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Synagoge Gesundbrunnen:
Spurensuche nach Rabbiner Dr. Siegfried Alexander, 1924–1943

27. Dezember 2021
Foto von Alexander, Eliezer, Zigfrid
Digi­tal File : CAS 166608 Alex­an­der Sieg­fried, 1936, CD Sub­mit­ted by Cha­na Gold­wyn in 2018 Item ID 14119818 Rela­ted Coll­ec­tion Hall of Names pho­tos. Archi­val Signa­tu­re 1500014119818 Cre­dit Yad Vashem

Im Gesund­brun­nen grün­de­ten jüdi­sche Anwoh­ner der Bad­stra­ße den Israe­li­ti­schen Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim (Aha­vas Achim) im Jahr 1899. In den ers­ten Jah­ren hat­te der Pri­vat-Syn­ago­gen­ver­ein wech­seln­de Rab­bi­ner. Im April 1924 über­nahm der ehe­ma­li­ge Feld­rab­bi­ner Dr. Sieg­fried Alex­an­der (*12.10.1886) die­se wich­ti­ge Auf­ga­be. Sei­ne Wirk­stät­te war nicht nur die Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee 87. Eine Spu­ren­su­che rund um die Bad­stra­ße – dem jüdi­schen Vier­tel im eins­ti­gen Arbeiterbezirk.

Alex­an­der und Ries: Zwei jüdi­sche Familien

Ber­lin: Im Früh­jahr 1919 gaben Dr. Sieg­fried Alex­an­der und Adel­heid Ries ihre Ver­lo­bung bekannt. Zu die­sem Zeit­punkt war Adel­heid 22 Jah­re alt (*19.02.1897) und er bereits 33. Im Som­mer 1919 wur­de gehei­ra­tet. Bei­de stamm­ten aus jüdi­schen Familien. 

Sieg­fried Alex­an­der begann 1907 sein Stu­di­um, hat­te 1914 pro­mo­viert und leg­te 1918 sei­ne Rab­bi­nats­prü­fung ab. Er war der ältes­te Sohn von Wil­helm Alex­an­der, der am 21. August 1857 in Brom­berg gebo­ren wur­de, und sei­ner zwei­ten Frau Fried­chen Alex­an­der, geb. Cohn. Die Alex­an­ders sie­del­ten 1906 aus Lobsens/Posen nach Ber­lin über. Wil­helm Alex­an­der soll ein aus­ge­zeich­ne­ter Schof­ar-Blä­ser und täg­li­cher Syn­ago­gen-Besu­cher gewe­sen sein. Eben­falls über­lie­fert ist, dass die Eltern in den 1920er Jah­ren in der Wör­ther Stra­ße 36 wohn­ten. Fried­chen Alex­an­der starb am 06. August 1935 und wur­de auf dem Jüdi­schen Fried­hof in Wei­ßen­see beer­digt. Wil­helm Alex­an­der leb­te zu sei­nem 80. Geburts­tag, im Jahr 1937, im Jüdi­schen Alters­heim in der Ira­ni­schen Stra­ße. Er starb am 18. Juni 1942 und wur­de eben­falls in Wei­ßen­see beerdigt.

Adel­heid, gebo­ren in Oster­holz-Scharm­beck, war die Toch­ter von Dani­el Ries und Bet­ty, geb. Laza­rus, und wuchs in Ber­lin-Tier­gar­ten auf. Dani­el Ries starb am 06. Febru­ar 1937 und wur­de in Wei­ßen­see beer­digt. Bet­ty Ries kam 1941 ins Jüdi­sche Alters­heim in der Ira­ni­schen Stra­ße und wur­de am 25. Janu­ar 1942 mit dem 10. Ost­trans­port nach Riga depor­tiert; in der Shoa ermordet.

Ada und Sieg­fried brach­ten 1924 zwei Kin­der mit den Wed­ding: den Sohn Yis­ra­el (genannt Edu­ard) und die Toch­ter Tina. Im Wed­ding wur­de die zwei­te Toch­ter Hana gebo­ren. Alle drei Kin­der wuch­sen im Bad­stra­ßen-Kiez und in der jüdi­schen Gemein­de auf. Noch 1939 konn­ten die Kin­der nach Paläs­ti­na und Eng­land flüch­ten. Die Ein­zi­ge heu­te noch Leben­de ist Hana.

