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Die Hauptschlagader des Wedding:
Müllerstraße: Boulevard im Niedergang

29. Januar 2025
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Einst der “Ku’­damm des Nor­dens”, heu­te eine Haupt­schlag­ader des Wed­ding im deut­li­chen Nie­der­gang: Die Mül­lerstra­ße hat ihre bes­ten Zei­ten hin­ter sich. Ihr Glanz mag ver­blasst sein, doch sie bleibt eine wich­ti­ge Ach­se des Stadt­teils – vol­ler Geschich­ten, Wan­del und urba­ner Vielfalt.

Mit einer Län­ge von über drei Kilo­me­tern zieht sich die Mül­lerstra­ße als Ver­kehrs­ader durch den Wed­ding. Ihre Ursprün­gen als Sand­weg zwi­schen Tegel und Ber­lin sind heu­te kaum mehr zu erah­nen. Statt­des­sen ist die Stra­ße geprägt von Leer­stand, man­geln­der Viel­falt und einem deut­li­chen Ver­lust an Attrak­ti­vi­tät, wäh­rend sie sich von den Vor­or­ten ins Herz der Innen­stadt zieht.

Die Ver­bin­dung zu Ber­lins berühm­ten Stra­ßen­zü­gen – der Chaus­see­stra­ße und der Fried­rich­stra­ße – ver­schafft ihr zumin­dest nament­lich einen gewis­sen Glanz. Dar­un­ter ver­läuft die U‑Bahn-Linie U6, die Pend­ler und Tou­ris­ten ins Zen­trum befor­dert. Kreu­zun­gen wie die an der See­stra­ße oder am Leo­pold­platz sind zu jeder Tages­zeit belebt und unter­strei­chen die Bedeu­tung der Mül­lerstra­ße als pul­sie­ren­den Teil der Stadt. Einst hat­ten auch die Wind­müh­len, die der Stra­ße ihren Namen gaben, einen fes­ten Platz im Stra­ßen­bild – heu­te sind sie längst verschwunden.

Bis vor etwa 20 Jah­ren galt die Mül­lerstra­ße als blü­hen­de Ein­kaufs­mei­le mit vie­len Fach­ge­schäf­ten wie Foto Pies­nack, Uhren Wenig, Ebbing­haus-Moden, C&A, Kar­stadt, Bil­ka, H&M, Wool­worth und Mül­ler, sowie Pelz­lä­den, Juwe­lie­re, Buch­lä­den und sogar der Mül­ler­hal­le, einer Markt­hal­le. Die Geschäf­te zogen die Men­schen aus ganz Ber­lin an (Erin­ne­run­gen dar­an fin­det ihr hier). Bis in die 1990er-Jah­re kamen die Men­schen hier­her, um auf dem soge­nann­ten “Ku’­damm des Nor­dens” ein­zu­kau­fen. Doch die­se Zei­ten sind vor­bei, und die Stra­ße hat viel von ihrer eins­ti­gen Anzie­hungs­kraft ver­lo­ren. Die Kun­den sind längst in die moder­nen Shop­ping­cen­ter am Gesund­brun­nen oder in Tegel abge­wan­dert. Heu­te fin­den sich hier nur noch eine Viel­falt an Han­dy­lä­den, ori­en­ta­li­schen Imbis­sen, Ein-Euro-Läden und klei­ne­re, oft von Migrant:innen geführ­te Geschäf­te, die ein bun­tes Ange­bot an Spe­zia­li­tä­ten bie­ten. Die Schlie­ßung des Kauf­hau­ses Kar­stadt als zen­tra­le Attrak­ti­on mit einem anspruchs­vol­len Ange­bot an Klei­dung und Lebens­mit­teln dürf­te den Nie­der­gang beschleu­ni­gen. Nur weni­ge alt­ein­ge­ses­se­ne Läden wie H&M, Wool­worth und Dro­ge­rie Mül­ler hal­ten sich noch und ver­lei­hen der Stra­ße ein klei­nes Maß an Kontinuität.

Das Mul­ti­kul­ti-Flair der Mül­lerstra­ße könn­te zwar ein Allein­stel­lungs­merk­mal wer­den, doch der wirt­schaft­li­che Nie­der­gang und die man­geln­de Kauf­kraft ver­hin­dern bis­lang eine nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung in die­se Rich­tung. Gleich­zei­tig könn­te sie als Ein­kaufs­stra­ße unter frei­em Him­mel ein Erleb­nis bie­ten, das Ein­kaufs­zen­tren in geschlos­se­nen Gebäu­den nicht leis­ten können.

