Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat. Den Wedding können nur die wenige seiner Bewohnerinnen und Bewohner als Geburtsort angeben, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. Wieder andere Berliner sind hier auch nur geboren, weil sich viele Krankenhäuser im Wedding befinden, und haben nie im Stadtteil gewohnt. Der Zugezogenenatlas 2016 weist für den Wedding aus, dass über die Hälfte seiner Bewohner nicht in Berlin geboren ist – nur rund um den Schillerpark lag die Quote der Ur-Berliner etwas höher. So verwundert es nicht, dass auch die meisten der Redaktionsmitglieder beim Weddingweiser nicht aus der Region Berlin-Brandenburg stammen. In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben. Heute: weg vom Prenzlberg.
Der Osten war interessant
Mit 700 Bewohnern Berlins teile ich den gleichen Geburtsort, Bad Kreuznach. Dort bin ich auch zur Schule gegangen, habe die weinselige Gegend an der Nahe aber für mein Studium verlassen. Berlin und seine mit heißer Nadel wiedervereinigten Stadthälften waren nach dem Mauerfall plötzlich eine reizvoller Ort geworden, der junge Leute aus aller Welt magisch anzog. Und vor allem der Ostteil Berlins, der Prenzlauer Berg, Standort meiner dritten Wohnung in Berlin, war in den späten 1990ern noch immer aufregend: Nicht alle Altbauten waren saniert, dort lebte noch immer ein buntes, künstlerisch angehauchtes Bohème-Publikum. Der Touri-Hotspot Berlin-Mitte war nahe genug dran, aber auch Friedrichshain und Pankow hatten ihren Reiz. Nur die Wohnungssuche für die Kleinfamilie mit Kind gestaltete sich nach dem Jahr 2000 schwierig – es gab einfach keine bezahlbare Wohnung mit 3 Zimmern im Wunschkiez.
Dann wurde es der Wedding
Und so fiel die Wahl auf den Wedding. Wenngleich die neue, preiswerte Wohnung nur an seinem äußersten Rand lag, im beschaulichen, im Vergleich zum Rest noch etwas bürgerlicher anmutenden Nordbahnkiez nahe des S‑Bahnhofs Wollankstraße im Ortsteil Gesundbrunnen. Nur ein Katzensprung war es von dort ins kreuzbrave Pankow, wo sich auch die Grundschule unseres Kindes befand. Im Kiez zwischen Pankow und dem richtigen Wedding entdeckte ich die Vorteile meines neuen Stadtteils– multikulti, preiswert und unaufgeregt. Dazu kam noch die fast schon dörfliche Kiez-Atmosphäre und das nicht ganz so reizüberflutete Stadtbild wie drüben in Prenzlauer Berg.
Ein Umzug später – es ging weiter ins Afrikanische Viertel. Das war das andere Extrem des Wedding, schnurgerade Straßen, einheitlich wirkende Siedlungen im vorstädtisch geprägten Kiez am Volkspark Rehberge. Gesundbrunnen, Pankow und Prenzlauer Berg waren auf einmal Lichtjahre entfernt, dafür war das klassische WestberlinerMilieu in Reinickendorf nur einen Steinwurf weit weg. Und, was mich überraschte: Die bunt gewürfelte Weddinger Grundschule erwies sich als die bessere Wahl als das sozial stabilere Pendant in Pankow. Inzwischen habe ich auch diese Facette des Wedding liebgewonnen.
Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, wieder einen Monat in meiner Geburtsstadt zu verbringen. Ich war erstaunt, wie wenig sich dort verändert hatte. All die Jahre in Berlin, zumal im Wedding, bestanden aus permanenter Veränderung und immer neuen Entwicklungen. Die westdeutsche Kurstadt zwischen Reben und Wald wirkte dagegen wie in der Zeit stehengeblieben. Das bot mir Gelegenheit, ihre Schönheit und Lebensqualität wiederzuentdecken. Aber ich fühlte mich auch beengt, abgeschnitten vom Veränderungsdruck und den Trends der Großstadt, die im Wedding inzwischen auch sehr schnell ankommen. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr mir das einmal, fern der neuen Heimat Wedding, fehlen würde.