Die Seestraße 110 ist eine Problemimmobilie. Jahrelang wurde nichts gemacht: keine Instandhaltung, keine Sanierung, die Farbe an den Treppen löst sich langsam auf, es gibt Außenklos, einige Wohnungen haben ein Schimmelproblem, andere stehen leer. Und wohl gerade deswegen plant ein Schweizer Immobilienfonds, die Seestraße 110 zu kaufen. Was billig ist, lässt sich umso effektiver aufwerten. Die Bewohner wünschen sich nun, dass der Bezirk sein Vorkaufsrecht im Milieuschutzgebiet nutzt und eine städtische Wohnungsgesellschaft das Gebäude erwirbt. Denn das Problemhaus, so ihre Hoffnung, könnte der Schlüssel zum Vorkauf sein. Das Vorkaufsrecht wurde zwar teilweise von Gerichten kassiert, aber bei Immobilien, in denen Wohnraum leer steht oder gravierende Missstände und Mängel am Haus vorliegen, könne dies weiter angewandet werden. Die Frist verstreicht allerdings am 10. Oktober.
Ob Problem oder nicht, Hausnummer 110 oder eine andere, den Investoren und den Anlegern, die in Immobilien investieren und eine Rendite erwarten, ist es egal, wessen Zuhause sie dort kaufen. Am Ende muss das Plus im Portfolio stehen. Ein Gewissen? Fehlanzeige. Schlupflöcher im Mietrecht? Jede Menge.
Da der Wedding aber nicht nur aus Nummern und Objekten besteht, waren wir am Samstag (23.9.) beim Hoffest der Hausgemeinschaft, um mit einigen Mieterinnen und Mietern zu sprechen.
Ich wohne seit 1 ½ Jahren hier. Ich habe echt lange nach der Wohnung gesucht, was besonders schwer als alleinerziehende Mutter ist. Es war ein Schock! Was passiert jetzt, müssen wir hier raus? Immerhin ist es ein gutes Gefühl, dass sich hier so viele organisieren, auch weil alle die gleichen Sorgen haben. Und jetzt sind wir sichtbar! Ich hoffe, dass es keinen Käufer gibt, der hierin nur eine Kapitalanlage sieht. Hier stehen so viele Schicksale im Raum.
Man wird ganz schön überrollt von dem, was passiert ist. Es gibt so viele Negativbeispiele, jetzt passiert es einem selbst. Ich habe aber Hoffnung, dass das Bezirksamt reagiert. In Neukölln ist es ja gerade geglückt. Ich bin vor 2 ½ Jahren in den Seitenflügel gezogen, in eine der drei Wohnungen mit Außenklo, einfachverglasten Fenstern, mit sensationell niedriger Miete. Hier müsste so viel gemacht werden. Alleine das Einbauen von Heizungen und die Verlegung von Warmwasser, das wird aufwändig.
Das Verkaufsgerücht gab es ja schon lange. Ich habe das nicht so ernst genommen, aber als das Schreiben des Bezirks kam, habe ich mich erkundigt. Für mich stand fest, dass das Haus mit einem neuen Besitzer umgekrempelt wird. Wer übernimmt das, wenn er keine Rendite erzielen würde? Egal wer es kauft, er will auch Geld damit machen. Und das lässt uns aufhorchen. Die meisten hier haben kein Geld. Und die Aufwertung hier geht mit Verdrängung einher. Wir wohnen seit 5 Jahren im Vorderhaus, sind gut im Kiez angekommen und haben eine tolle Kita gefunden. Die Altbauwohnung ist groß, sowas finden wir nicht noch mal in Berlin.
Ich wohne zwar erst seit 24 Jahren in diesem Haus, bin aber gleich um die Ecke im Wedding mit Hilfe der Franzosen geboren. 1945, es war Ausgangssperre. Für die Entbindung lief meine hochschwangere Mutter die Müllerstraße entlang, da sahen sie französische Soldaten, nahmen sie mit in den Jeep und fuhren sie zum Paul-Gerhardt-Stift, wo ich zur Welt kam. Ich liebe die Franzosen auf ewig!
