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Müllerstraße: Großer Boulevard mit Lackschäden

Einst der Ku'damm des Nordens - heute eine Hauptschlagader des Wedding im Niedergang
20. Dezember 2017
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An der Müllerstraße ist der Lack ab

Die Mül­lerstra­ße, die über drei Kilo­me­ter lan­ge, unan­ge­foch­te­ne Ver­kehrs­ader des Wed­ding, besitzt noch das For­mat einer Haupt­stra­ße. Ihr beschei­de­ner Anfang als Sand­pis­te zwi­schen Tegel und Ber­lin ist ihr jeden­falls nicht mehr anzu­se­hen, Res­te der länd­li­chen Bebau­ung vor den Toren Ber­lins gibt es auch nicht mehr. Wie so vie­le Magis­tra­len ande­rer Welt­städ­te führt sie schnur­ge­ra­de aus den Vor­or­ten direkt ins Herz der Innenstadt.


Zumin­dest die Namen ihrer Ver­län­ge­run­gen, Chaus­see­stra­ße und Fried­rich­stra­ße, haben auch über­re­gio­nal einen guten Klang. Unter dem Asphalt beför­dert die U‑Bahn Pend­ler und Tou­ris­ten in die City und wie­der her­aus. An der See­stra­ße und am Leo­pold­platz ist zu jeder Tages­zeit etwas los, und auch die­se Kreu­zun­gen lie­gen an der Mül­lerstra­ße. Ver­schwun­den sind die Wind­müh­len, die ihr den etwas banal klin­gen­den Namen gaben. Eine Per­son mit Nach­na­men Mül­ler war jeden­falls kein Namens­ge­ber. Ein­kau­fen auf der Mül­lerstra­ße, das hat­te mal einen guten Klang. Fach­ge­schäf­te und Kauf­häu­ser boten bis in die 1990er Jah­re das, was heu­te die Shop­ping­cen­ter am Gesund­brun­nen und in Tegel ver­kau­fen. Doch die Zei­ten, in denen Tau­sen­de hier auf dem “Ku’­damm des Nor­dens” ent­lang­bum­mel­ten und ein­kauf­ten, sind längst vor­bei. Die Kauf­kraft ist von Wed­dings Ein­kaufs­mei­le in die Cen­ter abge­wan­dert. Die Mül­lerstra­ße könn­te höchs­tens mit eini­gen Nischen punkten:

Stark im schwachen Segment

Müllerstraße (C) Kaluba

Als sich stän­dig wan­deln­de Ein­kaufs­stra­ße unter frei­em Him­mel, zumal mit tosen­dem Ver­kehr, ist sie um Län­gen urba­ner ist als Ein­kaufs­zen­tren, die über­all auf der Welt gleich aussehen.

In die meist nicht lan­ge leer ste­hen­den Geschäf­te mit frü­her klang­vol­len Namen sind vie­le tür­ki­sche Spe­zia­li­tä­ten­lä­den, aber auch Spiel­ca­si­nos und Ein-Euro-Geschäf­te gezo­gen. Sogar C&A hat sei­ne Pfor­ten geschlos­sen – ein gro­ßer tür­ki­scher Gemü­se­händ­ler hat einen Teil der Laden­flä­che ein­ge­nom­men. Eini­ge weni­ge “Leucht­tür­me” sind aber geblie­ben, dar­un­ter die H&M- und die Kar­stadt-Filia­le direkt am Leo­pold­platz. Mit ihrem Mul­ti­kul­ti-Flair und Läden mit exo­ti­schem Ange­bot könn­te die Mül­lerstra­ße ein ganz eige­nes Pro­fil entwickeln.

