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Warum wohnst Du im Wedding?

8. September 2013
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Vor Jah­ren noch war der Wed­ding einer der­je­ni­gen Kieze, die von der Mehr­heit der Ber­li­ner und Wahl­ber­li­ner als Wohn­ort abge­lehnt wur­de, mit dem schlich­ten wie pau­scha­len Argu­ment, der Wed­ding sei ein sozia­ler Brenn­punkt und schon allein des­halb unat­trak­tiv. Trifft man Ur-Wed­din­ger, die nun in ande­ren Stadt­tei­len Ber­lins leben, hört man zumeist ähn­li­che Aus­sa­gen. Manch einer schämt sich noch heu­te für den ehe­ma­li­gen Arbei­ter­kiez. Und war­um leben nun wir hier, die meis­ten von uns sicher­lich sogar Wahl­ber­li­ner? Das haben die Leser­um­fra­gen des Wed­ding­wei­sers her­aus­zu­fin­den ver­sucht. Ein Über­blick über die nicht als reprä­sen­ta­tiv zu ver­ste­hen­den Ergeb­nis­se seit Früh­jahr 2012 und ein paar sub­jek­ti­ve Wahrnehmungen.

Wieso überhaupt Wedding?

Klingelschild
Typisch Wed­din­ger Klingelschild

Wie kommt jemand über­haupt auf die Idee, in den Wed­ding zu zie­hen, wenn er oder sie hier nicht auf­ge­wach­sen ist? Denn das sind die wenigs­ten Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer der Umfra­ge. Und eben­so ist auch nur die Min­der­heit aus dem expli­zi­ten Wunsch im Wed­ding zu woh­nen, hier­her gezo­gen. Sind wir folg­lich per Zufall hier Gestran­de­te und irgend­wie dann hän­gen­ge­blie­ben, weil es ent­ge­gen ers­ter Vor­ah­nun­gen oder gar Befürch­tun­gen eines Man­chen doch ganz schön ist, im Wed­ding zu woh­nen? Ein biss­chen scheint es so. Dass sich vie­le hier wohl­füh­len – auch wenn es im Wed­ding nicht unbe­dingt beson­ders „herz­lich“ zugeht – aber wo in Ber­lin ist das schon der Fall? – liegt laut Umfra­ge zual­ler­erst an der inter­na­tio­na­len Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung! Und die wohnt hier doch recht fried­lich und vor allem unkom­pli­ziert und bunt durch­mischt neben­ein­an­der. Man muss nur einen Blick auf die Klin­gel­schil­der eines typi­schen Wed­din­ger Mehr­fa­mi­li­en­hau­ses wer­fen oder sich auf der beleb­ten Ein­kaufs­stra­ße des Wed­dings, der Mül­lerstra­ße, unter die Pas­san­ten mischen. Laut und auch ein biss­chen schmud­de­lig ist es hier – das strei­ten die meis­ten nicht ab – aber aso­zi­al und kri­mi­nell, wie in den Medi­en allent­hal­ben dar­ge­stellt? Nein, so sehen das die wenigs­ten der Befrag­ten und es ent­spricht auch nicht den Tat­sa­chen. Und ganz ehr­lich, es gibt in Zei­ten des boo­men­den Ber­lin­tou­ris­mus noch ganz ande­re ver­schmutz­te und lau­te­re Stadt­tei­le. Dar­über hin­aus ist der Wed­ding mit sei­ner Viel­zahl an Parks und der Nähe zum Tege­ler Forst bei Wei­tem grü­ner als die im Rest Ber­lins kur­sie­ren­den Kli­schees ver­mu­ten lassen.