Ein beson­de­rer Bund fürs Leben

Im Ers­ten Welt­krieg kämp­fen cir­ca 100.000 Juden für den deut­schen Kai­ser – zwi­schen 1914 und 1918 dien­ten rund 30 Feld­rab­bi­ner. Es gab eine gro­ße Begeis­te­rung unter den Juden für den Ers­ten Welt­krieg, so der Buch­au­tor Avi Pri­mor im Spie­gel-Inter­view 2014.

Alle drei Söh­ne von Wil­helm Alex­an­der – Sieg­fried, Hugo und Erich – dien­ten im Ers­ten Welt­krieg. Sieg­fried Alex­an­der erhielt für sei­ne Diens­te das Eiser­ne Kreuz zwei­ter Klas­se. Der Sohn Hugo Alex­an­der nahm am rumä­ni­schen Feld­zug teil und Dr. Erich Alex­an­der war erst unter der Waf­fe und dann als Feld­zahn­arzt tätig. Spä­ter wohn­te Erich Alex­an­der in der Schön­hau­ser Allee 44. Er starb mit nur 44 Jah­ren am 04. Juli 1935.

Die Zeit im Krieg hat­te Rab­bi­ner Alex­an­der geprägt. Er war Mit­glied des im Jahr 1920 gegrün­de­ten Reichs­bund jüdi­scher Front­sol­da­ten (RjF). In der dazu­ge­hö­ri­gen Zeit­schrift „Der Schild“ erschie­nen Beträ­ge von und über ihn. Sehr inter­es­sant ist ein Bei­trag von ihm aus dem Dezem­ber 1937: „In der Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee, wo ich seit fast vier­zehn Jah­re amtie­re, herrscht die alt-tra­di­tio­nel­le Gepflo­gen­heit, zwei­mal im Jah­re, (am Ver­söh­nungs­ta­ge und Peß­ach) bei der See­len­fei­er die Namen der ver­stor­be­nen Mit­glie­der und deren Ange­hö­ri­ge durch den Rab­bi­ner zur Ver­le­sung zu brin­gen. (…) Selbst­re­dend ver­le­se ich, seit­dem ich hier im Amte bin, beim jedes­ma­li­gen Namens­auf­ruf auch die aus unse­rer klei­nen enge­ren Gemein­de Aha­was Achim gefal­le­nen Kame­ra­den; es han­delt sich um unge­fähr 20, etwa 10% aller Aufgerufenen“.

Somit gab es auch Juden aus dem Wedding/Gesundbrunnen, die im Ers­ten Welt­krieg für den Kai­ser kämp­fen und ihr Leben ver­lo­ren. Den­je­ni­gen, die den Krieg über­lebt und Aus­zeich­nun­gen bekom­men hat­ten, fiel es beson­ders schwer, die Aus­gren­zung in den 1930er zu ertra­gen. Noch im Sep­tem­ber 1937 gab es auf dem Ehren­feld in Wei­ßen­see eine Trau­er­frei­er für die gefal­le­nen jüdi­schen Sol­da­ten. Bei der Ver­an­stal­tung 1937, cir­ca 1.500 Ber­li­ner Kame­ra­den waren anwe­send, sprach auch Rab­bi­ner Alex­an­der. Wahr­heit, Recht und Frie­de setz­te er mit dem Hel­den­tod der Kame­ra­den in Verbindung.

Vom Krieg in die Synagoge

Nach dem Ers­ten Welt­krieg war Sieg­fried Alex­an­der zunächst Lan­des­rab­bi­ner in Köthen/Anhalt (1919−1921) und Rab­bi­ner von Saar­brü­cken (1921−1924). Als er die Rab­bi­nats­stel­le beim Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim annahm, war er 38 Jah­re alt. Seit 1922 war die Stel­le nicht besetzt. Sein Vor­gän­ger Rab­bi­ner Dr. Arthur Rosen­thal wirk­te von 1920 bis 1922.

