Was heute als Iranische Straße bekannt ist, hieß bis 1934 Exerzierstraße. Um 1900 befand sich auf einer Straßenseite die Reuter-Stiftung und zur anderen die Laubenkolonie Nordkap. Es war eine beschauliche und ruhige Gegend. Innerhalb von wenigen Jahren sollte sich das Stadtbild durch das Jüdische Altersheim und das Jüdische Krankenhaus verwandeln. Mit diesem Beitrag soll die erste große Jüdische Fürsorgeeinrichtung und bedeutende Synagoge im Wedding erinnert werden.
Millionärin, Gründerin und Wohltäterin: Erna Pakscher (*1836, +1909) finanziert eine Insel im Grünen
Es war üblich, dass die Jüdische Gemeinde ihre sozialen Einrichtungen selbst finanzierte. Ein Netz aus engagierten Einzelpersonen, Wohltätern und Interessengruppen widmete sich speziellen Anliegen, um das Zusammenleben zu verbessern. Seit jeher ist ein Grundzug des jüdischen Wesens die Wertschätzung des Alters.
Somit lag auch die Versorgung von bedürftigen Senioren in den Händen der Gemeinde. Am Ende der 1890er Jahre war klar, dass die beiden vorhandenen Altenheime in der Großen Hamburger Straße 26 (gegründet 1829) und der Schönhauser Allee 22 (eröffnet 1883) den zukünftigen Bedarf nicht abdecken können. Daher sollte eine dritte Einrichtung im Wedding entstehen.
Eine der wichtigsten Personen für das dritte Jüdische Altersheim in Berlin war die Mäzenin Erna Pakscher. „Wenn sie in die Anstalt kam, hätte niemand in der Frau im einfachen schwarzen Kleid eine Millionärin vermutet, die beinahe ohne Ende zu geben bereit war“, so beschrieb Etty Hirschfeld die Wohltäterin. Erna Pakscher finanzierte den Neubau mit 200.000 Mark sowie einen Teil des Erweiterungsbaus, spendete 120.000 Mark im Jahr 1904 und hinterließ für die Einrichtung 520.000 Mark. Hinzu kommen mehrere Sonderstiftungen und viele Stunden des persönlichen Einsatzes, die in Zahlen nicht aufzurechnen sind.
Bereits zu Lebzeiten, zu ihrem 70. Geburtstag, ließen die Heimbewohner im Garten ein Denkmal für Erna Pakscher errichten. Erna Pakscher starb am 2. Dezember 1909 im Alter von 74 Jahren. Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde verfasste einen Nachruf (Abdruck in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, 10.12.1909):
„Die Verblichene hat viele Jahre hindurch in aufopfernder Treue ihre ganze Kraft den Wohlfahrtswerten der hiesigen jüdischen Gemeinde gewidmet, als Vorsitzende der Ehrendamen der III. Altersversorgungsanstalt wie als Ehrendame der II. Altersversorgungsanstalt, des Krankenhauses und des Hospitals. Die III. Altersversorgungsanstalt (an der Exerzierstraße) ist zum größten Teil aus den hochherzigen bedeutenden Zuwendungen der Heimgegangenen errichtet. Das Andenken der edlen Frau wird dauernd gesegnet sein“.
Eine sehr emotionale Trauerfreier fand am 19.12.1909 in der Synagoge des Altenheims statt. Erna Pakscher wurde auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee bei ihrem Ehemann David Pakscher (*1819, +1884) beerdigt.
Gemeinde-Architekt Johann Hoeniger (*1851, +1913): Wenige Mittel, maximale Wirkung
Für die Jüdische Gemeinde war ab 1881 der Architekt Johann Hoeniger als Gemeindebaumeister in allen Angelegenheiten bezüglich der Gebäude zuständig. Seine Aufgaben reichten von der Neubauplanung, dem Gebäudeerhalt bis zur Baubegleitung. Nicht alle Gebäude der Jüdischen Gemeinde stammen aus seiner Feder, aber er war stets in die Ausführung eingebunden.
Seit dem 4.5.1899 stand fest, dass die Stadt Berlin der Jüdischen Gemeinde ein 6.419 Quadratmeter umfassendes Grundstück an der Exerzierstraße für die Errichtung eines dritten Altenheims überlassen würde. Dies war an Bedingungen gebunden: 1. Baubeginn im selben Jahr und 2. das Grundstück fällt zurück an die Stadt, sobald die Nutzung geändert wird oder wegfällt.