Ich habe immer in diesem Kiez gewohnt. Meine Wohnung im Vorderhaus hier ist in Ordnung. Nee, hier will ich nicht wieder raus. Ich hatte vier Herzinfarkte, mehrere Stents, aber einen Umzug überlebe ich hier nicht mehr. Ich kaufe noch allein ein, aber meine Nachbarn tragen meine Einkäufe hoch. Jetzt entwickelt sich hier eine richtige Hausgemeinschaft, wenn auch nur in der Not. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt!
Das ist hier meine dritte Wohnung, ich bin hier seit 25 Jahren, ich habe hier mein halbes Leben lang viel Arbeit reingesteckt. Ich habe erst gemerkt, dass was faul war, als ich einen Brief von der Sparkasse bekam, weil das Mietkautionskonto gekündigt war. Dann kam der Brief vom Bezirksamt, dass man einen Vorkauf prüft. Ich weiß vom Haus meiner Eltern in Neukölln, was passiert, nachdem ein Haus verkauft wird. Ich will nicht raus hier. Wir geben nicht kampflos auf.
Ich wohne hier seit 15 Jahren. Das Haus ist von 1912, baufällig, aber nicht einsturzgefährdet. Ich mag die alte Bausubstanz, aber es muss was gemacht werden. Wir haben versucht, die Schäden aufzulisten und dem Bezirk zu schicken. Die sind schon hier zur Begehung gewesen. Es gibt die Befürchtung, dass ein neuer Besitzer das Haus weiter verkommen lässt, bis es vielleicht abrissreif ist. So ein Fonds hat viel Zeit.
Die Hausgemeinschaft ist gut, wir schützen uns und kümmern uns um die älteren Bewohner. Ich habe als Kind wehrhafte Eltern erlebt, die sich auch engagiert haben. Für mich heißt es also: back to the roots!
Vom Verkauf erfahren hatte ich nur über die Nachbarn, die Verwaltung hatte sich gar nicht gemeldet. Ich hab von Anfang an gesagt, die Kiste wird verkauft, die Hauswartsfrau meinte nur, das ist alles Quatsch und wurde richtig aggressiv. Aggressiv, weil ich gesagt habe, das Ding wird verkauft und da sag ich man, erzähl mir nichts, die gehen hier alle auf den Dachboden und gucken sich den Scheiß hier an. Na klar wird hier verkauft. Und dann kam es auch so. Für mich war das jetzt keine Überraschung. Ich bleibe hier. Das wird nicht billiger, aber es ist nur eine Frage der Zeit. Wenn das Ding hier den Bach runter geht, dann bin ich weg. Ich behalte die Wohnung aber bis zum bitteren Ende.
Bis zum 10. Oktober hat der Bezirk Zeit, die Karte “Vorkaufsrecht” zu ziehen. Ephraim Gothe, SPD-Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, äußerte sich gegenüber dem Tagesspiegel: „Die Wohnungsbaugesellschaft, die für uns geprüft hat, hat einen erheblichen Zuschussbedarf“, […]”„Ansonsten sind die Mieter:innen dort durch Milieuschutz vor Modernisierung geschützt und durch den §250 BauGB vor Umwandlung. Das ist zusammen gar nicht so schlecht.” (Tagesspiegel vom 18.09.2023)
Gar nicht so schlecht… bedeutet aber auch: nicht gut. Die Mieter:innen sind misstrauisch. Lässt man das Haus weiter verfallen, lässt man Bauarbeiten so lange laufen, bis alle nervlich am Ende sind? Alles schon irgendwo mal passiert. So bleibt den Anwohnenden nur zu hoffen, dass ihre 110 bis zum 10. Oktober doch irgendwie gerettet wird. Das Haus der AmMa65 im Wedding wurde vor einigen Jahren ebenfalls von einem Investor erworben und dann ganz plötzlich an eine städtische Wohnungsbaugesellschaft verkauft. In der Kameruner/Müllerstraße sprang zuletzt eine Genossenschaft ein. Helfen kann jetzt nur die Politik, um die soziale Struktur im Wedding zu erhalten. Denn das Haus ist mehr als eine Nummer. Wie alle Häuser, in denen wir wohnen.
