Im Frühjahr 2022 höre ich im Radio eine Überlegung laut werden, eine Zeit lang den Nahverkehr günstiger zu gestalten. Das kommt natürlich nicht von ungefähr, sondern ist eine Reaktion auf den Angriff von Russland auf die Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen und der wiederum daraus folgenden Ölverknappung und zwangsläufigen Verteuerung. Dieser Umstand hat es uns gebracht, das Super-Spar-Ticket auf Zeit. Also machte ich mich auf, mit dem 9‑Euro-Ticket in der Tasche.
Der Anlass dieser Ankündigung ist nun wahrlich kein schöner und dennoch hüpft mein Herz vor Freude, drei Monate unkompliziert und günstig kreuz und quer reisen zu können. Als Fotografin fiebere ich mithin der Einführung des 9‑Euro-Tickets entgegen. Schier endlose neue visuelle Entdeckungen scheinen da auf mich zu warten.
Zunächst frage ich meinen Sohn, der selbsternannter Experte in Sachen Nahverkehr in Berlin ist. Mich interessieren vor allem die Buslinien, die von Doppelstockbussen befahren werden. Ich bekomme von ihm eine kleine Liste mit den Nummern. Dann checke ich im Internet (https://www.bvg.de/de/verbindungen/netzplaene-und-linien/bus), wo genau diese Busse entlang fahren und welche ich davon am reizvollsten finde. Den Plan, alle(!) möglichen Strecken abzufahren, gebe ich ziemlich schnell auf. Den Netzplan habe ich mir auch schon auf meinem Desktop als PDF abgespeichert.
Mein Schatz für Juni, Juli und August
Die 9‑Euro-Tickets sind gekauft. Für drei Monate. Juni, Juli, August. Sie sind mein Schatz. Meine erste Nutzung, am 1. Juni, ist allerdings eine rein berufliche. Ich starte am S‑Bahnhof Bornholmer Straße und fahre mit der S‑Bahn zum Anhalter Bahnhof. Bei der Weiterbildung zur richtigen Benutzung von Rollstühlen und Gehhilfen macht sich das Ticket gleich bezahlt: Wir machen praxisnahe Übungen mit dem Rollstuhl und nutzen S‑Bahn und den Bus. Wow!
Ich komme in Schwung und mache viele Fahrten durch Berlin. Entweder muss ich tatsächlich irgendwo etwas erledigen oder aber ich fahre wirklich nur zum Kennenlernen mir noch verborgener Orte in der Stadt umher, steige aus, laufe lange Strecken, mache Fotos, steige wieder in ein öffentliches Nahverkehrsmittel ein, wenn mir die Beine schmerzen, es regnet oder ich einfach genug vom Ausflug habe. Nie muss ich dabei nachdenken, ob eine einfache Fahrkarte reicht oder ob es sich für eine Tageskarte lohnt. Ob eventuell eine Kurzfahrstrecke in Betracht kommt, oder ob ich jetzt nur umgestiegen bin oder es sich um eine identische Hin-und Rückfahrt handelt, bei der man wieder ein neues Ticket benötigen würde. Ich muss nicht daran denken, genügend Kleingeld dabei zu haben oder mich fragen, ob ich noch eine 4er-Karte habe. Das einzige vorauf ich aufpassen muss, ist mein wertvolles 9‑Euro-Ticket. Mehrmals am Tag schaue ich in meinem Portemonnaie nach, ob es noch an Ort und Stelle ist.
Mein Fotoprojekt: Doppelstockbus fahren
Es dauert fast einen halben Monat, bis ich meine erste Doppelstockbusfahrt antrete. In Steglitz. Der herausgesuchte Bus fährt allerdings gar nicht als solcher. Enttäuschend. Also versuche ich mich nicht an den Nummern zu orientieren, sondern halte vor Ort Ausschau nach einem zweistöckigen Bus. Den erstbesten nehme ich dann. Natürlich möchte ich oben vorne vor dem großen Fenster sitzen. Da kann man die tollsten Fotos machen. Netterweise rutschen die zwei Kids und ihre Mutter mit russischem Akzent ein wenig zusammen, so dass ich mich neben sie quetschen kann. Sie scheinen von mir als Fotografin mit echter Kamera begeistert. Gut für mich.
Mein nächster Versuch einer Doppelstockbusfahrt startet fast einen Monat später. Meine Mutter bittet mich, eine mit ihr zu machen. Auch sie konnte ich für das 9‑Euro-Ticket begeistern. Da meine Mutter nicht mehr ganz so agil ist, ist es mir wichtig, vorher eine konkrete Strecke herauszusuchen und sicher zu sein, dass da auch ein Doppelstockbus fährt. Darum erkundige ich mich auch in Foren danach. Wir entscheiden uns für eine Fahrt ab der Storkower Straße bis zum Ostbahnhof. In Lichtenberg war meine Mutter vor mehr als 40 Jahren beruflich viel unterwegs und seitdem kaum mehr dort gewesen.
