Kaum ein West-Berliner Stadtteil war so direkt vom Mauerbau vor 60 Jahren betroffen wie der Wedding. Und so ist es vielleicht kein Wunder, dass die Grenze dann zuerst im Wedding löchrig wurde. Auch die Mauergedenkstätte befindet sich direkt bei uns. Und das Ereignis am 13. August 1961 wirkt bis heute nach.
Vor dem Mauerbau
In den Jahren zwischen 1945 und 1961 war Berlin zwar in vier Sektoren, die unterschiedlichen Siegermächten zugeordnet waren, eingeteilt. Dennoch waren die Sektorengrenzen noch durchlässig. So konnte man beispielsweise an der Bösebrücke, der Bernauer Straße, der Brunnenstraße, der Gartenstraße und an der Chausseestraße vom französischen Sektor in den sowjetischen Sektor wechseln. Für Menschen an der Weddinger Sektorengrenze brachten die zwei Währungen in Ost und West sogar Vorteile mit sich, wie wir bei der Befragung von Zeitzeugen einmal erfahren haben (Bericht siehe hier).
In dieser Zeit war die Badstraße die Einkaufs- und Kinomeile für Ostberliner, die durch eine kurze S‑Bahn-Fahrt nach Gesundbrunnen die Angebote des Westens schnell erreichen und nutzen konnten. Der Wedding hatte die perfekte Lage, um vom Einkaufstourismus der Ostberliner zu profitieren. In der Behmstraße reihte sich Bude an Bude. Die Schwarzmärkte an den Bahnhöfen Wedding und Gesundbrunnen, die vielen Geschäfte für die im Osten schwer zu beschaffenden Dinge des Alltags und die enorme Zahl an Kinos mit West-Filmen rund um die Badstraße waren legendär.
Nach dem Mauerbau
All das endete abrupt am 13. August 1961. Der zuvor mitten in der Stadt gelegene Wedding wurde plötzlich auf mehreren Kilometern von seinen Nachbarbezirken Pankow, Prenzlauer Berg und Mitte abgeschnitten. Aus dem zentral gelegenen Stadtteil wurde schlagartig ein Bezirk im Abseits. In der Bernauer Straße, wo die Grenze nicht in der Straßenmitte, sondern an den Hauswänden der Südseite lag, spielten sich Dramen ab. Einige der vom Mauerbau überraschten Bewohner versuchten, durch einen beherzten Sprung auf die Straße (und in Sprungtücher der Feuerwehr) in letzter Sekunde in den Westen zu gelangen. Die Weddinger Feuerwehr konnte nicht alle Flüchtenden retten, aber von über 80 erfolgreichen Fluchten ist die Rede.
Weltweite Bekanntheit erlangten die Fluchttunnel, die vor allem unter der Bernauer Straße gegraben wurden. Durch die bekanntesten waren 29 Menschen gekrochen, später konnten 57 Menschen in den Westen fliehen. Da alle Gebäude im späteren Mauerstreifen abgerissen wurden (zuletzt 1985 die markante Versöhnungskirche, die mitten im Schussfeld lag), verwandelte sich das pulsierende Stadtviertel in eine abgeschiedene Ödnis.
Die Randlage ließ die Einwohnerzahl rapide sinken, von 220.000 Weddinger:innen im Jahr 1961 auf 154.000 im Jahr 1984. Die florierende Industrie schloss ihre Standorte; nur Schering mit seinem Produktionsstandort an der Müllerstraße war am Ende noch übrig.
Auch die Verkehrsanbindung des Wedding veränderte sich schlagartig: Die U‑Bahn-Linien C (heute U6) und D (heute U8) hielten noch an der Reinickendorfer Straße bzw. Voltastraße und fuhren dann unter Ost-Berliner Territorium ohne Halt bis nach Kreuzberg bzw. Neukölln durch. Der S‑Bahnhof Bornholmer Straße wurde wegen des Mauerbaus ganz geschlossen. Der Bahnhof Wollankstraße blieb hingegen vom Westen aus zugänglich, obwohl er territorial eigentlich auf Ost-Berliner Gebiet lag.
“Die Mauer ist weg!” – wirklich?
Ausgerechnet zwischen dem Wedding und dem Prenzlauer Berg spielte sich die entscheidende Wendung ab, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 zu dem führte, was bald als Mauerfall bekannt wurde. Auf der Ostseite der Bösebrücke, auf der sich der Grenzübergang Bornholmer Straße befand, hatten sich Tausende Ost-Berliner versammelt, die im Fernsehen die Nachricht von der Reisefreiheit gehört hatten. Eigenmächtig entschied der Diensthabende Harald Jäger, dass eine Ausreise möglich ist. Und so kam es, dass Tausende Menschen in dieser Nacht an der Bornholmer Straße in den Wedding strömten und sich von dort aus auf West-Berlin verteilten.
