Unser Stadtteil ist wie ein Mikrokosmos, Menschen aus der ganzen Welt leben hier miteinander (und manchmal leider auch nebeneinander). Aus Anlass des Europatags am morgigen 9. Mai* haben wir von der Redaktion einmal überlegt, was Europa für uns bedeutet. Unser Redaktionsmitglied Samuel mit französischen Wurzeln ist immer wieder erstaunt, wie viele Bezüge es im Wedding noch immer auf die Alliierten gibt. Doch es gibt noch mehr Sichtweisen auf das Thema, von denen wir euch zwei zeigen.
Polnische Perspektive
Unsere Autorin Oliwia hat am eigenen Leib erlebt, wie frei sie sich dank Europa fühlt.
“Als meine Eltern im Jahr 2000 beschließen, aus Polen nach Deutschland auszuwandern, bin ich zwei Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt besteht die Europäische Union aus 15 Mitgliedsstaaten – Polen gehört nicht dazu. In Westeuropa hoffen meine Eltern auf ein besseres Leben in Freiheit, denn obwohl mittlerweile über 10 Jahre seit dem Zerfall der Sowjetunion vergangen sind, ist Polen immer noch sehr dadurch geprägt. Wir fahren also los, 1000 Kilometer in Richtung Rheinland, der Kofferraum ist voll, wenn man jedoch bedenkt, dass wir gerade auswandern, um ein neues Leben zu beginnen, doch nicht so voll. Nach 350 Kilometern löchriger Straßen voller Ruckeln und Schütteln (in Polen gibt es damals kaum Autobahnen) kommen wir an der deutsch-polnischen Grenze an – Słubice nad Odrą, auf der anderen Flussseite ist schon das europäische Frankfurt (Oder) zu erkennen. Bis wir dort jedoch ankommen werden, vergehen noch Stunden. Polen ist im Jahr 2000 noch nicht Mitgliedsstaat der EU, das wiederum bedeutet für uns: warten an der Grenze. Jedes Fahrzeug sowie die Personen in dem Fahrzeug werden akribisch kontrolliert, die Papiere gecheckt, die Taschen geprüft, ab und zu kommt auch ein Spürhund zum Einsatz. Nach ungefähr drei Stunden sind wir dann endlich auf der anderen Seite der Oder angekommen und das erste was wir sehen, ist ein blaues Schild: ‚Bundesrepublik Deutschland‘ steht darauf, umgeben von einigen goldenen Sternen.
Bis Polen endlich in die EU eintritt, vergehen noch vier Jahre und die sind lang, besonders wenn es darum geht, die zweite Heimat zu besuchen, denn an der Grenze warten mussten wir bis 2004 immer – einmal sogar ganze 6 (!) Stunden. Als die Grenzen zwischen meinen zwei Heimaten dann schließlich offen sind, bin ich sechs. Trotzdem verstehe ich sofort, wie viel es für ein Land und die Bürger:innen bedeutet, Mitglied der EU zu sein, denn plötzlich müssen wir nicht mehr warten, wir sind jetzt so richtig frei.
Das ist natürlich nur ein Beispiel für die Vorteile, die die Europäische Union mit sich bringt, aber einer, der besonders jetzt in der Pandemie zum Vorschein kommt.
Lange konnte ich mich zwischen meiner polnischen und deutschen Identität nicht entscheiden – heute weiß ich, dass ich ein bisschen beides bin, aber vor allem auch Europäerin.”
Türkische Perspektive
Benjamin Weißstern hat türkische Wurzeln, sich aber seit seiner Jugend um die deutsche Staatsangehörigkeit bemüht und sie letztendlich auch bekommen. “Viele Türkischstämmige sind hier geboren und kennen ihr ‚Heimatland´ gar nicht. Im Gegenteil: Auch dort sind sie Außenseiter und werden „Almanci“ genannt und nicht ernst genommen. Quasi zwischen zwei Kulturen und nirgendwo wirklich akzeptiert. Jeder Mensch braucht eine Identität und muss wissen, wo er hingehört. Die Türkei ist eng an Europa gebunden und muss weiter integriert werden. Wir können eine Menge voneinander lernen. Ich denke, es gibt keine deutsche Leitkultur und selbst wenn, ist das nicht das Maß aller Dinge. Ich finde es wichtig, dass wir allen jungen Menschen ein Angebot machen sollten, sich in unsere multikulturelle Gesellschaft zu integrieren. Parallelgesellschaften sind Ausdruck einer verfehlten Ausländerpolitik, die seit den 1980er-Jahren um sich gegriffen hat. In den letzten Jahren ist es viel leichter geworden, die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, wovon auch ich profitiert habe. Damit genieße ich auch das Wahlrecht in dem Land, in dem ich seit Geburt lebe. Auch die Freizügigkeit von Menschen und Gütern in Europa ist ein hohes Gut, das Bürgern mit einer EU-Staatsangehörigkeit offensteht.” Dass die Türkei in ihrer jetzigen Verfassung Mitglied der Europäischen Union werden kann, glaubt Benjamin nicht. Ein ernstgemeintes Integrationsangebot für alle, die sich beteiligen wollen, hält er daher für die realistischere und bessere Option.
Ein paar Zahlen
In Wedding und Gesundbrunnen haben von rund 182.000 Einwohner:innen 107.000 einen Migrationshintergrund. Davon kommen 30.000 aus einem EU-Staat; die größten Gruppen sind: 7.400 Weddinger haben einen polnischen, 5.400 einen bulgarischen und 2.400 einen rumänischen Hintergrund. 27.200 Türkischstämmige wohnen in unserem Stadtteil, und 15.200 haben einen Bezug zu einem arabischen Staat wie Libanon und Syrien (Statistischer Bericht, Zahlen zum 30.6.2019).
* Der Europatag bezieht sich auf den 9.5.1950, an dem Frankreichs Außenminister Robert Schuman in seiner Pariser Rede vorschlug, eine Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl zu schaffen.