Auf dem Grundstück an der Exerzierstraße entstand von 1899 bis 1902 ein Rotziegelbau mit einem betonten Mittelbau in neugotischer Formensprache und einem großen Vierblattfenster in dessen Mitte sich ein Davidstern befand – dahinter platzierte der Architekt die Synagoge. Im Souterrain des Gebäudes waren die Küche und die Schlafstuben für das Personal untergebracht, im Parterre Büroräume und die Wohnung des Inspektors. In den beiden Etagen darüber die Wohnräume für die Bewohner sowie pro Etage zwei Veranden. Für die 35 Bewohner gab es im zweiten Obergeschoss eine „einfache aber würdig ausgestattete Synagoge“, so die Beschreibung im Gemeindeboten vom 26.9.1902. Die nach Osten ausgerichtete Synagoge lag zur Straßenseite. Insgesamt ging sie über den gesamten Mittelbau und erhielt viel Tageslicht. In dem hohen Raum zierte die Decke ein geometrisches Muster, während der Bereich für den Rabbiner mit Säulen betont wurde. Zwei große Deckenleuchter schwebten über den Holzbänken und Kaminöfen sicherten die ganzjährige Nutzung der Synagoge. Es war die erste Synagoge im Wedding und bot deutlich mehr Platz als in den ersten Jahren notwendig gewesen wäre. Die spätere Synagoge bzw. der Betsaal im Jüdischen Krankenhaus war für weniger bzw. eine ähnliche Personenzahl ausgelegt. Somit kommt der Synagoge im Jüdischen Altenheim eine besondere Bedeutung für die Gemeinde zu.
Hoeniger vollbrachte im Wedding ein kleines Wunder, denn mit nur wenigen finanziellen Mitteln entstand ein ansehnliches Gebäude. Es ähnelt der nahezu zeitgleich in Weißensee entstandenen Jüdischen Arbeiterkolonie und Asyl. Das neue Altenheim trug die Inschrift: „Gestiftet zum Andenken an David Pakscher von Frau Erna Pakscher“. Zu Hoenigers bekannten Bauwerken gehören die Knabenschule in der Großen Hamburger Straße, die Synagoge in der Rykestraße und die Synagoge Levetzowstraße. Trotzdem wurde im Nachruf auf den Architekten in der Allgemeine Zeitung des Judenthums vom 14.2.1913 das Altersheim im Wedding erwähnt.
Die große Feier: Eröffnung des Jüdischen Altenheims am 21. September 1902
Zu den zentralen Personen für die Entstehung des Jüdischen Altersheims gehörten neben der Gründerin Erna Pakscher, dem Architekten Johann Hoeniger auch der jüdische Kaufmann und Philanthrop Moritz Manheimer (Foto mit seiner Frau Bertha Manheimer). Manheimer fädelte den Grundstücksdeal mit der Stadt Berlin ein. Am 21.9.1902 war es soweit, denn hochrangige Politiker und fast der gesamte Vorstand der hiesigen Jüdischen Gemeinde sowie zahlreiche Repräsentanten versammelten sich in der geschmückten Synagoge des Neubaus, so die Allgemeine Zeitung des Judenthums (26.9.1902). Die Feierlichkeit eröffnete der Chor der Lindenstraßensynagoge mit „Wie schön sind deine Zelte, Jakob“. Rabbiner Maybaum hielt die Festrede.
Bereits am 15. Juli 1902 hatten die ersten Senioren ihre Zimmer bezogen. Im September 1902 wohnten 25 Menschen in dem Haus. Es begann eine wechselvolle Geschichte. In der Küche wurde nach den rituellen Vorschriften gekocht. Die Freitagabende zu Ehren des Schabbats und an den hohen Feiertagen wurden getreu der Tradition durch Gottesdienst und häusliches Festessen begangen. Es wurden die Sederabende an einer großen Tafel gefeiert. Zu Chanukkah gab es auch im Altersheim Geschenke. Und an Jom Kippur konnten diejenigen Fasten, die dazu in der gesundheitlichen Verfassung waren. In den Sommermonaten lockte der weitläufige Garten die Bewohner mit Rasenflächen, den alten Bäumen, Blumenbeeten und Gemüse-Anpflanzungen in die Natur. Auch waren die großen Südbalkone beliebte Treffpunkte. Es entstand eine besondere Gemeinschaft.
