
Im Gesundbrunnen gründeten jüdische Anwohner den Israelitischen Religionsverein Ahawas Achim (Ahavas Achim) im Jahr 1899 in der Badstraße. In den ersten Jahren hatte der Privat-Synagogenverein wechselnde Rabbiner. Im April 1924 übernahm der ehemalige Feldrabbiner Dr. Siegfried Alexander (*12.10.1886) diese wichtige Aufgabe. Seine Wirkstätte war nicht nur die Synagoge in der Prinzenallee 87. Eine Spurensuche rund um die Badstraße – dem jüdischen Viertel im Norden Berlins.


Alexander und Ries: Zwei jüdische Familien
Berlin: Im Frühjahr 1919 gaben Dr. Siegfried Alexander und Adelheid Ries ihre Verlobung bekannt. Zu diesem Zeitpunkt war Ada 21 Jahre alt (*19.02.1897) und er bereits 33. Im Sommer 1919 wurde geheiratet. Beide stammen aus jüdischen Familien. Siegfried Alexander begann 1907 sein Studium, hatte 1915 promoviert und legte 1918 seine Rabbinatsprüfung ab.
Siegfried war der Sohn von Wilhelm Alexander, der am 21.08.1857 in Bromberg geboren wurde, und Friedchen (Tina), geb. Joseph Cohn. Die Alexanders siedelten 1906 aus Lobsens/Posen nach Berlin über. Wilhelm Alexander soll ein ausgezeichneter Schofar-Bläser und täglicher Synagogen-Besucher gewesen sein. Ebenfalls überliefert ist, dass die Eltern in den 1920er Jahren in der Wörther Straße 36 wohnten. Zu seinem 80. Geburtstag, im Jahr 1937, lebte Wilhelm Alexander im Jüdischen Altersheim in der Iranischen Straße, denn seine Frau Friedchen war am 06.08.1935 verstorben.
Ada war die Tochter von Daniel Ries und Betty, geb. Lazarus, und wuchs in Berlin-Tiergarten und Berlin-Tempelhof auf. Betty Ries kam 1941 in das Jüdische Altersheim in der Iranischen Straße und wurde am 25.01.1942 mit dem 10. Osttransport nach Riga deportiert.
Ada und Siegfried bekamen drei Kinder. Sie wuchsen im Wedding und in der jüdischen Gemeinde auf. Noch 1939 konnten die Kinder nach Palästina und England flüchten.

Ein besonderer Bund fürs Leben
Im Ersten Weltkrieg kämpfen circa 100.000 Juden für den deutschen Kaiser – zwischen 1914 und 1918 dienten rund 30 Feldrabbiner. Es gab eine große Begeisterung unter den Juden für den Ersten Weltkrieg, so der Buchautor Avi Primor im Spiegel-Interview 2014.
Alle drei Söhne von Wilhelm Alexander dienten im Ersten Weltkrieg. Siegfried Alexander erhielt für seine Dienste das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. Der Sohn Hugo Alexander nahm am rumänischen Feldzug teil und Dr. Erich Alexander war erst unter der Waffe und dann als Feldzahnarzt tätig. Später wohnte der Zahnarzt in der Schönhauser Allee 44. Er starb mit nur 44 Jahren am 04.07.1935.
Die Zeit im Krieg hatte Dr. Siegfried Alexander geprägt. Er war Mitglied des im Jahr 1920 gegründeten Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF). In der dazugehörigen Zeitschrift „Der Schild“ erschienen Beträge von und über ihn. Sehr interessant ist ein Beitrag von ihm aus dem Dezember 1937: „In der Synagoge Prinzenallee, wo ich seit fast vierzehn Jahre amtiere, herrscht die alt-traditionelle Gepflogenheit, zweimal im Jahre, (am Versöhnungstage und Peßach) bei der Seelenfeier die Namen der verstorbenen Mitglieder und deren Angehörige durch den Rabbiner zur Verlesung zu bringen. (…) Selbstredend verlese ich, seitdem ich hier im Amte bin, beim jedesmaligen Namensaufruf auch die aus unserer kleinen engeren Gemeinde Ahawas Achim gefallenen Kameraden; es handelt sich um ungefähr 20, etwa 10% aller Aufgerufenen“.
Somit gab es auch Juden aus dem Wedding/Gesundbrunnen, die im Ersten Weltkrieg für den Kaiser kämpfen und ihr Leben verloren. Denjenigen, die den Krieg überlebt und Auszeichnungen bekommen hatten, fiel es besonders schwer, die Ausgrenzung in den 1930er zu ertragen. Noch im September 1937 – auch in den 1920er Jahren – gab es auf dem Ehrenfeld in Weißensee eine Trauerfreier für die gefallenen jüdischen Soldaten. Bei der Veranstaltung 1937, circa 1.500 Berliner Kameraden waren anwesend, sprach auch Dr. Siegfried Alexander. Wahrheit, Recht und Friede setzte er mit dem Heldentod der Kameraden in Verbindung.

