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Für 20 Ostpfennige durch den Westen

30. September 2014
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 “Irgend­ein Las­ter muss der Mensch ja haben”, sagt Eva Bitt­ner und zün­det sich eine Ziga­ret­te nach der ande­ren an. Ihre Augen leuch­ten auf, als sie beginnt, aus ihrem Leben zu erzäh­len. Die 69-jäh­ri­ge wohnt seit 16 Jah­ren im “Senio­ren­heim an der Pan­ke” in der Kolo­nie­stra­ße. Doch in den Sol­di­ner Kiez hat es sie erst jetzt, durch das Senio­ren­heim, ver­schla­gen. Auf­ge­wach­sen ist sie im Gebiet rund um die Rei­ni­cken­dor­fer Straße.

Früher im Soldiner Kiez

“Pan­ken­was­ser ist sau­be­res Was­ser.” An die­sen Spruch erin­nert sich Eva Bitt­ner (Foto) noch. Dies nach­zu­voll­zie­hen fällt heu­te schwer. Doch damals, so die 69-jäh­ri­ge, war die Pan­ke ein idea­ler Kin­der­spiel­platz. “Frü­her war alles bes­ser”, sagt sie über­zeugt. Arbeits­plät­ze gab es damals noch mehr im Sol­di­ner Kiez. Nach dem Krieg, so erin­nert sich Peter Mueg­ge, waren vie­le Gewer­be­be­trie­be in der Sol­di­ner Stra­ße ansäs­sig. Der 62-jäh­ri­ge hat 19 Jah­re dort als Schmied gearbeitet.

Grenzgänger zwischen den Welten

Hel­mut Lied­ke (Foto) zog 1959 in die Kolo­nie­stra­ße. Davor pen­del­te er als Grenz­gän­ger oft von Ost- nach West-Ber­lin. Span­nend war für den 65-jäh­ri­gen beson­ders die Zeit vor dem Mau­er­bau: Drei Schich­ten hat er damals im Loko­mo­tiv­werk Hen­nigs­dorf gear­bei­tet. Das Geld, was er ver­dien­te, hat er kapi­ta­li­siert: “Mein Ost­geld habe ich zum Kurs 8:1 auf der Stra­ße in West­geld getauscht”, erzählt er. Davon konn­te er sich sei­ne gro­ßen Lei­den­schaf­ten leis­ten: “West­kla­mot­ten”, wie er sagt, und vor allem das Kino. Rund um die Bad­stra­ße gab es in den 50er Jah­ren vie­le Filmtheater.

Ost-West-Drehscheibe Gesundbrunnen

Nicht nur für Kino­fans wie Hel­mut Lied­ke war der Bahn­hof Gesund­brun­nen güns­tig gele­gen. Vie­le Ost-Ber­li­ner erstan­den auf dem aus­ge­dehn­ten Stra­ßen­markt nur im Wes­ten erhält­li­che Waren – und waren danach mit der S‑Bahn schnell wie­der zurück im Osten. Vor­sicht war jedoch gebo­ten, erin­nert sich Eva Bitt­ner. “In der U‑Bahn waren Zöll­ner unter­wegs, die die Leu­te filz­ten”, erzählt sie. Auch sie hat­te immer zwei Wäh­run­gen in der Tasche. Ihr Mann, so erin­nert sie sich, hat­te als Haus­wart wenig ver­dient. Sie muss­ten spa­ren. “Wir sind im Osten, U‑Bahn Ber­nau­er, ein­ge­stie­gen und für 20 Pfen­ni­ge Ost­geld bil­lig durch den Wes­ten gefah­ren”, sagt sie. Aber der Wohn­sitz an der Gren­ze hat­te auch ande­re Vor­tei­le: “Die Schrip­pen aus dem Osten haben mir bes­ser geschmeckt”, erzählt Bittner.

Alltag in der Bernauer Straße

Bernauer Str MauerEva Bitt­ner hat in der Zeit des Mau­er­baus in der Ber­nau­er Stra­ße gelebt. Die ande­re Stra­ßen­sei­te war der Osten. “Die Haus­be­woh­ner tra­ten in den Wes­ten, wenn sie aus der Haus­tür raus­gin­gen” erzählt sie fast bei­läu­fig. In den Tagen des Mau­er­baus sah Bitt­ner ihre Nach­barn, wie sie sich mit Bett­la­ken aus dem Fens­ter abseil­ten. Und im Haus ihres Bäckers um die Ecke lag der berühm­te Flucht­tun­nel, der 57 Men­schen den Weg in den Wes­ten bahnte.

Ein Kohlenberg in der Koloniestraße


Ihre Nach­barn, so erzählt Bitt­ner, kann­te sie ja vom Ein­kau­fen. “Man kann­te sich und hat­te immer ein per­sön­li­ches Wort für­ein­an­der übrig”, sagt sie. In den Markt­hal­len, bei den Flei­schern, Bäckern, in den Sei­fen­ge­schäf­ten in und um den Kiez hat jeder ein­ge­kauft. Doch nicht nur Lebens­mit­tel wur­den hier umge­schla­gen. Nach der Ber­lin-Blo­cka­de 1948 lager­te die Senats­koh­len­re­ser­ve in der Kolo­nie­stra­ße. “Die Koh­len haben sich meter­hoch gesta­pelt”, erin­nert sich Hel­mut Lied­ke. Die Blo­cka­de haben Eva Bitt­ner und Peter Mueg­ge auch noch vor Augen: “Brot in die Pfan­ne, Zucker und Mucke­fuck drauf. Das haben wir damals oft geges­sen. Wir haben sogar aus den Kar­tof­fel­scha­len Puf­fer gemacht.”

Warten auf dem Sozialamt

Doch Eckhaus in der Groninger Straßeauch nach der Blo­cka­de ging es Eva Bitt­ners allein­er­zie­hen­der Mut­ter nicht viel bes­ser: Sie war Putz­frau an der Oslo­er Stra­ße, hat­te aber oft auch kei­ne Arbeit. “Wir haben kei­nen Pfen­nig Koh­len­geld vom Arbeits­amt gekriegt” erin­nert sich Bitt­ner. “Da haben wir fünf Stun­den lang auf dem Sozi­al­amt geses­sen, bis wir aus dem Son­der­fonds Koh­len bekom­men haben.” Sozi­al­amt und lan­ges War­ten – das ken­nen die Men­schen, die heu­te im Kiez leben, auch. Frü­her war viel­leicht doch nicht alles bes­ser – oder zumin­dest nicht so viel anders.
Bei­trag aus dem Jahr 2005, ursprüng­lich ver­öf­fent­licht auf deinkiez.de

 

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

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