Bei der Eröffnung des Hauses stand fest, dass es zu jeder Seite eine Erweiterung geben wird. Fünf Jahre später, am 15.4.1907, wurde der Erweiterungsbau mit Chorgesang und einer Weihe durch Rabbiner Maybaum feierlich der Nutzung übergeben. Die Stifterinnen waren Mathilde Priester und Erna Pakscher. Eine Besonderheit bestand darin, das aufgenommenen Ehepaaren zwei Zimmer zur Verfügung standen. Für den Arzt gab es ein eigenes Untersuchungszimmer. „Wir leben hier auf einer glücklichen Insel“, sagte eine Bewohnerin 1935 gegenüber Hirschfeld. Zu diesem Zeitpunkt gab es sogar eine Bibliothek im Haus.
Das Altersheim wurde allein durch wohltätige Zuwendungen geführt. Es gab sogenannte „Zimmerstiftungen“ was bedeutete, dass dem Haus ein bestimmter Betrag gestiftet wurde, damit ein Zimmer vergeben werden konnte. Insgesamt beherbergte das Heim 1907⁄08 circa 60 Personen (Große Hamburger Straße 112 Personen, Schönhauser Allee 88 Personen), während es 1910 immerhin 98 Senioren und in den 1930er Jahren sogar 175 Personen waren. Hier wohnten alte Menschen, deren Angehörige sich nicht um sie kümmern konnten oder die finanziell nicht in der Lage waren, einen eigenen Haushalt zu finanzieren. Die damalige finanzielle Situation der Alten, da es keine Rente nach heutigen Richtlinien gab, ist mit späteren Bedingungen nicht vergleichbar. Daher auch die große Dankbarkeit der Bewohner gegenüber der Mäzenin Erna Pakscher und den vielen engagierten Mitarbeitern.
Suizide und Deportation: Schreckliches Ende nach 40 Jahren
Im Jüdischen Adressbuch von Berlin 1931 sind 42 Personen mit einer Anschrift im Altenheim verzeichnet. Im Jahr 1934⁄35 wohnten aber rund 175 Personen in dem Heim. 1934 wurde die Exerzierstraße zwischen See- und Schulstraße in Persische Straße umbenannt. Am 27. September 1935 erfolgte eine weitere Umbenennung in Iranische Straße.
Vom 1. Januar 1941 bis Ende April 1943 wurden circa 57.930 jüdische Bürger aus Berlin deportiert, so die Statistik des Holocauts. Im Frühjahr 1943 wurde Berlin als „judenrein“ deklariert, siehe DER SPIEGEL 40⁄1988. Aus den Unterlagen des Bundesarchivs konnte ermittelt werden, dass allein im Zeitraum Juni und Juli 1942 aus dem Jüdischen Altenheim im Wedding insgesamt 28 Bewohner nach Theresienstadt deportiert wurden. Einige von ihnen starben nach wenigen Wochen im Ghetto Theresienstadt, andere wurden im September 1942 ins Vernichtungslager Treblinka gebracht.
Unter ihnen war der älteste deportierte Bewohner 92 Jahre alt: Max Engel, Jahrgang 1850, wurde am 19.06.1942 nach Theresienstadt deportiert und starb am 12.07.1942 im Ghetto Theresienstadt. Die älteste deportierte Bewohnerin war 94 Jahre alt: Natalie Hirschfeld, Jahrgang 1848, deportiert am 6.7.1942, verstorben am 28.9.1942 im Ghetto Theresienstadt. Zwei Heimbewohner nahmen sich vor der Deportation das Leben im Altenheim. Aus dem Altenheim müssen im Zweiten Weltkrieg mindestens 179 Menschen deportiert worden sein, so die Information von Tracing the Past e.V. (Stand 26.2.2021). Unbekannt ist, wie lange die alten Menschen im Heim wohnhaft waren. Damit zählt das Altenheim mit zu den Orten im Wedding, von dem die meisten jüdischen Menschen deportiert wurden.