Ganz unten: die südliche Müllerstraße

An der Mül­lerstra­ße rei­hen sich die weni­gen Sehens­wür­dig­kei­ten, die der Wed­ding besitzt, wie auf einer Per­len­ket­te anein­an­der. Doch im Süden hat der Krieg ein gan­zes Vier­tel zer­stört, aber auch die Tei­lung der Stadt von 1961 – 89 hat den Süd­ab­schnitt zu einem Un-Ort wer­den las­sen, den die Meis­ten so schnell wie mög­lich durch­que­ren. Den Indus­trie­stand­ort Bay­er mit sei­ner 70er-Jah­re-Optik an der Ecke Fenn­stra­ße wür­de der Betrach­ter eher am Stadt­rand ver­mu­ten. Gegen­über liegt unschein­bar die Dan­kes­kir­che (1972, Archi­tekt Fritz Born­emann), die wie der nahe­ge­le­ge­ne Ring­bahn­hof Wed­ding (2000) über eine frag­wür­di­ge Sicht­be­ton-Äst­ethik ver­fügt. Kaum zu glau­ben: die­ses städ­te­bau­li­che Cha­os heißt “Wed­ding­platz” und war frü­her ein­mal das Herz des gan­zen Ortsteils.

St. Josef in der Müllerstraße
St. Josefs­kir­che an der Müllerstraße

Da geht in der Häu­ser­front die in der rhei­ni­schen Roma­nik gestal­te­te St. Joseph­kir­che, neben dem Kurt-Schu­ma­cher-Haus, der Zen­tra­le der Ber­li­ner SPD, bei­na­he unter. Das gegen­über lie­gen­de Job­cen­ter, ein schö­ner 50er-Jah­re-Bau, ist da ein wesent­lich mar­kan­te­res Gebäu­de. Jah­re­lang war es das Hin­ter­grund­bild, wenn in der Tages­schau über Arbeits­markt­zah­len berich­tet wur­de. Aber sonst ist hier im Zwei­ten Welt­krieg von der grün­der­zeit­li­chen Bebau­ung nicht viel ste­hen­ge­blie­ben. Erst ab der Kreu­zung mit der Gericht­stra­ße beginnt ein geschlos­se­nes Straßenbild.

Alle Wege führen zum Leo

Rich­tig geschäf­tig wird es wie­der am Leo­pold­platz. Gleich zwei Naza­reth­kir­chen gibt es dort – die alte, schlich­te turm­lo­se Kir­che, noch von Schin­kel im Jahr 1835 erbaut, die neue, prot­zig-höhe­re Kir­che aus dem Jahr 1893 , gleich dahin­ter. Der vor den Kir­chen lie­gen­de Platz ist Stand­ort des ältes­ten Öko­markts Ber­lins. Die Grün­an­la­ge, die sich einen hal­ben Kilo­me­ter lang in nord­öst­li­cher Rich­tung an den Platz anschließt, heißt offi­zi­ell eben­falls Leo­pold­platz und dient meh­re­ren park­lo­sen Nach­bar­vier­teln als grü­ne Lun­ge. Mit Spiel­plät­zen und einer land­schafts­gärt­ne­ri­schen Gestal­tung wur­de der Leo­pold­platz auf­ge­wer­tet. Auch gesell­schaft­li­che Rand­grup­pen wie die Trin­ker­sze­ne, die das Image des Leo­pold­plat­zes auf Dau­er ganz schön ram­po­niert haben, fin­den ihren Platz auf dem aus­ge­dehn­ten Gelände.

Der Mittelteil ist am lebendigsten

Der Abschnitt zwi­schen dem Leo­pold­platz und der See­stra­ße ist unbe­strit­ten das leben­digs­te Teil­stück der Stra­ße. Vie­le Geschäf­te, ein klei­nes Ein­kaufs­zen­trum namens Cit­ti­point und eini­ge bekann­te Filia­lis­ten – von denen einer nur zufäl­lig “Dro­ge­rie Mül­ler” heißt – prä­gen hier das äußerst urba­ne Bild. Auf Höhe der fast 90 Meter brei­ten See­stra­ße kreuzt nicht nur der zur Auto­bahn füh­ren­de Stra­ßen­ring um die Innen­stadt, son­dern auch die ers­te wie­der­eröff­ne­te Stra­ßen­bahn­stre­cke im alten West-Ber­lin. Hier befin­det sich auch das Tra­di­ti­ons­ki­no des Wed­ding, das Alham­bra, heu­te ein moder­nes Mul­ti­plex-Film­thea­ter. Auf über 100 Jah­re Kino­ge­schich­te kann die Ecke zurückblicken.