Rab­bi­ner Sieg­fried Alex­an­der wur­de am Vor­abend des Pessach-Fes­tes 1924 in der Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 in das Rab­bi­nats­amt ein­ge­führt. Die klei­ne Syn­ago­ge war bis auf den letz­ten Platz besetzt. Chor­ge­sang und Har­mo­ni­um beglei­ten den neu­en Rab­bi­ner zum Altar. David Wol­pe, Mit­be­grün­der der Gemein­de sowie Reprä­sen­tant des Jüdi­schen Kran­ken­hau­ses, sag­te: „Wir alle, jung und alt, vor allem aber die Kran­ken und Lei­den­den, war­ten auf den Leh­rer und Trös­ter; und Sie wer­den rei­ches Arbeits­feld bei uns fin­den. Aber die­se Betä­ti­gung wird Ihnen Freu­de machen, denn wir brin­gen Ihnen von vorn­her­ein unse­re Hän­de und unse­re Her­zen ent­ge­gen, um Ihnen den erns­ten, schwe­ren Beruf nach Mög­lich­keit zu erleich­tern.“ Anschlie­ßend hielt Rab­bi­ner Alex­an­der sei­ne Antritts­pre­digt in der fest­lich erleuch­te­ten Syn­ago­ge. Er dank­te Gott dafür, dass er ihn hier­her zu kom­men für wür­dig befun­den hat­te. Der Jun­gend wol­le er ein Leh­rer und Erzie­her, den Alten ein Freund und Bera­ter, den Kran­ken und Lei­den­den ein Hel­fer und Trös­ter sein. Mit einem Gebet schloss die Feier.

Am 10. Novem­ber 1929 fei­er­te die klei­ne Gemein­de ihr 30-jäh­ri­ges Bestehen. Rab­bi­ner Alex­an­der ver­öf­fent­lich­te im Israe­li­ti­schen Fami­li­en­blatt einen Rück­blick mit­samt Erwäh­nung der ers­ten Zusam­men­künf­te und dem ers­ten gemein­sa­men Cha­nuk­ka­fes­tes 1899 in einem Gar­ten­häus­chen in der Bad­stra­ße. Die­ses Jubi­lä­um erleb­ten vie­le der Mit­be­grün­der noch. Eini­ge waren jedoch im Ers­ten Welt­krieg gefal­len und eini­ge neue Mit­glie­der ent­de­cken die klei­ne Gemein­de – die Zahl der jüdi­schen Ein­woh­ner im Wed­ding und Gesund­brun­nen stieg von cir­ca 1.800 im Jahr 1910 auf cir­ca 3.700 im Jahr 1925. Vie­le jüdi­sche Fami­li­en leb­ten und arbei­te­ten in der Bad­stra­ße sowie den unmit­tel­ba­ren Neben­stra­ßen. Sie hat­ten klei­ne Läden, Pra­xen und flo­rie­ren­de Geschäfte.

Immer vie­le Aufgaben

Rab­bi­ner Alex­an­der war in ers­ter Linie für den Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim tätig und somit befand sich sei­ne Wirk­stät­te an der Prin­zen­al­lee 87. Die 1910 ein­ge­weih­te Syn­ago­ge wur­de im Som­mer 1935 reno­viert und am 16. August 1935 wie­der­eröff­net. Es gab zahl­rei­che Ver­an­stal­tun­gen in der Syn­ago­ge. Auch hielt Rab­bi­ner Alex­an­der vie­le Vor­trä­ge über das jüdi­sche Leben, die Gemein­schaft und ihre Beson­der­hei­ten in ande­ren jüdi­schen Ein­rich­tun­gen. Am 05. Mai 1936 spra­chen Rab­bi­ner Dr. Har­ry Levy, Rab­bi­ner Broch und Bru­no Ben­der über „Paläs­ti­na oder Erez-Jsra­el“. Es wur­de berich­tet, dass zahl­rei­che Besu­cher der Mis­ra­chi-Grup­pe bei­tra­ten. Im März 1938 fan­den the­ma­tisch ähn­li­che Ver­an­stal­tun­gen statt. Ziel war es, dass die jüdi­sche Bevöl­ke­rung nach Paläs­ti­na auswandert. 

Rab­bi­ner Alex­an­der war neben sei­ner Tätig­keit in der Syn­ago­ge auch im Jüdi­schen Kran­ken­haus tätig und der Seel­sor­ger im Jüdi­schen Alten­heim vis-à-vis vom Kran­ken­haus. Sowohl im Kran­ken­haus als auch im Alters­heim gab es jeweils eine Syn­ago­ge. Die­se bei­den Ein­rich­tun­gen unter­schei­den das jüdi­sche Leben im Wed­ding von allen ande­ren Ber­li­ner Stadt­tei­len. Es ging um die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung und die Für­sor­ge für mit­tel­lo­se jüdi­sche Senio­ren, die meist kaum Besitz hat­ten und daher heu­te in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind. 