Beson­ders der süd­li­che Teil der Mül­lerstra­ße zeigt ein­drucks­voll, wie der wirt­schaft­li­che Nie­der­gang, die Nach­kriegs­zeit und die Tei­lung Ber­lins ihre Spu­ren hin­ter­las­sen haben. Der Wed­ding­platz, der namens­ge­ben­de zen­tra­le Platz des Wed­ding und einst das Herz des Stadt­teils, wirkt nach mas­si­ven Zer­stö­run­gen im Krieg und danach abso­lut unschein­bar. Die gro­ßen Stra­ßen, die sich hier kreu­zen, schei­nen den Platz im Ver­kehr zu ersti­cken. Nur weni­ge archi­tek­to­nisch inter­es­san­te Gebäu­de wie die St. Josephs­kir­che und das Kurt-Schu­ma­cher-Haus las­sen die frü­he­re Bedeu­tung der Gegend erahnen.

Der mitt­le­re Abschnitt der Stra­ße zwi­schen Leo­pold­platz und See­stra­ße wirkt im Ver­gleich zum Rest der Mül­lerstra­ße zwar leben­di­ger, doch auch hier sind vie­le Läden vom Struk­tur­wan­del betrof­fen. Hier rei­hen sich vie­le Geschäf­te, das klei­ne Ein­kaufs­zen­trum Cit­ti­point und Filia­lis­ten anein­an­der. Mit dem Kino Alham­bra, das heu­te ein moder­nes Mul­ti­plex ist, hat die Mül­lerstra­ße einen wich­ti­gen kul­tu­rel­len Anker­punkt. Sogar ein Pro­gramm­ki­no, das City Kino Wed­ding am Cent­re fran­çais hin­ter dem klei­nen Eif­fel­turm, hat sich eine treue Stamm­kund­schaft erarbeitet.

Die Mül­lerstra­ße kämpft mit vie­len Pro­ble­men: Der star­ke Ver­kehr, die Kon­kur­renz durch moder­ne Ein­kaufs­zen­tren und der sicht­ba­re Ver­fall sor­gen dafür, dass die Attrak­ti­vi­tät der Stra­ße ste­tig abnimmt. Seit 2011 wird ver­sucht, die Mül­lerstra­ße im Rah­men des Pro­gramms “Akti­ves Zen­trum” zu sanie­ren. Doch trotz bes­se­rer Erreich­bar­keit per Rad und einem Geschäfts­stra­ßen­ma­nage­ment bleibt der Erfolg bis­her aus. Die Stra­ße lei­det wei­ter­hin unter man­geln­den Inves­ti­tio­nen und einem spür­ba­ren Nie­der­gang. Die Erneue­rung geht nur lang­sam vor­an, und ob die eins­ti­gen Glanz­zei­ten wie­der­keh­ren, bleibt fraglich.

Im Nor­den, Rich­tung Rei­ni­cken­dorf, durch­quert die Mül­lerstra­ße bür­ger­li­che­re Gebie­te. Die umlie­gen­den Vier­tel, wie das Afri­ka­ni­sche und das Eng­li­sche Vier­tel, wir­ken ruhi­ger und weni­ger geschäf­tig. Hier zeigt sich die Mül­lerstra­ße von einer ent­spann­te­ren Sei­te. Auch kul­tu­rel­le Beson­der­hei­ten fin­den sich hier: Das Cent­re Fran­çais mit sei­nem klei­nen Eif­fel­turm oder die Schil­ler­park-Sied­lung, die zum UNESCO-Welt­kul­tur­er­be gehört, sind nur eini­ge Beispiele.

Auch wenn die Mül­lerstra­ße heu­te vor allem als lau­te und unat­trak­ti­ve Ver­kehrs­ader wahr­ge­nom­men wird, bleibt sie das ver­bin­den­de Ele­ment zwi­schen den Wed­din­ger Kiezen. Sie ist ein Ort im Wan­del, der viel­leicht nie wie­der an sei­nen alten Glanz anknüp­fen wird, aber trotz­dem den Wed­ding prägt. Der Charme des Stadt­teils zeigt sich aller­dings oft erst, wenn man von der gro­ßen Stra­ße in die klei­nen Sei­ten­stra­ßen abbiegt – dort­hin, wo das wah­re Leben stattfindet.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

13 Comments Schreibe einen Kommentar

  1. Einer der weni­gen Leucht­tür­me auf der Mül­lerstra­ße ist tat­säch­lich noch die Neu­land-Flei­sche­rei Bünger!
    Hier gibt es ordent­li­che Qua­li­tät und freund­li­che, kom­pe­ten­te Bedienung.
    Fragt sich nur, wie lan­ge der Inha­ber, S. Tan­ner, noch durch­hält und das Umfeld aushält!
    Als Geschäfts­in­ha­ber wäre ich schon längst weg!

