Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat. Den Wedding können nur die wenige seiner Bewohnerinnen und Bewohner als Geburtsort angeben, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. Wieder andere Berliner sind hier auch nur geboren, weil sich viele Krankenhäuser im Wedding befinden, und haben nie im Stadtteil gewohnt. Der Zugezogenenatlas 2016 weist für den Wedding aus, dass über die Hälfte seiner Bewohner nicht in Berlin geboren ist – nur rund um den Schillerpark lag die Quote der Ur-Berliner etwas höher. So verwundert es nicht, dass auch die meisten der Redaktionsmitglieder beim Weddingweiser nicht aus dem Wedding stammen. In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben. Heute: Unsere Autorin ist von Falkensee in den Wedding gezogen.
So nah und doch nicht Berlin
Schon immer hatte ich Schwierigkeiten damit, anderen Menschen zu erklären, wo ich eigentlich herkomme. Geboren in Charlottenburg, habe ich vier Tage nach meiner Geburt die Hauptstadtgrenzen wieder verlassen, um pünktlich zum Heiligabend unter dem Weihnachtsbaum im Falkenseer Neubaugebiet zu liegen. Dieser Ort ist mir heute besser bekannt als das Ghetto von FKS. Später im Eigenheim mit Garten bin ich gerne im Vorort aufgewachsen, obgleich ich in der Jugend die Nachteile des C‑Bereiches erfahren sollte. Die Bahnfahrt nach Berlin ist teuer und nach 1 Uhr nachts kamen wir von keiner Feier mehr nach Hause. In Spandau auf den Zug nach Hause warten – wie ich es gehasst habe.
Werde ich also nach meiner Herkunft gefragt, muss ich binnen kürzester Zeit mein Gegenüber studieren. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Person im Raum Berlin auskennt – vielleicht sogar da herkommt? Denn nichts war mir in der Jugend peinlicher, als die Entlarvung darüber, dass ich ja eigentlich keine Berlinerin bin. Born but not raised. Der schöne Speckgürtel zählt für viele ebenso wenig zu Berlin wie es manch eine Person über Spandau behauptet. Also wagte ich nach dem Abitur den großen Schritt und verließ die schnellwachsende Stadt Falkensee im Berliner Speckgürtel, welche seit Mauerfall ihre Einwohnerzahl verdoppeln konnte.
Wedding hat viel zu bieten
Zugegeben: Das offizielle Glücksrad des Berliner Wohnungsmarkts hatte wohl mehr Einfluss darauf, dass ich letztendlich mit meiner WG im Wedding gelandet bin als der Stadtteil an sich. Was ich damals über den Wedding wusste, ist, dass die Mieten noch einigermaßen bezahlbar waren und die Nachbarschaft wohl die eine oder andere Party aushalten würde. Waren das die ersten zwei Pluspunkte für die neue Heimat, sollte es dabei definitiv nicht bleiben. Schnell verliebte ich mich in die Panke, fand zwischen den großen, urbanen Straßen meine Laufstrecke, die im Kern bis heute noch existiert. Ich erkundete Hinterhöfe, Falafelläden und konnte nach kurzer Zeit das Dach meines Wohnhauses vom Flakturm im Humboldthain aus identifizieren.
Alles, was ich über Berlin wusste, passte nicht so ganz hierher: kaum Touristen, keine Großstadtanonymität (Tatsächlich grüße ich mehr Menschen in meiner Nachbarschaft, als ich es jemals in Falkensee tat). Der Plötzensee ist schneller zu erreichen als der Falkenhagener See; zwei Parks in unmittelbarer Nähe bieten mehr Rückzugsorte, als es die Kindesheimat tut. Wedding ist mehr Dorf, als es Falkensee jemals war. Ein weiterer persönlicher Pluspunkt meiner neuen Heimat ist aber auch die Nähe zur ersten Heimat. Weit genug weg, um Spontanbesuche der Eltern zu vermeiden. Nah genug, um immer die Möglichkeit zu haben, die Familie zu sehen. Mit der Regio von Gesundbrunnen sind es keine 25 Minuten bis zum Bahnhof im Speckgürtel. Und die schöne Fahrradstrecke entlang des Spandauer Schifffahrtskanals ermöglicht sommerliche Fahrradtouren und jüngst eine Corona-konforme “Coming Home for Christmas”-Anreise.
Gekommen, um zu bleiben
Trotz der Hektik in den Straßen, Spermüll und Durstlöscher-Tetrapaks an vielen Ecken fühle ich mich in der neuen Heimat zu Hause. Und ich bin anscheinend nicht die Einzige, die den Wedding im Kiez-Ranking ganz oben sieht. Letztes Jahr tobte es an Berichterstattung über den “coolen” Wedding – selbst in irrelevanten, internationalen Magazinen. Darunter allerdings auch viele kontroverse Kommentare; unter anderem sind sich 79 Menschen, inklusive meiner Mutter, einig, hier nicht mal tot über’n Gartenzaun hängen zu wollen.
Ich glaube, dass ich mich an vielen Orten wohlfühlen kann, solange die Menschen und die allgemeine Umgebung stimmt. Seit 2017 bin ich aber nun mal Weddingerin und habe die vielen Facetten lieben gelernt. Dazu gehört auch, sich anderen Einflüssen zu öffnen und auch mal hinter die Fassade einer verdreckten Straße zu gucken. Noch immer in der ersten Bude mit der gleichen WG-Besetzung fühlt es sich schon beinahe sesshaft an. Und sollte einmal ein Umzug innerhalb Berlins anstehen, muss schon viel passieren, dass ich diese Entscheidung erneut dem Glücksrad des Wohnungsmarkts überlasse.
Im Wedding muss man erst mal einen Gartenzaun finden, über den man sich hängen kann. 😀 Um deine Mutter musst du dir also keine Sorgen machen.
Deswegen wohne ich schon seit 1973 im Wedding. Nah an den öffentlichen Verkehrsmitteln, schnell am Ku´damm usw.
Günstige Mieten, die weiterhin erhalten werden sollten, für mich als Kleinrentnerin und alle geringverdienenden Menschen.
Deshalb sollte alles für eine bessere Zukunft, gerade in Corona-Zeiten, hier im Wedding und der ganzen Welt solidarisch getan
werden.