Von der Mauer blieb zunächst nicht viel stehen, es gab kein Interesse, dieses Bauwerk für die Nachwelt zu erhalten. Erst 1998 wurde die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße zwischen Gartenstraße und Ackerstraße eröffnet. Ein Stück Mauer wurde samt Hinterlandmauer und geharktem Todesstreifen wiederhergestellt. Die Kapelle der Versöhnung an Stelle der gesprengten Versöhnungskirche wurde 2000 eingeweiht. Und das Dokumentationszentrum im Gemeindehaus Bernauer Straße 111 bietet auf einem 2003 eröffneten Turm einen Blick aus der Vogelperspektive. Erst 2011 war die Gedenkstätte mit ihren vielen Elementen fertiggestellt; das neue Besucherzentrum befindet sich an der Ecke Garten-/Bernauer Straße 119.
Und heute? Zwar hat der Wedding seine Randlage durch den Mauerfall verloren, aber die Schneise, die die Mauer durch die Innenstadt geschlagen hat, ist noch immer sicht- und spürbar. Die Euphorie der Zeit unmittelbar nach der Grenzöffnung war schnell verflogen. Die Kahlschlagsanierung, die das Weddinger Brunnenviertel hinter sich hat, trennt den Ortsteil Gesundbrunnen baulich und sozial stark von den Altbauquartieren auf der Ostseite in Alt-Mitte und Prenzlauer Berg. Die Bösebrücke zwischen dem Wedding und Prenzlauer Berg wird ebenfalls als eine krasse Grenze zwischen zwei Welten wahrgenommen – zu unterschiedlich sind die migrantisch geprägten ärmeren Milieus des Weddings und die neubürgerlichen, sozial gut situierten Kieze auf der Ostseite. Die Theater-Sitcom “Gutes Wedding Schlechtes Wedding” hat das spielerisch aufgegriffen und überspitzt, aber man findet zweifellos ein Quäntchen Wahrheit daran. Auch die Tatsache, dass der Bezirk Wedding seine Selbstständigkeit 2001 aufgeben musste und mit den Nachbarbezirken Mitte und Tiergarten zu einem Ost-West-Bezirk fusionierte, hat an der “unsichtbaren Mauer” wenig geändert.
Foto am Artikelanfang: Hartmut Bräunlich
Mauerstreifen in Bildern
Auch 60 Jahre nach dem Mauerbau und über 30 Jahre nach dem Mauerfall hat das, was am 13. August 1961 geschah, Spuren hinterlassen, die den Wedding bis heute prägen und zum besonderen Lebensgefühl bei uns beitragen. Insofern kann man dieses einschneidende Ereignis der Teilung einer Stadt gar nicht überbewerten – sogar die Nachgeborenen sind davon noch auf lange Zeit betroffen.
Unser Themenschwerpunkt aus dem Jahr 2014
Volksaufstand und Mauerbau in Berlin
Zwei kleine Gedichte zu den Ereignissen:
VOLKSAUFSTAND
Stalin hatte mit harter Hand
Die SED ans Ruder gebracht.
Diktatur überzog das Land,
Erhielt der Partei die Macht.
Man befahl den Sozialismus,
Das Volk wurde nicht gefragt.
Es wurde nur Stalinismus,
Jeder Widerstand war gewagt.
Normerhöhung und Repression
Steigerten Ablehnung und Wut.
Allerorten gärte es schon,
Aus dem Funken wurde die Glut.
In Berlin flammt das Feuer auf,
Demonstrationen in den Straßen.
Von Gebirge bis zur See hinauf
Rebellieren zornige Massen.
Man will ein besseres Leben,
Die Einheit nach freien Wahlen;
Will sich neue Hoffnung geben
Nach Weltkrieg und Hungerqualen.
Dem Regime droht rasches Ende
Nach erbitterter Straßenschlacht.
Herbeigeholte Sowjetverbände
Haben kurzen Prozess gemacht.
Man ließ die Panzer auffahren,
Schlug den Aufstand blutig nieder.
Wir woll’n das Andenken wahren,
Uns erinnern immer wieder.
Euer Kampf war nicht vergebens,
Die Toten sind nicht vergessen.
Wir erfreu’n uns freien Lebens,
Ihr seid die Vorreiter gewesen.
BERLINER MAUER
Das Regime in großer Not,
Die Wirtschaft vom Kollaps bedroht.
Der Flüchtlingsstrom wächst täglich,
Pankow’s Politik scheitert kläglich.
Moskau gibt Ulbricht grünes Licht,
Moralische Bedenken gibt es nicht.
Armee und Kampfgruppen steh’n bereit,
Am 13. August ist es soweit.
Am Brandenburger Tor aufmarschiert,
Werden Sperren positioniert.
In der Stadt Stellung bezogen,
Wird das Bollwerk hochgezogen.
Tief geschockt zeigt sich der Westen,
Doch belässt man’s bei Protesten.
Für Berlin riskiert man keinen Krieg,
Die SED verbucht einen Sieg.
Für die Partei ein klarer Fall:
Antifaschistischer Schutzwall.
Eiskalt hatten die Genossen
Den letzten Fluchtweg geschlossen.
Ein ganzes Land eingemauert;
Viel zu lange hat’s gedauert,
Viele Opfer zu beklagen.
Es war nicht mehr zu ertragen.
Die Ostdeutschen waren es leid,
Zu groß ihr Drang nach Freiheit.
Die friedliche Revolution
Brachte ihnen ersehnten Lohn.
Regime und Mauer endlich fallen,
Zu Ende langer Trennung Qualen.
Rainer Kirmse , Altenburg
Herzliche Grüße aus Thüringen