Vom Wandel der Bevölkerungsstruktur und seiner Folgen

Schild in der Genter Straße

Vie­les hat sich gewan­delt in der Bevöl­ke­rungs­struk­tur des alten Arbei­ter­be­zirks Wed­ding, denn die Mie­ten sind hier im Gegen­satz zu ande­ren Stadt­tei­len lan­ge Zeit ver­gleichs­wei­se nied­rig geblie­ben. Die­ser Umstand hat in den letz­ten Jah­ren und vor allem seit der Explo­si­on der Miet­prei­se und zuneh­men­der Woh­nungs­eng­päs­se in Kreuz­berg, Fried­richs­hain und ande­rer durch­aus belieb­te­rer Kieze Ber­lins vie­le jun­ge Men­schen in den Wed­ding aus­wei­chen las­sen. So wur­de das rela­tiv nied­ri­ge Miet­preis­ni­veau im Wed­ding auch am zweit­häu­figs­ten als Grund für den Zuzug genannt. Nun geben güns­ti­ge Mie­ten noch kei­nen Hin­weis auf eine Wed­ding-spe­zi­fi­sche Lebens­ein­stel­lung, aber jun­ge Fami­li­en, Stu­die­ren­de, Aus­zu­bil­den­de, die dem Bezirk zuwan­dern, brin­gen auto­ma­tisch neue Lebens­ein­stel­lun­gen mit und ver­än­dern auch das Stra­ßen­bild. Lässt das auf ein typi­sches Wed­din­ger Lebens­ge­fühl schließen?

Gibt es ein spezifisches Weddinger Lebensgefühl?

Wedding Graffiti

Natür­lich hat jeder einen eige­nen Geschmack, eine indi­vi­du­el­le Wahr­neh­mung sei­nes Umfel­des und sei­ne per­sön­li­chen Lebens­ge­wohn­hei­ten. Und doch scheint es so etwas wie eine Hal­tung der Wed­din­ger zu geben, die sich von der­je­ni­gen der Men­schen in ande­ren Stadt­tei­len Ber­lins unter­schei­det. Die bun­te und doch recht fried­li­che Mischung unter­schied­li­cher Natio­nen und sozia­ler Schich­ten trägt wesent­lich dazu bei. Die Hys­te­rie des wohl­ha­ben­den Prenz­lau­er Berg-Bür­ger­tums ist im Wed­ding noch nicht ange­kom­men und der sub­kul­tu­rel­le Sehen-und-Gese­hen-Wer­den-Hype aus Neu­kölln auch nicht. Hier geht es weit ent­spann­ter zu. Das liegt aber auch dar­an, dass – wie die meis­ten bemän­geln, das Frei­zeit­an­ge­bot und die quan­ti­ta­ti­ve wie qua­li­ta­ti­ve Aus­wahl an Cafés und Bars im Wed­ding noch recht spär­lich ist. Dem Umstand hel­fen vie­le Wahl-Wed­din­ger aber damit ab, dass sie mit einer gewis­sen Selbst­ver­ständ­lich­keit in benach­bar­te und ent­fern­te Stadtei­le fah­ren, um das dort grö­ße­re Frei­zeit­an­ge­bot wahr­zu­neh­men: Die Ver­kehrs­in­fra­struk­tur wird als aus­ge­spro­chen gut beur­teilt und ent­spre­chend auch genutzt.

Ich wohne… im Wedding!

Gerichtstr Briefkasten

Was man frü­her viel­leicht nur ungern zugab, stellt für vie­le heu­te kein Iden­ti­täts­pro­blem mehr dar. Hier im Wed­ding braucht man sei­nen Mit­bür­gern nicht lan­ge zu erklä­ren, wie das Leben wirk­lich ist. Wer hier schon län­ger wohnt, fin­det den Wed­ding zurecht häu­fig voll­kom­men unter­schätzt und falsch dar­ge­stellt. Die erwähn­te Viel­zahl an Parks, die effi­zi­en­te Ver­kehrs­an­bin­dung und die Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten, die trotz des Ver­lus­tes an Fach­ge­schäf­ten, immer noch her­vor­ra­gend sind, bie­ten einen ansehn­li­chen All­tags­kom­fort. Und mit den jüngs­ten Zuzüg­lern scheint sich auch die Café- und Kul­tur­land­schaft im Wed­ding wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und auf­zu­blü­hen. Mitt­ler­wei­le gibt es sogar schon Spät­kauf-Läden, die Feu­er­zeu­ge mit Wed­ding-Schrift­zug, gewis­ser­ma­ßen als iden­ti­täts­stif­ten­den Fan­ar­ti­kel, verkaufen.

