Auch vor der Pandemie litt das “Hauptzentrum Müllerstraße” schon unter großen Problemen. Das geht aus der Fortschreibung des “Einzelhandels- und Zentrenkonzepts für den Bezirk Mitte von Berlin” hervor, das im März fertig gestellt wurde.
Das “Hauptzentrum Müllerstraße” zieht sich über rund 1,6 Kilometer entlang der Hauptgeschäftsstraße des Wedding. In der langgestreckten Achse deckt es sich in etwa mit dem städtebaulichen Fördergebiet “Lebendiges Zentrum Müllerstraße”, jedoch ohne dessen Querachse zwischen Leopoldplatz und Beuth-Hochschule für Technik aufzunehmen. Ein Hauptzentrum kommt in der Hierarchie der Berliner Geschäftszentren gleich nach den gesamtstädtischen “Zentrumsbereichskernen” wie Alexanderplatz, Friedrichstraße oder Potsdamer Platz und vor “Stadtteilzentren” wie der Turm- oder der Badstraße sowie den “Ortsteilzentren” wie der Potsdamer Straße. Je weiter oben in dieser Abstufung, desto mehr Handelsflächen können im Gebiet insgesamt genehmigt werden und desto größer dürfen sie im Einzelnen sein. Nach dem aktuellen Stadtentwicklungsplan “StEP Zentren 2030” sollen in einem Hauptzentrum rund 50.000 bis 100.000 Quadratmeter Verkaufsfläche vorhanden sein, bei einem niedrigen Anteil von unter 15 % von Nahrungs- und Genussmitteln sowie einem hohen Anteil von über 40 % von Bekleidungsgeschäften.
Rückgang des Handels
Die Müllerstraße erfüllt diese Anforderungen nicht mehr. Im Jahr 2019 waren dort nur noch 51.800 Quadratmeter Verkaufsfläche verzeichnet, ein Rückgang von 13 % innerhalb von nur drei Jahren. Zusätzlich ging im Jahr 2020 aber auch noch das “Schillerpark-Center” im nördlichen Bereich der Geschäftsstraße verloren. Gegenwärtig ist noch nicht klar, was mit diesem Gebäude künftig geschehen wird. Und auch Karstadt am Leopoldplatz steht auf der Kippe. Die vom Handel genutzte Verkaufsfläche droht damit, auch langfristig weiter zurückzugehen. Auch der Branchenmix ist weit entfernt von den im “SteP Zentren 2030” gesetzten Zielen. Etwa 35 % der Flächen werden in der Müllerstraße für den Verkauf von Nahrungs- und Genussmitteln beansprucht, weit mehr also als die geforderten maximal 15 %. Das mag mit der Nähe zum Stadtzentrum zusammenhängen sowie der Nähe zu den Shopping-Malls im Umkreis (Kurt-Schumacher-Platz, Gesundbrunnen-Center, Schultheiß-Quartier), wo sich die Angebote etwa im Bekleidungsbereich stark verdichten. Die Autoren des Konzepts empfehlen jedenfalls dennoch die Fortschreibung des Bereichs Müllerstraße als Hauptzentrum. Das erleichtert wahrscheinlich den Umgang mit den Problemfällen Schillerparkcenter und Karstadt. “Für beide Immobilien gilt es eine adäquate Nachnutzung zu finden, die der Versorgungsfunktion des Hauptzentrums gerecht wird und das Zentrum langfristig stabilisiert”, heißt es im Abschnitt zur Entwicklungsperspektive des Gebiets. Und kurz darauf folgt ein Alarmsatz: “Einsetzende Trading-Down-Tendenzen in zentralen Bereichen des Zentrums können durch städtebauliche Missstände (großflächige Leerstände im Bereich Leopoldcenter/ Karstadt) auf weitere Bereiche übergreifen.”
Spirale abwärts?
