Das Kampfziel ist der 1. Mai, sagt Jess Schmidt. Wenn alles gut geht und die Corona-Infektionszahlen es zulassen, will sie den Kugelbahn Kulturspäti in der Grüntaler Straße am Tag der Arbeit wieder öffnen. Zuletzt hatten sie und ihre Geschäftspartnerin Ann Franke die Wiedereröffnung dieser Weddinger Institution immer wieder verschieben müssen. Die Zeiten sind hart für kleine Liebhaberprojekte wie ihres, an dem ihr eigenes und das Herz eines ganzes Stadtteils hängt. „Projekte wie unseres, die haben ja nichts auf der hohen Kante“, sagt sie. Doch trotz allem Schwierigkeiten: „Aufgegeben haben wir noch nicht!“
Als Corona kam, musste die Kugelbahn schließen. Das war Mitte März 2020. Ein Nachtlokal mit Kegelbahn im Keller, mit Konzerten und entspannten Feierabend-Drinks ging einfach nicht mehr. Doch die beiden Unternehmerinnen wurden schnell kreativ. Schon Mitte Mai öffneten sie mit einem neuen Konzept: der Kulturspäti war geboren. In dem Flachbau am Ende der Grüntaler Straße gab es fortan regionale Produkte und Spezialitäten – von klassischem Bier, Wein, Feinschmecker-Oliven, veganer Seife bis hin zu Kunsthandwerk und Kochbüchern aus dem Wedding.
Die rettende Idee in der Corona-Krise
Mit der Idee des Kulturspätis haben Jess Schmidt und Ann Franke die Kugelbahn, die sie seit 2011 betreiben, ziemlich gut durch die erste Phase der Corona-Pandemie gerettet. 80 Prozent des vorherigen Umsatzes brachte das neue Geschäftsmodell – und den Leuchtturm-Unternehmerpreis für ihren „Unternehmergeist in Krisenzeiten“, vergeben vom Online-Dienstleister für Marketingprodukte Vistaprint und dem Verband der Gründer und Selbstständigen in Deutschland. Das waren Hoffnung in schwierigen Zeiten und 5000 Euro Preisgeld.
Ein Jahr nach Beginn der Krise ist die Situation schwieriger geworden. „Der Vermieter stundet die Miete nur, wenn der Laden komplett geschlossen ist, wir können uns kein Personal leisten, meine Geschäftspartnerin hat zwei Kinder im Homeschooling, dazu kommen gesundheitliche Probleme. Das ist ein komplizierter Cocktail, mit dem wir kämpfen“, fasst Jess Schmidt zusammen. Auch das Kakadu, ihre Community Kitchen in der Soldiner Straße gleich um die Ecke, ist geschlossen. „Wir haben Corona-Hilfen bekommen und hangeln uns irgendwie lang“, sagt Jess Schmidt.
Absurd: Eine Teilöffnung bedeutet mehr Schulden
Die Maßnahmen zur Senkung der Infektionszahlen findet Jess Schmidt richtig und notwendig. Ihre Kritik richtet sich eher auf den Umgang mit den Folgen der Entscheidungen. Absurd findet es die Unternehmerin zum Beispiel, dass eine geschlossene Kugelbahn weniger Schulden produziert als eine teilweise geöffnete. „Ich finde, wir müssen als Gesellschaft jetzt nachdenken und uns fragen, wie unser Wirtschaftssystem anders funktionieren soll, besser“, sagt sie. Von der Politik fühlt sich die Unternehmerin nicht verstanden.
„Wie große Konzerne funktionieren, das versteht die Politik ganz gut. Aber nicht wie diese andere, kleinere Struktur geht. Die sozialen und kulturellen Orte, an denen man sich einfach gut fühlt, die wichtig sind für die seelische Gesundheit, die werden kaum gesehen“, sagt sie. „Wir kleinen Unternehmen tragen vielleicht nicht so viel zum Bruttosozialprodukt bei, wir sind aber trotzdem wichtig“. Das Bild des Unternehmers hängt schief, findet Jess Schmidt. Dass es zum Beispiel keinen Unternehmerlohn für sie und ihre Geschäftspartnerin gibt, ärgert sie. Erst seit Kurzem gebe es überhaupt die Möglichkeit für Menschen wie sie, als Überbrückung Hartz IV zu beantragen…
Immer mehr Probleme – und Durchhaltekraft
„Wir sind total unter Druck. Wir müssen es irgendwie durch diese Krise schaffen“, sagt Jess Schmidt. Wie es weitergeht, weiß sie nicht. Auch nicht, ob die Kugelbahn Ende des Jahres nach mehrmaliger Verschiebung der geplanten Baumaßnahme durch den Grundstückseigentümer nun wirklich abgerissen wird oder ob es eine weitere Schonfrist für sie geben wird. Auch ahnt sie bisher nur, was die gerade angekündigte Baustelle in ihrem Teil der Soldiner Straße bis mindestens März 2022 für die Außengastronomie im Kakadu bedeutet. Die Türen des Kulturspätis und des Kakadu sind coronabedingt schon lange geschlossen. Doch Jess Schmidt ist es wichtig, zu sagen: „Wir sind noch da, wir haben nicht aufgegeben!“ Mit etwas Glück öffnet sich die eine Tür, die des Kulturspätis, am Tag der Arbeit.