  2. Einen bis dahin nicht gekann­ten Aspekt der Mül­lerstra­ße konn­te ich erle­ben, als ich vor ein paar Jah­ren star­ke Schmer­zen in der Schul­ter hat­te: Die Mül­lerstra­ße ist ein gigan­ti­sches Sana­to­ri­um! Ärzt­li­che Ver­sor­gung aus allen Fach­ge­bie­ten, ein Über­an­ge­bot an Apo­the­ken, Phy­sio­the­ra­pie: Alles da.

  3. Wir sind der letz­te oder einer der letz­ten hand­werks­be­trie­be an der See­stra­ße /müllerstraße und wer­den auch bald das Feld räu­men. Unse­re Mit­ar­bei­ter mit ihren schwe­ren Werk­zeu­gen müss­ten pro Monat 400 bis 500 € park­ge­büh­ren zah­len. Der Senat möch­te kei­ne Aus­nah­me machen auch die bezirks­bür­ger­meis­te­rin hat­te ver­sucht sich für uns ein­zu­set­zen ohne Chan­ce. Kei­ne Chan­ce auf hand­wer­ker­park­aus­wei­se nicht mal die IHK möch­te oder kann dir hel­fen obwohl wir Mit­glied sind. Nach vie­len Jahr­zehn­ten sagen auch wir bald ade. Ich gehe ein­fach in den Ruhe­stand, weiß nur noch nicht wie ich es mei­nen Mit­ar­bei­tern erklä­ren soll.

  4. Die Mül­lerstra­ße ist zwar belebt, was ich manch­mal schät­ze, aber meist ver­mei­de ich es dort­hin zu gehen, und zwar wegen der Ver­hal­tens­wei­sen vie­ler Leu­te dort. Es wird gerem­pelt, gerannt, mit E‑Rollern auf dem Bür­ger­steig gedüst. Leu­te ohne Manie­ren spu­cken auf den Boden und so wei­ter. Es ist wirk­lich hart. Aber es gibt auch ein paar Perlen.….

  5. Wie wahr… Ich bin Ende der 70er Jah­re von Char­lot­ten­burg in den Wed­ding gezo­gen. Es war sehr unge­wohnt für mich im Nor­den Ber­lins, aber ich habe letzt­lich vier­zig Jah­re im Wed­ding ver­bracht. Mei­ne Kin­der sind am Hum­boldt­hain auf­ge­wach­sen und ich hab vie­le Jah­re im Kiez Mül­lerstras­se gear­bei­tet. Nach dem Mau­er­fall ging es berg­ab und man konn­te zuschau­en, wie sich die Wed­din­ger Atmo­sphä­re ver­än­der­te. Es war immer rauh, aber herz­lich im Wed­ding, irgend­wann war es nur noch rauh! Vie­le alte Wed­din­ger zogen weg oder star­ben, und was dann neu war, war nicht mehr dasselbe!
    Inzwi­schen sind wir auch fort, es fiel nicht leicht, aber das Wed­din­ger “Zil­le­mil­lieu” kehrt nie mehr zurück!!!

  6. Ein Pro­blem könn­te man sofort und ohne Mehr­kos­ten lösen. Sau­ber­keit! Bei mei­nem letz­ten Spa­zier­gang vom Kut­schi bis zum U- und S‑Bahnhof Wed­ding war ich ent­setzt über die vie­len Müllhalde.
    Ja, regel­rech­te Müll­hal­den vor Imbis­sen, in Haus­ein­gän­gen und rund um Geschäfte.
    Wenn jeder vor sei­ner Tür täg­lich min­dest ein­mal sau­ber­ma­chen wür­de, wäre das Stra­ßen­bild schon ein anderes.
    Ich betre­te kei­nen Imbiss, der drau­ßen von Müll umge­ben ist. Ich den­ke dann, naja wie sieht es Innen aus.