Trading-Down – also eine Abwärtsspirale für den Handel durch eine immer geringwertigere Ausnutzung der vorhandenen Flächen – wäre das Worst Case-Szenario für die Müllerstraße als Geschäftsstraße. Dagegen kämpft der Bezirk zwar mit aller Macht an, durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie rückt das Szenario jedoch näher. Deshalb ist die Fortschreibung des Einzelhandelskonzept ja auch so wichtig. Dessen Autoren kommen dabei nicht aus Berlin: Das Büro “Stadt + Handel” hat seinen Hauptsitz in Dortmund und Ableger in Hamburg, Karlsruhe und Leipzig. Ein fachmännischer Blick von außen tut in Krisensituationen immer gut. Wo also sehen die Verfasser des Konzepts hauptsächlich die Mängel der Müllerstraße?
Vor allem im Punkt “Städtebauliche Struktur” fällt sie offenbar deutlich hinter die üblichen Standards in Deutschland zurück. Hier steht die Ampel auf Rot, mit der die Autoren ihre Bewertung signalisieren. Das ist vor allem das Resultat geschichtlicher Entwicklungen. Die Teilung Berlins nach dem zweiten Weltkrieg hat in der Müllerstraße eben extreme Spuren hinterlassen. So lag vor dem Krieg das Verkehrs- und Handelszentrum der Straße noch ganz in ihrem Süden, in der Nähe des Weddingplatzes, wo sich U- und S‑Bahn sowie zahlreiche Straßenbahnlinien kreuzten. Hier war auch ein großes Hertie-Kaufhaus angesiedelt. Dieses “natürliche Zentrum” verschob sich durch die Teilung nach Norden an den Leopoldplatz, der südliche Teil der Straße war durch die Berliner Mauer abgeschnitten und wurde durch administrative Gebäude wie die SPD-Landeszentrale oder das Arbeitsamt künstlich am Leben erhalten. Das nach dem Krieg vollständig demontierte Werk von Schering (inzwischen: Bayer-Healthcare Pharmaceuticals) wurde wiederaufgebaut und dabei sogar noch erweitert. Heute fehlt deshalb der Übergang der Müllerstraße zum historischen (und touristischen) Stadtzentrum.
Problempunkt Verkehr
Darüber hinaus gibt es an dem Ort mit der höchsten Verkehrsdichte, am U- und S‑Bahnkreuz Wedding also, fast gar keine Handelsflächen. Andernorts wäre hier in den 1990er oder den frühen 2000er Jahren vermutlich ein großes Shopping-Center entstanden. Zudem ließ man es zu, dass im nördlichen Bereich der Müllerstraße zwei konkurrierende Handelskonzerne in großer räumlicher Nähe zueinander ihre Flaggschiff-Märkte errichteten. Das Duell “Real vs. Kaufland” spielte sich auch anderswo, etwa am Bahnhof Gesundbrunnen ab. Kaufland entschied es für sich. Jetzt fragt man sich, was aus dem Überbleibsel mit dem riesigen Parkdeck an der Ungarnstraße wohl werden soll.
Kaum einem oder einer Einheimischen würde es überhaupt einfallen, die Ausdehnung des Urnenfriedhofs Seestraße bis an die Müllerstraße heran als städtebaulichen Missstand anzusehen. Die Autoren der Fortschreibung sehen ihn aber: Die überbreite Seestraße zerteile die Müllerstraße sowieso schon in zwei scharf voneinander abgegrenzte Teile, die Lücke am Friedhof verstärke diese Spaltung erheblich. Das Schillerpark-Center sei damit an den lebendigsten Teil der Geschäftsstraße kaum angebunden.
Allerdings ist es kaum vorstellbar, dass Straßen- und Grünflächenamt und die Denkmalschutzbehörde einer Blockrandbebauung der Müllerstraße an dieser Stelle zustimmen würden. Auch in der Fahrbahngestaltung der Müllerstraße erkennen die Autoren eine Barriere: Die Einzelhandelslagen beidseitig des Straßenverlaufs sind voneinander getrennt, es fehlen Querungsmöglichkeiten für Fußgänger, heißt es in der Studie. Zusätzliche Gehwegvorstreckungen wären allerdings keine wirkliche Lösung. Das eigentliche Problem ist hier nämlich der starke Verkehr auf der Müllerstraße, weniger die Sichtbehinderung durch parkende Autos. Zusätzliche Ampelanlagen wären dringend erforderlich, werden aber vom der zuständigen Senatsabteilung Verkehrsmanagement regelmäßig abgelehnt. Noch besser wäre natürlich eine grundsätzliche Reduzierung des Verkehrs auf der Geschäftsstraße, also eine weiträumige Umleitung der übergeordneten Verkehrsströme etwa über die Amrumer, die Reinickendorfer oder die Erna-Samuel-Straße entlang des S‑Bahn-Rings in Moabit. Warum nämlich ein Hauptzentrum des Einzelhandels unbedingt als Zubringer zur Autobahn dienen muss (wie man erleben kann, wenn man am Hauptbahnhof in den Fernbus Richtung Kopenhagen steigt), ist nicht nachzuvollziehen. Es gäbe auch andere Wege als den über die Müllerstraße und den Kurt-Schumacher-Damm!