Eine Straße als Sanierungsfall

Auch der ober­fläch­li­che Besu­cher von Wed­dings Haupt­ein­kaufs­stra­ße merkt schnell: Hier ist der Lack ab. Die Mül­lerstra­ße liegt zwar zen­tral, ver­fügt über eine her­aus­ra­gend gute Ver­kehrs­an­bin­dung in Auto­bahn­nä­he, meh­re­re U‑Bahn‑, Stra­ßen­bahn- und Bus­li­ni­en. Jedoch ist es drin­gend an der Zeit, die Attrak­ti­vi­tät der Stra­ße zu erhö­hen. Mit dem Pro­gramm “Akti­ves Zen­trum Mül­lerstra­ße” ver­su­chen der Bund und das Land zu ret­ten, was zu ret­ten ist. Seit 2011 ist die Mül­lerstra­ße Sanie­rungs­ge­biet. Jetzt heißt es weg­kom­men von der 1970er-Jah­re-Optik mit sper­ri­gen Gelän­dern in der beton­ge­säum­ten Stra­ßen­mit­te und den plum­pen Peit­schen­lam­pen. Ein Geschäfts­stra­ßen­ma­nage­ment ver­sucht, die ver­blie­be­nen Ein­zel­händ­ler mit­ein­an­der ver­net­zen und Ent­wick­lun­gen in Rich­tung Auf­wärts­trend steu­ern. Rad­spu­ren sol­len den Ober­flä­chen­ver­kehr ent­zer­ren, wäh­rend die Geh­stei­ge mit einer attrak­ti­ve­ren Gestal­tung zur Erhö­hung der “Ver­weil­dau­er” poten­zi­el­ler Kun­den ein­la­den sol­len. Dass sich auch die Schau­fens­ter wie­der mit attrak­ti­ven Waren fül­len, kann aber auch das bes­te Manage­ment nicht erzwingen.

Im Norden geht die Müllerstraße auch bergab

In Rich­tung Nor­den steigt die Mül­lerstra­ße aus dem “tie­fen Wed­ding” in etwas bür­ger­li­che­re Gefil­de, Rich­tung Rei­ni­cken­dorf und Tegel. Gleich zwi­schen zwei gro­ßen Parks ver­läuft die Aus­fall­stra­ße hier. Eini­ge pom­pö­se Eck­häu­ser aus der Kai­ser­zeit mit Erkern und Türm­chen bezeu­gen die auf­stre­ben­den Plä­ne, die man mit die­ser Gegend am Rand der alten Stadt Ber­lin hat­te. Auf der west­li­chen Sei­te liegt das Afri­ka­ni­sche Vier­tel, das auf der öst­li­chen Sei­te lie­gen­de Gebiet zum Schil­ler­park hin ist das Eng­li­sche Vier­tel. Heu­te ist aber auch hier die loka­le Geschäfts­viel­falt bedroht.

In die­sem Gebiet grenzt die Mül­lerstra­ße an ruhi­ge Wohn­ge­bie­te in Par­k­nä­he, die meist aus den 1920er Jah­ren stam­men. Indus­trie sucht man hier ver­geb­lich. Nur hin­ter dem Häu­ser­block Ungarn‑, Edinburger‑, Tür­ken- und Mül­lerstra­ße ver­steckt sich eine rie­si­ge U‑Bahn-Haupt­werk­statt aus den 1920er Jah­ren. Eini­ge hun­dert Meter wei­ter nörd­lich befin­det sich zudem ein BVG-Bus­be­triebs­hof mit sehr ori­gi­nel­ler expres­sio­nis­ti­scher Archi­tek­tur, die ehe­ma­li­ge “Stra­ßen­bahn­stadt”.