Auch im Wedding gibt es Unterschiede

Zuge­ge­be­ner­ma­ßen sind die Kieze, die der­art mit Cafés und Kul­tur­ange­bo­ten auf­ge­wer­tet wer­den und die eine gute Wohn­qua­li­tät auf­wei­sen, fol­ge­rich­tig auch die belieb­tes­ten unter den Lese­rin­nen und Leser des Wed­ding­wei­sers. Unan­ge­foch­ten steht da – wen wundert’s – der Spren­gel­kiez an der Spit­ze. Etwas abge­schla­gen folgt der Kiez rund um die Mal­plaquet­stra­ße und die Osram­hö­fe. Die Beliebt­heit des Spren­gel­kiezes lässt sich viel­leicht dar­an able­sen, dass nicht alle Umfra­ge­teil­neh­mer, die das Vier­tel als schöns­tes Wohn­ge­biet des Wed­ding emp­fin­den, tat­säch­lich dort woh­nen. Und natür­lich muss man auch ein­ge­ste­hen, dass der Woh­nungs­markt auch hier sei­ne Spiel­re­geln dik­tiert und Miet­prei­se dort anzie­hen, wo Wohn­raum durch die Men­schen auf­ge­wer­tet wird. Wir wer­den sehen, wie sich die inner­städ­ti­schen Migra­ti­ons­be­we­gun­gen auf­grund Gen­tri­fi­zie­rung und Miet­preis­er­hö­hung in Ber­lin auch auf die Stadt­teil­ent­wick­lung und das Lebens­ge­fühl im Wed­ding aus­wir­ken werden.

Aber eines haben alle Wed­din­ger für immer: den Stadt­teil mit dem – ins Eng­li­sche über­setzt – schöns­ten Namen.

Autorin: Julia Große-Heitmeyer

Hier geht es zu den noch immer lau­fen­den Umfragen

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Gastautor

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6 Comments

  1. “die meis­ten von uns sicher­lich sogar Wahl­ber­li­ner” – war mir gar nicht klar, dass der Blog vor allem die Nicht-Ber­li­ner als Ziel­grup­pe hat. Von Nicht-Ber­li­nern für Nicht-Ber­li­ner? So ist der Wed­ding tat­säch­lich auf dem Weg zum nächs­ten Prenz­l­berg mit Schwabenparallelgesellschaft.

    • …ach Leu­te, das Schwa­ben­kli­schee nervt lang­sam. Ja, irgend­ei­ner muss immer der Sün­den­bock sein und die Schwa­ben müs­sen ver­mut­lich stell­ver­tre­tend für alle “Zuge­zo­ge­nen” den Kopf hin­hal­ten, die Gen­tri­fi­zie­rung begüns­ti­gen. Aber wenn alles immer so bleibt, wie’s war, bewegt sich die Mensch­heit auch nicht vor­an. Ber­lin war IMMER eine Stadt des Wan­dels, wenn Euch das nicht passt, zieht doch aufs Land… Mir gefällt der Wed­ding­wei­ser und das Bemü­hen der Macher, den Bezirk und was er zu bie­ten hat, vor­zu­stel­len und auch Neu-Bewoh­ner dran teil­ha­ben zu las­sen. DANKE und wei­ter so!

    • Lie­ber Wolf, wir wün­schen uns viel mehr Ber­li­ner als Autoren auf unse­rer Sei­te! Eine Ziel­grup­pe haben wir gar nicht, wir schrei­ben über das, was uns berich­tens­wert erscheint – wenn das ande­re Wed­din­ger auch so sehen, freut uns das, aber der Maß­stab bleibt doch immer unse­re eige­ne Sicht auf unse­ren Wohn­ort. Also, Ber­li­ner, ran an die Tas­ta­tur und schreibt doch selbst auch mal was über den Wedding!

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