Radwege würden mehr Kunden bringen
Entwicklungsreserven hat, um es vorsichtig auszudrücken, die Straße auch noch in anderen Aspekten der Verkehrsplanung. Mit vier bis fünf U‑Bahnhöfen, S- und Straßenbahnanschluss sowie zahlreichen Buslinien ist die Müllerstraße eigentlich hervorragend an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen. Dennoch steht die Ampel im Feld
»Verkehrliche Erreichbarkeit« nur auf Gelb. Das liegt am völligen Fehlen von Radwegen im zentralen Geschäftsstraßenbereich zwischen Seestraße und Fennstraße. Für den Handel ist das ein echtes Hindernis. Denn immer mehr Kunden nutzen inzwischen das Fahrrad als Verkehrsmittel, auch der Wedding wird von diesem Trend immer stärker erfasst. Vor allem die jungen und kaufkräftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Büros, die in immer größerer Zahl überall in der Innenstadt – auch im Wedding – entstehen, nutzen oft und gerne das Rad. In den Neubauprojekten werden auch kaum noch Tiefgaragen für Autos gebaut, sondern vor allem Abstellplätze für Räder. Zwar gibt es bereits seit etwa zehn Jahren ausgearbeitete Pläne, wie man entlang der Müllerstraße einen Radweg errichten könnte. Die liegen aber solange auf Eis, bis die BVG die U‑Bahntunnel unter der Straße saniert hat, und das wird noch Jahre dauern. So viel Zeit hat die Geschäftsstraße allerdings nicht mehr.
Autor: Christof Schaffelder
Dieser Beitrag erschien zunächst in der Zeitschrift Ecke Müllerstraße
“Fortschreibung des Einzelhandels- und Zentrenkonzepts für den Bezirk Mitte von Berlin”, Stadt + Handel, März 2021;
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Hallo Wedding weißer,
ich finde den Artikel von Christoph Schaffelder sehr ausführlich und informativ.
Danke Werner Franz 9
Mich hat die Müllerstr. als Kunden (mit wenigen Ausnahmen – Bünger, Karstadt) schon lange verloren. Weder bietet sie ein „Shopping-Erlebnis“, noch möchte ich da langlaufen, was in vielen Bereichen einem reinen Hindernislauf entspricht. Liegt es an der aktuell viel diskutierten Maskenpflicht, die dort auch – im wahrsten Sinne des Wortes – als Fremdwort daherkommt? Liegt es an den Geschäften, die auf mich weder anziehend wirken, noch mir ein Angebot unterbreiten, welches ich gerne annehmen würde? Alles in allem orientiere ich mich doch da lieber hin zu anderen Zentren ‑und damit ist nicht die Turmstraße gemeint! Aber das Auto macht es halt möglich, schnell und bequem irgendwo hinzufahren!
Es gibt sicher diese und noch viele andere Gründe. Im wesentlichen läuft es auf das Gleiche hinaus: es ist einfach nur freudlos und streßig, in der Müllerstraße einzukaufen. Dazu kommt, dass das Angebot an Geschäften gehobenen Ansprüchen nicht genügt: zwar sprießt hier und da ein Geschäft mit Pfiff aus dem Boden, aber insgesamt sind es billig gemachte Shops mit billigem Angebot und häufig mässig motiviertem Personal (das gilt gerade und auch speziell für Karstadt). Dazu fehlen sämtliche Dienstleistungen (Hol/Bringedienste, Kinderbetreuung etc. etc.), die es zulassen, entspannt zu shoppen.