Die frustrierende Überraschung an der Starthaltestelle ist, dass nach Auskunft des Busfahrers diese Strecke nie mit einem Doppeldecker befahren wird. Was tun? Wir bleiben bei unserer Entscheidung und haben Glück, dass dieser Bus nicht besonders voll wird und wir genügend Aussicht haben. Nach diesen Erfahrungen beschließe ich, nicht mehr gezielt Doppelstockbusfahrten zu planen, sondern sie spontan zu nutzen.
Ein Ausflug nach Sachsen
Doch meine größte Herausforderung ist, das 9‑Euro-Ticket für eine Fahrt außerhalb von Berlin zu nutzen. Und das nicht nur zum Spaß. Ich möchte meinen Freund in der Reha in Sachsen besuchen. Und da ich zwar einen Führerschein, aber keinerlei Fahrpraxis besitze, stehen mir sowieso nur Bus oder Bahn als Reisemittel zur Auswahl. Ich tippe somit in der Bahn-App ein: Start > Gesundbrunnen – Ziel > Bad Lausick.
Und natürlich nicht das Häkchen bei ’nur Nahverkehr’ vergessen zu setzen!
Zwei Umstiege sind das Minimum. Das hat Vor- und Nachteile. Wenn der Zug voll ist und man als Sardine zwischen anderen Reisegästen und ihrem Gepäck stehen muss, hat man eventuell eine Chance nach einem Umstieg im nächsten Zug doch einen Sitzplatz zu ergattern. Hat man dagegen schon in seinem ersten Zug eine Sitzgelegenheit, will man natürlich gerne so schnell und weit mit diesem Zug kommen. Außerdem hat man bei den Umstiegen die kurze Möglichkeit, ohne Maske Sauerstoff einzuatmen. Aber nur wenn die Umstiegszeit nicht zu kurz bemessen ist und der Zug keine Verspätung hat. Diese strategischen Überlegungen sind hiermit noch nicht zu Ende gedacht, aber führen an dieser Stelle doch zu weit und vom Wege ab.
Mal mit Sitzplatz, mal mit Lenker im Kreuz
Zwei regionale Hin- und Rückfahrten habe ich absolviert. Ganz leer waren die Züge nie. Manchmal hatte ich zeitweilig einen Sitzplatz. Manchmal hatte ich einen Fahrradlenker im Kreuz. Einige Male hatte ich Platzangst. Ich habe nie etwas vor diesen Fahrten getrunken oder gegessen, um bloß nicht auf’s Klo zu müssen. Ich habe mir mit Musik die Zugreise schön gehört. Immer war ich froh, wenn ich angekommen war und schwor mir, das nächste Mal nicht das 9‑Euro-Ticket auszunutzen, sondern mir einen bequemen Platz in einem Zug auf direktem Weg nach Leipzig zu kaufen. Das habe ich nun für meine dritte Reise auch gemacht. Ich werde es hoffentlich genießen.
9‑Euro-Ticket: Mein Fazit
Für den regionalen Fernverkehr (sagt man das so?) sind 9 Euro auf jeden Fall zu niedrig angesetzt. Da würde ich einen Preis von 1 Euro pro 10 Kilometer ansetzen. Generell gefällt mir, ohne Aufpreis nicht an einen Zug gebunden zu sein. Auch möchte ich nicht darüber nachdenken müssen, ob ich nun den 8 Uhr-Zug nehme, der 10 Euro billiger ist, als der, der um 10 Uhr losfährt.
Für den innerstädtischen Verkehr – um zu meiner Arbeit zu kommen, benötige ich nichts außer meinem Fahrrad oder meinen Füßen – wäre ich bereit, einen Preis von 30 Euro pro Monat zu zahlen.
Am wichtigsten dabei ist mir, nicht vor jeder Fahrt zu überlegen: Wohin will ich fahren? Muss ich umsteigen? Sind es weniger als drei bzw. sechs Stationen? Werde ich später am Tag nochmal fahren? Will ich zwischendurch aussteigen?
In einigen Städten, in denen ich war, gibt es bereits tolle Konzepte. Bisher hat mir das von Istanbul am meisten zugesagt: Man kauft sich eine aufladbare Plastikkarte und kann alle Verkehrsmittel wie Bus, Straßenbahn, Seilbahn, Fähre und S‑Bahn damit benutzen. Vor jedem Einstieg hält man diese Karte an einen Automaten und der Betrag wird abgebucht. An einer Anzeige kann man jederzeit einsehen, wie viel Guthaben noch auf der Karte ist und rechtzeitig neu mit Geld aufladen.
Noch gilt meine Universalkarte drei Wochen lang. Und ich versuche, jetzt noch nicht an September zu denken. Ich werde sie sehr vermissen.
Ich habe das 9 Euro-Ticket auch reichlich genutzt, bzw. konnte ich einfach überall meine BVG-Abokarte vorzeigen. Ich fände es auch schön, wenn ich die weiterhin in allen Regionalzügen und Bussen nutzen könnte, meinetwegen zum normalen Abopreis von derzeit 63 €/Monat. Aber dass man problemlos umsteigen kann und einfach mal spontan und flexibel sein kann, ist wirklich klasse.
Tolle Bilder! Schöne Details und viele neue Perspektiven auf den öffentlichen Verkehr.
Schön, dass du das Ticket als Schatz beschreibst.