Ruhig und gediegen im Norden

Hier, kurz vor der Bezirks­gren­ze zu Rei­ni­cken­dorf, steht auch ein klei­ner Eif­fel­turm – vor dem Cent­re Fran­çais, einem 1961 errich­te­ten fran­zö­si­schen Kul­tur­zen­trum mit Kino und Hotel. Und noch etwas ganz Beson­de­res ver­birgt sich 200 Meter öst­lich der Mül­lerstra­ße: hin­ter dem lang gezo­ge­nen Schil­ler­park befin­det sich mit der gleich­na­mi­gen Wohn­an­la­ge eine hol­län­disch anmu­ten­de Sied­lung der Moder­ne aus der zwei­ten Hälf­te der 1920er Jah­re. Seit 2008 besitzt das von Archi­tekt Bru­no Taut ent­wor­fe­ne Ensem­ble sogar den Sta­tus “Welt­kul­tur­er­be”, den es mit fünf wei­te­ren Sied­lun­gen in Ber­lin teilt.

Unbe­strit­ten ist die Funk­ti­on der Mül­lerstra­ße als Ver­kehrs­schnei­se durch den Wed­ding. Sie wird – auch zum Ein­kau­fen – immer noch gebraucht, aber rich­tig ger­ne hält man sich nicht an ihr auf. Das schmä­lert kei­nes­wegs die Attrak­ti­vi­tät der unmit­tel­bar angren­zen­den Vier­tel. Das “Schmud­del­kind” Mül­lerstra­ße ist das ver­bin­den­de Ele­ment der Wed­din­ger Kieze geblie­ben. Aber sie steht nicht für das wed­ding­ty­pi­sche Lebens­ge­fühl – das fin­det man eher, wenn man die Mül­lerstra­ße in eine ihrer Sei­ten­stra­ßen verlässt.

Müllerstraße Blick von oben

Daten zur Müllerstraße:

- Län­ge: 3,5 Kilometer

- Seit 1800 ist die Mül­lerstra­ße eine ange­leg­te Stra­ße. Sie führt unter ande­ren Namen in bei­den Rich­tun­gen wei­ter. -

1861 wer­den Wed­ding und Gesund­brun­nen nach Ber­lin ein­ge­mein­det. Ab 1920 bil­det der Wed­ding einen eige­nen Bezirk in Groß-Ber­lin. 2001 wer­den Tier­gar­ten und Wed­ding mit Mit­te zum neu­en Groß­be­zirk Mit­te zusammengefasst.

- 1907 eröff­nen die Pha­rus-Säle in der Haus­num­mer 142.

- ab 1945 gehört der Wed­ding zum fran­zö­si­schen Sek­tor von Ber­lin. Die fran­zö­si­sche Besat­zungs­macht eröff­net 1961 das Cent­re Fran­cais in der Haus­num­mer 74, ein Kul­tur- und Begeg­nungs­zen­trum mit Kino und Hotel

- 2011 wird die Mül­lerstra­ße zum Sanierungsgebiet

- 2011 erscheint die Son­der­pu­bli­ka­ti­on “Die Mül­lerstra­ße”, her­aus­ge­ge­ben vom Bezirks­amt Mit­te, vom Redak­ti­ons­team der Zeit­schrift “Der Wed­ding” Rezen­si­on der Zeit­schrift “Die Müllerstraße”

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

7 Comments Leave a Reply

  1. Sehr inter­es­sant habe an der Fenn­stras­se gewohnt in den 1960 Jah­ren . Hat jemand noch Fotos vom Fenn­stras­sen Park an der Fenn­brü­cke und Sellerstr. ?

  2. […] 3,5 Kilo­me­ter lang und mehr als 200 Jah­re alt ist die Mül­lerstra­ße im Wed­ding und bis­wei­len wirkt es, als sehe man ihr jedes ein­zel­ne Jahr an. Zu Glanz und Glo­ria jeden­falls hat es die Stra­ße nicht gebracht. Das hin­dert Joa­chim Faust aber nicht dar­an sich für den Wed­ding­wei­ser genau­er hin­zu­se­hen. Das Ergeb­nis ist der lesens­wer­te und mit zahl­rei­chen Fotos bebil­der­te Arti­kel „Mül­lerstra­ße: Gro­ßer Bou­le­vard mit Lackschäden“. […]

  3. […] Geschäf­te ent­lang der gesam­ten Mül­lerstra­ße betei­li­gen sich an der […]

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