An einer die­ser Adres­sen soll­te ein Stol­per­stein liegen

Den ers­ten Ein­trag einer Wohn­an­schrift von Rab­bi­ner Alex­an­der gibt es im Ber­li­ner Adress­buch von 1926. Dem­nach wohn­te er in der Bad­stra­ße 44. Dies war sei­ne Adres­se für die nächs­ten Jah­re. Anschlie­ßend gibt es ab 1932 wech­seln­de Wohn­an­schrif­ten: Bad­stra­ße 3839 (1932, 1933), Exer­zier­stra­ße 11a bzw. Ira­ni­sche Stra­ße 2 – im Jüdi­schen Kran­ken­haus – und in der Kolo­nie­stra­ße 11 (1938, 1939). Der Rab­bi­ner wird letzt­mal im Ber­li­ner Adress­buch von 1941 mit der Adres­se Ira­ni­sche Stra­ße 2 auf­ge­führt. Auf der Depor­ta­ti­ons­lis­te wird als Wohn­adres­se: Chaus­see­stra­ße 18 b/Nossek, angegeben.

Exkurs über ein unbe­kann­tes, zer­stör­tes Wohn- und Geschäfts­haus: Gus­tav Nos­sek war Jude, ihm gehör­ten vier Grund­stü­cke (u.a. Chaus­see­stra­ße 1718), die 1939 auf 1,5 Mio. Mark geschätzt wur­den. An der Adres­se Chaus­see­stra­ße 18 führ­te er ein Geschäft für Damen­hü­te (seit 1908). Sei­ne Hut­fa­bri­k/-Geschäft gab es bis 1939. Aus Archiv­un­ter­la­gen war zu ent­neh­men, dass die Grund­stü­cke Chaus­see­stra­ße 1718 in einer Zwangs­ver­stei­ge­rung am 26.8.1943 ange­bo­ten wur­den. Heu­te befin­det sich in der Chaus­see­stra­ße 18 ein Neu­bau. Unbe­kannt ist die eins­ti­ge Anzahl jüdi­scher Bewoh­ner in der Chaus­see­stra­ße 18 – laut Jüdi­schem Adress­buch von 193132 wohn­te hier Doris Cro­ner. Gus­tav Nos­sek und sei­ne Frau Rahel wur­den 1943 nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Sie über­leb­ten den Holo­caust. Im Janu­ar 1945 kamen sie völ­lig mit­tel­los in der Schweiz an, wohn­ten in einer Flücht­lings­un­ter­kunft und stell­ten einen Rei­se­an­trag nach Aus­tra­li­en, wo die Toch­ter und der Schwie­ger­sohn leb­ten. Am 31. Juli 1947 beka­men sie die Reiseausweise.

Ost­trans­port 36

Von der Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee blie­ben beim Novem­ber­po­grom 1938 nur die Mau­ern ste­hen, wäh­rend das Inne­re zer­stört wur­de. Anschlie­ßend blieb die Syn­ago­ge geschlos­sen. Von da ab war Rab­bi­ner Alex­an­der haupt­säch­lich im Jüdi­schen Kran­ken­haus, im Jüdi­schen Alten­heim und in noch bestehen­den Syn­ago­gen tätig. Dar­über hin­aus war er von 1941 bis 1943 Leh­rer bei der Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutschland.

Rab­bi­ner Alex­an­der und sei­ne Frau Adel­heid wur­den nach 19 Jah­ren im Wed­ding am 12. März 1943 mit Trans­port 36 nach Ausch­witz depor­tiert, wo bei­de ermor­det wur­den. Im Wedding/Gesundbrunnen erin­nert bis heu­te kei­ne Tafel oder Stol­per­stein an den lang­jäh­ri­gen Seel­sor­ger und Rab­bi­ner – seit dem 22. Mai 2023 gibt es zwei Stol­per­stei­ne vor dem Jüdi­schen Krankenhaus.

Bild­quel­len: Yad Vas­hem – Zen­tra­le Daten­bank der Namen der Holo­caust­op­fer; Jüdi­sches Muse­um Ber­lin (JMB)

Lite­ra­tur: Sabi­ne Hank, Uwe Hank, Her­mann Simon (2013): Feld­rab­bi­ner in den deut­schen Streit­kräf­ten des Ers­ten Welt­krie­ges, Berlin.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

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