  7. Was der Mül­lerstra­ße mei­ner Mei­nung nach wirk­lich fehlt, sind wie­der inter­es­san­te Restau­rants und Cafés und auch Läden, die etwas ande­res bie­ten als nur Döner und Co… es gab vor der Biblio­thek vor einer Wei­le noch das Semit eve, das tür­ki­sche Sesam­haus, indem ich mich sehr ger­ne mit Freun­den auf ein lecke­res Früh­stück am Wochen­en­de traf. Jetzt ist auch die­ses geschlos­sen wor­den und ein ande­res Café/gutes Restau­rant außer in ein­zel­nen Sei­ten­stra­ßen, sind mir defi­ni­tiv nicht bekannt. Die Mül­lerstra­ße bie­tet so viel Poten­zia­le… ich ver­ste­he wirk­lich nicht, war­um die poli­ti­schen Ver­ant­wort­li­chen nicht z.B einen Wett­be­werb aus­schrei­ben, an dem sich die Bür­ger betei­li­gen, um neue und fri­sche Ideen ein­zu­brin­gen. Ver­bun­den damit soll­ten natür­lich akzep­ta­bel und bezahl­ba­re Gewer­be­mie­ten sein! Irgend­wie habe ich man­ches Mal das Gefühl, dass bewusst nichts gemacht wird, weil man ent­we­der Spar­zwän­gen unter­le­gen ist oder ein­fach nicht die Lust hat, sich mit der Kiez­kul­tur zu beschäf­ti­gen, um den Men­schen eine gute Lebens­qua­li­tät in den ein­zel­nen Bezir­ken zu bie­ten und damit eine Abwan­de­rung unterstützt.

    • nicht nur die Gewer­be­mie­ten sind teu­er auch die Woh­nungs­mi­ten sind eine Kata­stro­phe. Vie­le ver­kau­fen ihre Woh­nun­gen zu Wucher­prei­sen. Ich habe 12 Jah­re da gewohnt.Ein Ita­lie­ner hat die Woh­nung für 70 000 gekauft und nach 8 Jah­ren ver­kauft er sie für 280 000 und die Mie­ter wer­den raus­ge­ekelt .…alles nur noch Ghet­to und jetzt bin ich froh weg zu sein.

  8. Kann ich genau­so unter­schrei­ben. Ich lebe seit 66 Jah­ren im Wed­ding und könn­te heu­len, wenn ich heu­te die Mül­lerstras­se und auch die Bad­stras­se sehe.

  9. Wir haben ja im Wed­ding so tol­le Poli­ti­ker .Die sich einen Scheiss­dreck küm­mern um den Men­schen .Alles nur Ramsch Buden .Geschäf­te wo Geld gewa­schen wird .

  10. Im Leo­pold­platz, und dem gegen­über­lie­gen­den Platz mit der Biblio­thek und Café, steckt eigent­lich so so viel mehr Poten­ti­al. Doch die­ses rie­si­ge leer­ste­hen­de Kar­stadt-Haus legt sich wie ein depres­si­ver Schlei­er über die unmit­tel­ba­re Umgebung.
    Die archi­tek­to­ni­schen Plä­ne der baye­ri­schen Ver­si­che­rungs­kam­mer sehen ja gar nicht schlecht aus, aber es dau­ert, es dau­ert, es dau­ert alles so unfass­bar lan­ge in Ber­lin. Unfass­bar lan­ge Über­gangs­zeit­räu­me, viel Still­stand, alles auf Kos­ten der loka­len Lebens- und Aufenthaltsqualität.

  11. Damit sieht man doch aus­drück­lich, was das Inter­net und sei­ne Optio­nen zum moder­nen Shop­ping “in echt” real z u r ü c k ‑lässt!
    Kom­mu­ni­ka­ti­ve­re Geschäfts­kon­zep­te und Paket­ab­hol­schrän­ke für Online­be­stel­lun­gen sind vllt doch die Zukunft. War­um spre­chen die Geschäfts­leu­te nicht dazu mit­ein­an­der? Man könn­te sei­ne Idee abstimmen!

  12. Ja, lei­der ist das nur noch eine Stras­se zum Durch­fah­ren. Was soll einen denn dahin­lo­cken? Die Wahl zwi­schen 15 Han­dy­lä­den, 7 Gemü­se­händ­lern, 9 Döner­lä­den und Bil­lig­lä­den? Frü­her war ich min­des­tens 1 mal die Woche dort. Wegen Kar­stadt. Jetzt habe ich wirk­lich kei­nen Grund mehr dort­hin zu gehen. Das tut mir in der See­le weh, weil ich die Mül­lerstras­se noch von frü­her ken­ne, so, wie von Ihnen geschildert.
    Wenn natür­lich die Geschäfts­mie­ten exor­bi­tant in die Höhe getrie­ben wer­den, muss man sich nicht wun­dern. Wobei man sich fra­gen muss, wie die oben geschil­der­ten Läden die­se Mie­ten aufbringen.

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