Letztens ist es mir so ganz natürlich, ohne große Vorüberlegung und doch aus Überzeugung, impulsartig, von den Lippen gegangen. Gemütlich auf der Badstraße den weltbesten Köfte verzehrend, die Szenerie beobachtend – viele skurrile, gleichsam schon gewohnt bekannt erscheinende Menschenexemplare in einem stetigen Gemisch aus Ghetto/Hartz IV/Gangster, Jung/Kreativ/Student, Bürgerlich/Normal, und und und… Jedenfalls entstand wie so oft die ebenso gewohnt bekannte Diskussion um die Reize und Nichtreize des Wedding. Dass es hier schon irgendwie hart und hässlich ist. Und dann passierte es: “Aber alles in allem”, sagte ich, “ist es doch eben mein Zuhause.”
Seit zwei Jahren lebe ich nun in Berlin und im Wedding. Was mich hierher gebracht hat, sind die üblichen Dinge: nach Berlin, weil es die coolste und angesagteste Stadt überhaupt ist. Hier kann ich meinen Drang zu Freiheit, Musik und Techno und Kreativität voll ausleben. Nach Wedding, weil es bezahlbar ist und alle Punkte der Stadt gut erreichbar sind. Der Wedding ist nicht umsonst traditionell ein Transitgebiet, von dem viele Ankömmliche aus starten. Seither bin ich durch Höhen und Tiefen gegangen, die ein teilweise ungeahntes Ausmaß hatten. Berlin fordert mich auf ganz eigene, harte Art heraus und belohnt mich dafür mit zahlreichen Glücksmomenten. Das ist hier ja so üblich, denke ich. Ich bin nichts Besonderes.
Der Wedding. Kinder bewerfen mich mit Chips und rohen Eiern, Jungs rufen mir Schweinereien hinterher, die ich manchmal nicht mal verstehe. Der Supermarkt um die Ecke stinkt. Hundekacke überall. Das Übliche einerseits, andererseits. Denn: Abends, wenn ich mit dem Rad über die Brunnenstraße in die Badstraße am Humboldthain vorbeifahre, staune ich über den wunderschönen Sonnenuntergang. Überhaupt der Humboldthain: Hier treffe ich spontan Freunde. Ich liege auf der Wiese und lasse meine Gedanken fliegen. Auf dem Flakturm habe ich dem Flakturmkussjungen bei schönstem Sonnenuntergang seinen Namen gegeben. Wir gehen zu Techno Tischtennis spielen im Humboldthain-Club. Ab und zu kann man hier auch mal raven gehen. Oder wir hängen in den coolen Weddinger Bars ab. Wir machen Spaziergänge. Sitzen auf einer Bank und labern Scheiß oder besprechen die großen Fragen des Lebens. Es ist meine Hood geworden: Ich grüße und werde zurückgegrüßt. Ich grinse an und werde zurückgegrinst. Ich rufe unflätige Sachen, wenn mich ein Passant anrempelt. Ich habe meine Läden, meine Wege, meine Locations, meine ganz eigenen Weddingrituale.
Diese Straßen passiere ich auf jedem Weg nach Hause, nach nichtssagenden Tagen, nach deprimierenden Erkenntnissen, nach Abenteuern, nach atemberaubend schönen Erlebnissen. Den Asphalt dieser Straßen küsse ich bei Blitzeis, seine Ausdünstungen vermischen sich mit den meinen bei unerträglicher Hitze. Hier feiere ich Sonnenstrahlen, bewundere Mond und Sterne und verfluche den Regen und den Winter und die Dunkelheit. Hier gehe ich fort und hier komme ich an. Ich weine und lache und jubiliere und fühle. Ja, deshalb ist das mein Zuhause.
Achja, meine Gedanken sind abgeschweift! Wir stehen auf und gehen unseren Köfte bezahlen. Der Mann hinter der Theke zwinkert mir zu: Vor zwei Wochen habe ich ihm noch in voller Inbrust erzählt, dass ich nichts von Jungen wissen will. Meine Begleitung, der Flakturmkussjunge, bemerkt nichts von unserer stillen Kommunikation.
Update: Mittlerweile sind alle Gleise des Bahnhofs Gesundbrunnen wieder ohne Umweg betretbar. Das Schild für den zukünftigen Knotenpunkt ist auch angebracht. Mein letztes Gespräch mit dem Flakturmkussjungen ist vor mehreren Wochen genau hier auf der Baustelle ziemlich traurig zu Ende gegangen. Ich fahre trotzdem jeden Abend über die Brunnenstraße in die Badstraße, glücklich umarmt vom Humboldthainischen Sonnenuntergang.
Text und Bild: Anja Mayer
Das mit der Hundekacke halte ich für wunderschön übertrieben. Und mich würde brennend interessieren wo die weltbesten Köfte auf der Badstrasse zu bekommen sind!