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Unser Zuhause:
Vom Speckgürtel in die Mitte

Stiller Vorort oder lieber pralles Leben? In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben. Unsere Autorin ist von Falkensee in den Wedding gezogen.
15. Januar 2021
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Wenn man lan­ge an einem Ort lebt, emp­fin­det man die­sen irgend­wann ganz selbst­ver­ständ­lich als Hei­mat. Den Wed­ding kön­nen nur die weni­ge sei­ner Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner als Geburts­ort ange­ben, die­ser Stadt­teil ist schon immer ein Ort der Ein­wan­de­rung und des Tran­sits gewe­sen. Wie­der ande­re Ber­li­ner sind hier auch nur gebo­ren, weil sich vie­le Kran­ken­häu­ser im Wed­ding befin­den, und haben nie im Stadt­teil gewohnt. Der Zuge­zo­ge­nen­at­las 2016 weist für den Wed­ding aus, dass über die Hälf­te sei­ner Bewoh­ner nicht in Ber­lin gebo­ren ist – nur rund um den Schil­ler­park lag die Quo­te der Ur-Ber­li­ner etwas höher. So ver­wun­dert es nicht, dass auch die meis­ten der Redak­ti­ons­mit­glie­der beim Wed­ding­wei­ser nicht aus dem Wed­ding stam­men. In unse­rer Serie berich­ten wir von unse­ren Her­kunfts­or­ten – und war­um wir in unse­rem Stadt­teil Wur­zeln geschla­gen haben. Heu­te: Unse­re Autorin ist von Fal­ken­see in den Wed­ding gezogen.

So nah und doch nicht Berlin

See im Speckgürtel
Foto: Diet­mar Dölz

Schon immer hat­te ich Schwie­rig­kei­ten damit, ande­ren Men­schen zu erklä­ren, wo ich eigent­lich her­kom­me. Gebo­ren in Char­lot­ten­burg, habe ich vier Tage nach mei­ner Geburt die Haupt­stadt­gren­zen wie­der ver­las­sen, um pünkt­lich zum Hei­lig­abend unter dem Weih­nachts­baum im Fal­ken­seer Neu­bau­ge­biet zu lie­gen. Die­ser Ort ist mir heu­te bes­ser bekannt als das Ghet­to von FKS. Spä­ter im Eigen­heim mit Gar­ten bin ich ger­ne im Vor­ort auf­ge­wach­sen, obgleich ich in der Jugend die Nach­tei­le des C‑Bereiches erfah­ren soll­te. Die Bahn­fahrt nach Ber­lin ist teu­er und nach 1 Uhr nachts kamen wir von kei­ner Fei­er mehr nach Hau­se. In Span­dau auf den Zug nach Hau­se war­ten – wie ich es gehasst habe.

Wer­de ich also nach mei­ner Her­kunft gefragt, muss ich bin­nen kür­zes­ter Zeit mein Gegen­über stu­die­ren. Wie hoch ist die Wahr­schein­lich­keit, dass sich die­se Per­son im Raum Ber­lin aus­kennt – viel­leicht sogar da her­kommt? Denn nichts war mir in der Jugend pein­li­cher, als die Ent­lar­vung dar­über, dass ich ja eigent­lich kei­ne Ber­li­ne­rin bin. Born but not rai­sed. Der schö­ne Speck­gür­tel zählt für vie­le eben­so wenig zu Ber­lin wie es manch eine Per­son über Span­dau behaup­tet. Also wag­te ich nach dem Abitur den gro­ßen Schritt und ver­ließ die schnell­wach­sen­de Stadt Fal­ken­see im Ber­li­ner Speck­gür­tel, wel­che seit Mau­er­fall ihre Ein­woh­ner­zahl ver­dop­peln konnte.

Wedding hat viel zu bieten

Pankebrücke

Zuge­ge­ben: Das offi­zi­el­le Glücks­rad des Ber­li­ner Woh­nungs­markts hat­te wohl mehr Ein­fluss dar­auf, dass ich letzt­end­lich mit mei­ner WG im Wed­ding gelan­det bin als der Stadt­teil an sich. Was ich damals über den Wed­ding wuss­te, ist, dass die Mie­ten noch eini­ger­ma­ßen bezahl­bar waren und die Nach­bar­schaft wohl die eine oder ande­re Par­ty aus­hal­ten wür­de. Waren das die ers­ten zwei Plus­punk­te für die neue Hei­mat, soll­te es dabei defi­ni­tiv nicht blei­ben. Schnell ver­lieb­te ich mich in die Pan­ke, fand zwi­schen den gro­ßen, urba­nen Stra­ßen mei­ne Lauf­stre­cke, die im Kern bis heu­te noch exis­tiert. Ich erkun­de­te Hin­ter­hö­fe, Fal­a­fel­lä­den und konn­te nach kur­zer Zeit das Dach mei­nes Wohn­hau­ses vom Flak­turm im Hum­boldt­hain aus identifizieren.