Vom Krieg in die Synagoge
Gegründet wurde der Religionsverein Ahawas Achim 1899. Die einstige Synagoge in der Prinzenallee 87, feierlich eingeweiht 1910, hatte circa 300 Plätze. Die Männer saßen unten und Frauen auf der Empore. Nach dem Ersten Weltkrieg war Siegfried Alexander zunächst Landesrabbiner in Köthen/Anhalt und Rabbiner von Saarbrücken. Als er die Rabbinatsstelle beim Religionsverein Ahawas Achim annahm, war er 38 Jahre alt. Seit 1922 war die Stelle nicht besetzt. Sein Vorgänger Rabbiner Dr. Arthur Rosenthal wirkte von 1920 bis 1922.
Dr. Siegfried Alexander wurde am Vorabend des Pessach-Festes 1924 in der Synagoge Prinzenallee in das Rabbinatsamt eingeführt. Die Synagoge war bis auf den letzten Platz besetzt. Chorgesang und Harmonium begleiten den neuen Rabbiner zum Altar. David Wolpe, Mitbegründer der Gemeinde sowie Repräsentant des Jüdischen Krankenhauses, sagte: „Wir alle, jung und alt, vor allem aber die Kranken und Leidenden, warten auf den Lehrer und Tröster; und Sie werden reiches Arbeitsfeld bei uns finden. Aber diese Betätigung wird Ihnen Freude machen, denn wir bringen Ihnen von vornherein unsere Hände und unsere Herzen entgegen, um Ihnen den ernsten, schweren Beruf nach Möglichkeit zu erleichtern.“ Anschließend hielt der neue Rabbiner seine erste Antrittspredigt in der festlich erleuchteten Synagoge. Er dankte Gott dafür, dass er ihn hierher zu kommen für würdig befunden hatte. Der Jungend wolle er ein Lehrer und Erzieher, den Alten ein Freund und Berater, den Kranken und Leidenden ein Helfer und Tröster sein. Mit einem Gebet schloss die Feier.
Am 10. November 1929 feierte die Gemeinde ihr 30-jähriges Bestehen. Rabbiner Dr. Alexander veröffentlichte im Israelitischen Familienblatt einen Rückblick mitsamt Erwähnung der ersten Zusammenkünfte und dem ersten gemeinsamen Chanukkafestes 1899 in einem Gartenhäuschen in der Badstraße. Dieses Jubiläum erlebten viele der Mitbegründer noch. Einige waren jedoch im Ersten Weltkrieg gefallen und einige neue Mitglieder entdecken die kleine Gemeinde im Norden. Viele jüdische Familien lebten und arbeiteten in der Badstraße sowie den unmittelbaren Nebenstraßen. Sie hatten Läden und Geschäftsräume.



