Areal das Herzstück des expandierenden Konzerns, neben der 1897 gegründeten weiteren Produktionsstätte in Schöneweide. Im Wedding beeidruckte die AEG mit ihren berühmten Werkshallen und Backsteingebäuden zwischen der Hussitenstraße, Voltastraße und Brunnenstraße. An letzterer ist das „Beamtentor“ erhalten geblieben. Zwischen dem Mutterhaus in der Ackerstraße und den Werksanlagen hinter der Hussitenstraße wurde 1895 eine werkseigene Untergrundbahn angelegt, die erste in Kontinentaleuropa. Die AEG selbst stellte die Produktion in den 1980er-Jahren ein. Einige der Eisenskeletthallen sind später abgerissen worden, die großen Backsteingebäude werden jedoch noch immer genutzt, zum Beispiel von der Deutschen Welle und Forschungseinrichtungen der TU Berlin. Ein weiteres AEG-Werk war das Hydrawerk zwischen der Drontheimer und der Tromsöer Straße, in dem sich heute unter anderem der POCO-Markt befindet. Zur Schwedenstraße/Tromsöer Straße blieb das AEG-Telefunken-Gerätewerk erhalten, das 1941 fertiggestellt wurde und Röhren für die Rüstungsindustrie fertigte.
Auch die Schwartzkopffsche Berliner Maschinenbau AG expandierte 1862 in den Wedding – von der riesigem Fabrik an der Hussiten-/Scheringstraße ist nichts mehr erhalten. Dabei wurden dort 4.593 Lokomotiven bis zum Jahr 1910 produziert! Noch immer jedem Weddinger ein Begriff ist hingegen die chemische Fabrik Schering, die ihre Anlagen 1858 – 64 an der Weddinger Fennstraße baute. Als Standort der pharmazeutischen Industrie zwischen der Müllerstraße und dem Spandauer Schiffahrtskanal ist sie, wenn auch unter dem Dach des BAYER-Konzern, bis heute in Betrieb und der mit Abstand größte Arbeitgeber im Wedding.
Noch immer in Benutzung – nur ganz anders
Ein interessantes Produkt aus dem Gesundbrunnen waren Tresore und Geldschränke, die ab 1890 zwischen Badstraße und Osloer Straße von S. J. Arnheim produziert wurden. Das Wohnhaus für Arbeiter hinter der Pankemühle und ein Teil der Werkshallen, die heute als Bildhauerwerkstatt an der Panke genutzt werden, sind noch erhalten.
Eine verzweigte, komplexe Fabrikanlage ist auch zwischen Reinickendorfer, Wiesen‑, Gottsched- und Bornemannstr. zu finden, die Rotaprint-Fabrik. Ab 1920 aus einer bestehenden Fabrik entstanden, wurden die Büros und Produktionsflächen des Druckoffsetmaschinenherstellers bis 1959 sukzessive erweitert, zum Teil mit außergewöhnlich gestalteten Gebäuden (Betoneckhaus Gottschedstr./Bornemannstr.). 1989 geschlossen, sind große Teile erhalten und wurden unter dem Namen „ExRotaprint“ zu einem künstlerisch und gewerblich genutzten Komplex weiterentwickelt.
Eine riesige Fabrik, am Rand eines dicht bebauten Wohngebiets, waren die Bergmann Elektrizitätswerke AG, ab 1932 von Osram übernommen. 1890 errichtet und bis 1914 immer mehr erweitert, spezialisierte man sich ab 1904 auf die Glühlampenproduktion – das größte Werk Europas. Noch bis 1988 wurden Glühlampen produziert. Heute ist das gut erhaltene und vielfältig genutzte Areal als Osramhöfe oder Carree Seestraße bekannt.
In der Maschinenfabrik R. Roller zwischen der Prinzenallee und der Osloer Straße wurden Maschinen für die Zündholzfertigung gebaut. Heute befindet sich in dem gut erhaltenen Gebäude die Fabrik Osloer Straße, unter anderem mit dem Labyrinth Kindermuseum.
Viele kleine produzierende Betriebe waren die bis zu 30 Gerbereien, die sich an der Panke ansiedelten. Sie nutzten den Fluss, um ihre verschmutzten Abwässer abzuleiten – ein Grund dafür, dass die Panke als „Stinkepanke“ in Verruf geriet und weitgehend zugebaut und aus dem Sichtfeld verbannt wurde. In den Gerbereien wurde feinstes Leder hergestellt – zum Beispiel für Glacéhandschuhe. Aber auch Lebensmittel wurden im Wedding produziert. Die Wittler Brotfabrik in der Maxstraße war die erste industrielle Bäckerei (bis zu 66.000 Brote täglich) in Berlin, bekannt für Pumpernickel und Schwarzbrot. Heute befindet sich im vorderen Fabrikteil ein Pflegeheim. Die Groterjan-Brauerei für Malzbier an der Prinzenallee 78⁄79 war bis in die 1960er Jahre in Betrieb. Selbst Schokolade wurde in einem Stollwerk-Zweigwerk hergestellt.
Es ist wohl nicht möglich, auch all die kleinen Fabriken des Wedding aufzuzählen – aber es gibt eine, die gar keine ist: das als „Wiesenburg“ bekannte Gelände zwischen der Panke und der Wiesenstraße, das wie eine teilweise verfallene Industrieanlage wirkt. Tatsächlich handelte es sich um ein riesiges Obdachlosenasyl, in dem Tausende Wohnungslose versorgt und beherbergt wurden.
Ich lebe seit 1968 im Wedding und freue mich über ihre Artikel.
Sehr informativer Artikel. Mehr davon!
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