Alles, was ich über Ber­lin wuss­te, pass­te nicht so ganz hier­her: kaum Tou­ris­ten, kei­ne Groß­stadt­an­ony­mi­tät (Tat­säch­lich grü­ße ich mehr Men­schen in mei­ner Nach­bar­schaft, als ich es jemals in Fal­ken­see tat). Der Plöt­zen­see ist schnel­ler zu errei­chen als der Fal­ken­ha­ge­ner See; zwei Parks in unmit­tel­ba­rer Nähe bie­ten mehr Rück­zugs­or­te, als es die Kin­des­hei­mat tut. Wed­ding ist mehr Dorf, als es Fal­ken­see jemals war. Ein wei­te­rer per­sön­li­cher Plus­punkt mei­ner neu­en Hei­mat ist aber auch die Nähe zur ers­ten Hei­mat. Weit genug weg, um Spon­tan­be­su­che der Eltern zu ver­mei­den. Nah genug, um immer die Mög­lich­keit zu haben, die Fami­lie zu sehen. Mit der Regio von Gesund­brun­nen sind es kei­ne 25 Minu­ten bis zum Bahn­hof im Speck­gür­tel. Und die schö­ne Fahr­rad­stre­cke ent­lang des Span­dau­er Schiff­fahrts­ka­nals ermög­licht som­mer­li­che Fahr­rad­tou­ren und jüngst eine Coro­na-kon­for­me “Coming Home for Christ­mas”-Anrei­se.

Gekommen, um zu bleiben

S-Bahnen am Humboldthain

Trotz der Hek­tik in den Stra­ßen, Sper­müll und Durst­lö­scher-Tetra­paks an vie­len Ecken füh­le ich mich in der neu­en Hei­mat zu Hau­se. Und ich bin anschei­nend nicht die Ein­zi­ge, die den Wed­ding im Kiez-Ran­king ganz oben sieht. Letz­tes Jahr tob­te es an Bericht­erstat­tung über den “coo­len” Wed­ding – selbst in irrele­van­ten, inter­na­tio­na­len Maga­zi­nen. Dar­un­ter aller­dings auch vie­le kon­tro­ver­se Kom­men­ta­re; unter ande­rem sind sich 79 Men­schen, inklu­si­ve mei­ner Mut­ter, einig, hier nicht mal tot über’n Gar­ten­zaun hän­gen zu wollen.

Ich glau­be, dass ich mich an vie­len Orten wohl­füh­len kann, solan­ge die Men­schen und die all­ge­mei­ne Umge­bung stimmt. Seit 2017 bin ich aber nun mal Wed­din­ge­rin und habe die vie­len Facet­ten lie­ben gelernt. Dazu gehört auch, sich ande­ren Ein­flüs­sen zu öff­nen und auch mal hin­ter die Fas­sa­de einer ver­dreck­ten Stra­ße zu gucken. Noch immer in der ers­ten Bude mit der glei­chen WG-Beset­zung fühlt es sich schon bei­na­he sess­haft an. Und soll­te ein­mal ein Umzug inner­halb Ber­lins anste­hen, muss schon viel pas­sie­ren, dass ich die­se Ent­schei­dung erneut dem Glücks­rad des Woh­nungs­markts überlasse.

 

Charleen Effenberger

Mag den Wedding und das Schreiben - und die Kombination aus Beidem. Seit 2017 hier vor Ort möchte sie bleiben; nicht zuletzt um dabei sein zu können, wenn der Wedding endlich kommt.

2 Comments

  1. Des­we­gen woh­ne ich schon seit 1973 im Wed­ding. Nah an den öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln, schnell am Ku´damm usw.
    Güns­ti­ge Mie­ten, die wei­ter­hin erhal­ten wer­den soll­ten, für mich als Klein­rent­ne­rin und alle gering­ver­die­nen­den Menschen.
    Des­halb soll­te alles für eine bes­se­re Zukunft, gera­de in Coro­na-Zei­ten, hier im Wed­ding und der gan­zen Welt soli­da­risch getan
    werden.

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