Immer viele Aufgaben
Rabbiner Dr. Alexander war in erster Linie für den Religionsverein Ahawas Achim tätig und somit befand sich seine Wirkstätte an der Prinzenallee 87. Neben dem Gottesdienst, Lehrveranstaltungen, Jugendgottesdienst, Mincha und Totenfeiern wurde die 1910 eingeweihte Synagoge im Sommer 1935 renoviert und am 16.08.1935 wiedereröffnet.
Es gab zahlreiche Veranstaltungen in der Synagoge. Auch hielt Rabbiner Alexander viele Vorträge über das jüdische Leben, die Gemeinschaft und ihre Besonderheiten in anderen jüdischen Einrichtungen. Am 05.05.1936 sprachen Rabbiner Dr. Harry Levy, Rabbiner Broch und Bruno Bender über „Palästina oder Erez-Jsrael“. Es wurde berichtet, dass zahlreiche Besucher der Misrachi-Gruppe beitraten. Im März 1938 fanden thematisch ähnliche Veranstaltungen statt. Ziel war es, dass die jüdische Bevölkerung nach Palästina auswandert.
Rabbiner Alexander war neben seiner Tätigkeit in der Synagoge in der Prinzenallee 87 auch im Jüdischen Krankenhaus tätig und der Seelsorger im Jüdischen Altenheim vis-à-vis vom Krankenhaus. Sowohl im Krankenhaus als auch im Altersheim gab es jeweils eine Synagoge. Diese beiden Einrichtungen unterscheiden das jüdische Leben im Wedding von allen anderen Berliner Stadtteilen. Es ging um die medizinische Versorgung der jüdischen Bevölkerung und die Fürsorge für mittellose jüdische Senioren, die meist kaum Besitz hatten und daher heute in Vergessenheit geraten sind.



An einer dieser Adressen sollte ein Stolperstein liegen
Den ersten Eintrag einer Wohnanschrift von Rabbiner Dr. Alexander gibt es im Berliner Adressbuch von 1926. Demnach wohnte er in der Badstraße 44. Dies war seine Adresse für die nächsten Jahre.
Anschließend gibt es ab 1932 wechselnde Wohnanschriften: Badstraße 38/39 (1932, 1933), Exerzierstraße 11a bzw. Iranische Straße 2 – im Jüdischen Krankenhaus – und in der Koloniestraße 11 (1938, 1939). Der Rabbiner wird letztmal im Berliner Adressbuch von 1941 mit der Adresse Iranische Straße 2 aufgeführt. Auf der Deportationsliste wird als Wohnadresse: Chausseestraße 18 b/Nossek, angegeben.
Exkurs über ein unbekanntes, zerstörtes Wohn- und Geschäftshaus: Gustav Nossek war Jude, ihm gehörten vier Grundstücke (u.a. Chausseestraße 17/18), die 1939 auf 1,5 Mio. Mark geschätzt wurden. An der Adresse Chausseestraße 18 führte er ein Geschäft für Damenhüte (seit 1908). Seine Hutfabrik/-Geschäft gab es bis 1939. Aus Archivunterlagen war zu entnehmen, dass die Grundstücke Chausseestraße 17/18 in einer Zwangsversteigerung am 26.8.1943 angeboten wurden. Heute befindet sich in der Chausseestraße 18 ein Neubau. Unbekannt ist die einstige Anzahl jüdischer Bewohner in der Chausseestraße 18 – laut Jüdischem Adressbuch von 1931/32 wohnte hier Doris Croner. Gustav Nossek überlebte mit seiner Frau Rahel den Holocaust – sie wurden 1943 nach Theresienstadt deportiert. Im Januar 1945 kamen sie völlig mittellos in der Schweiz an, wohnten in einer Flüchtlingsunterkunft und stellten einen Reiseantrag nach Australien, wo die Tochter und der Schwiegersohn lebten. Am 31. Juli 1947 bekamen sie die Reiseausweise.

Osttransport 36
Die Synagoge in der Prinzenallee wurde beim Novemberpogrom 1938 stark beschädigt. Anschließend blieb die Synagoge geschlossen. Von da ab war Rabbiner Dr. Alexander hauptsächlich im Jüdischen Krankenhaus und Jüdischen Altenheim tätig. Von 1941 bis 1943 wurden die Bewohner des Altenheims deportiert.
Rabbiner Dr. Siegfried Alexander wurde nach 19 Jahren im Wedding am 12.03.1943 mit Transport 36 nach Auschwitz deportiert, wo er wahrscheinlich auch ermordet wurde. Er überlebte den Holocaust nicht. Im Wedding/Gesundbrunnen erinnert bis heute keine Tafel an den langjährigen Seelsorger und Rabbiner.
Bildquellen: Yad Vashem – Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer; Jüdisches Museum Berlin (JMB)
Literatur: Sabine Hank, Uwe Hank, Hermann Simon (2013): Feldrabbiner in den deutschen Streitkräften des Ersten Weltkrieges, Berlin.