Das Geisterhaus in der Iranischen Straße
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war das Dach des Altenheims teilweise zerstört, Fenster fehlten und die einstigen Bewohner deportiert. Trotzdem begann für das Haus eine neue Zeit. Es wurde hergerichtet und wieder als Jüdisches Altenheim genutzt. Im Jahr 1980 wurde das Haus aufgegeben. Die religiösen Gegenstände der Synagoge zogen in eine Jüdische Einrichtung in Charlottenburg. Das Umweltamt Wedding nutzte ab 1980 die Räume in der Iranischen Straße 3. Das Gebäude wurde in den nächsten Jahren als Verwaltungsgebäude genutzt.
Im Haus erinnerte vor dem Zweiten Weltkrieg eine Tafel an die Grundstücksübertragung durch die Stadt und eine an die Mäzenin Erna Pakscher. Im Oktober 2001 wurde entschieden, dass am Gebäude eine Gedenktafel mit der Inschrift angebracht wird: „Aus diesem Gebäude wurden zwischen 1941 und 1943 jüdische Mitbürger zur Ermordung in die Konzentrationslager der Nazi-Diktatur deportiert“. Am 27. Januar 2003 wurde die Bronzetafel enthüllt. Sie ist seit der Gebäudesanierung 2015/2016 verschwunden.
Sozialer Brennpunkt im Kiez
Nach der Gebäudesanierung gibt es heute ca. 60 Wohnungen. Zu den Mietern gehören in erster Linie Familien aus Rumänien, aber auch Familien mit anderer Herkunft. “Die rumänischen Familien stammen alle aus derselben Region und gehören einer Pfingstgemeinde an und sind allesamt kinderreich”, so die Beschreibung in: „Gut leben in der Iranischen Straße“. Zur Situation heißt es: „Die Familien sind bedroht durch Kündigungen wegen Überbelegung der Wohnungen. Sie sind eingeschüchtert vom Sicherheitspersonal der Hausverwaltung“. Träger des Projekts ist Kulturen im Kiez e.V. Unterstützung kommt vom Integrationsbüro des BA Mitte.
Was vor 118 Jahren von einer wohltätigen Frau initiiert und finanziert wurde, ist heute ein sozialer Brennpunkt. Rund um das Gebäude liegt Abfall auf den Straßen und Gehwegen. Es braucht eine intensive Betreuung, um die Situation zu entspannen. Die Insel im Grünen ist ebenso verschwunden wie die jüdischen Bewohner, die die Qualität der Lage und die Versorgung zu schätzen wussten.
Wir erinnern an die im Juni und Juli 1942 deportierten Bewohner: Rebecca Abraham, Henriette Bernstein, Kurt Moritz Blumenthal, Fanny Cohn, Adolf Elkan, Max Engel, Johanna Feibusch, Jenny Friedländer, Rosa Gabriel, Auguste Geisenberg, Szmul Ginsberg, Lina Graetz, Salomon Grohnem, Natalie Hirschfeld, Richard Hirschson, Carl Lefeber, Marie Lefeber, Abraham Less, Moritz Less, Frömma Marcus, Sophie Pollack, Salomon Salomonsohn, Jeanette Salomonsohn, Freuda Flora Schram, Lippmann Schwarz, Emma Seelig (02.06.1942 Freitod), Margarete Silbermann, Ida Sluzewski, Melanie Pan, Moritz Zander (01.06.1942 Freitod) und die vielen anderen Bewohner des Jüdischen Altenheims im Wedding.
Literatur: Etty Hirschfeld (1935): Die Altersheime und das Hospital der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
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Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern, Architektur als Gesellschaftsauftrag und Aushandlungsprozess, 1929–1969, und freut sich über Anregungen und Kritik.
Meine Mutter Margarete Joachim hat im Jüdischen Krankenhaus Berlin während des Krieges gearbeitet. Nach dem Krieg als Chefarztsekretärin von Herrn Dr. Reimann.
Ich bin 1943 geboren. Herr Galinski hat mich auf dem Arm gehalten.
Das jüdische Krankenhaus war für mich ein Zuhause. Es ist unvergessen für mich.
Ursula von Stumberg
leben und leben lassen. security’s sind die kriminellen in dieser stadt