Vergangenen Mittwoch hat die Linksfraktion den Antrag Seestraße 110 – Mieter*innen schützen – Vorkaufsrecht nutzen! zur Abstimmung in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) eingebracht. Auf Antrag der CDU wurde dieser in den Ausschuss verschoben. Termin: nach dem 10. Oktober.
Heute um 16.30 Uhr veranstaltet die Hausgemeinschaft eine Kundgebung gegen Verdrängung aus ihrem Haus vor dem Rathaus Wedding.
Interviews: Joachim Faust, Text und Fotos: Andaras Hahn
Es wäre halt schön wenn irgendwas in der Mitte raus kommt.
Man kann sich nicht über ein zerfallenes Haus, um das sich Niemand kümmert und noch Außentoiletten hat beschweren, im seben Atemzug dann aber verlangen das nicht Modernisiert wird. Oder das Modernisiert wird und die Mieten nicht steigen sollen.
Irgendwas muss gemacht werden, sonst ist es bald eine Ruine und niemand kann mehr darin leben.
Andererseits soll es natürlich auch nicht heißen, alle Raus, gesichtslose 0815 „Aufwertung“ und dann die Mieten auf Anschlag.
Am schönsten wäre es, finde ich, wenn die Menschen selbst die Möglichkeit bekämen das Objekt zu erwerben – und sich dann um Instandhaltung und Modernsierung kümmern. (Und natürlich den Kredit abzahlen).
Da fände ich es gut wenn der Steuerzahler da zum Kreditgeber und Ermächtiger wird, nicht selbst zum Investor subventionierter Immobilien.
Mit Architekt und Tischler leben im Haus ja schon mal 2 Leute, die Ahnung von der Materie haben sollten.
Danke für diese vernünftige Einordnung, Nico.
Als erstes müsste man da ja sanieren, nach modernisieren könnte man dann gucken, wenn der Verfall gestoppt ist. Die Mieter beschweren sich über Schimmel, nicht über Außentoiletten.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute, die in so einem Haus wohnen, es sich leisten können, gleichzeitig a) laufende Kosten des Hauses zu decken, b) zu sanieren und c) einen Kredit abzuzahlen.
Wir selbst haben schon über Wohneigentum nachgedacht, mussten aber immer wieder feststellen, dass wir mit dem, was wir jetzt für die Miete ausgeben, entweder einen Kredit finanzieren oder die laufenden Ausgaben für eine Eigentumswohnung finanzieren können – beides geht einfach nicht, und das mit zwei (zugegeben untere Gehaltsstufen) ÖD-Einkommen und ohne das Problem einer Sanierung.
Unser System ist halt einfach so, dass Arbeit kein Vermögen mehr schafft – nur Vermögen schafft mehr Vermögen. Wenn Wohnungslosigkeit verhindert werden soll, muss halt die Stadt ran, Investoren werden’s nicht richten und Normalos können es sich nicht leisten.
In den Gesprächen wirkte es jetzt nicht so, dass man sich gänzlich gegen andere Mieten wehren würde. Es wird ja auch von “sensationell” niedriger Miete gesprochen. Dass das nicht haltbar/eine Ausnahme ist, ist den Leuten bewusst.
Leute die etwas können, machen auch was in ihren Wohnungen. Aber es gab auch mini (wirklich mini) Aktionen der Anwohnenden im allgemein zugänglichen Teil des Hauses, die sofort eingestellt wurden mussten.
Und am Ende ist es halt die Angst und Erfahrungen aus anderen Häusern. Wird etwas saniert, saniert man die Leute raus, weil hier und da mal eine Wasserleitung platzt, etc.
Hinzu kommt: Die Frage ob die Hausgemeinschaft kaufen darf/soll/kann ist ja gar nicht mehr gegeben. Der Fonds wartet an sich nur, bis die Frist für den Bezirk abläuft. Es gab also schon laaaange vorher Gespräche und es fehlt nur noch die Überweisung. Warum der Eigentümer nicht mal einfach anklopft, anfragt etc. Wer weiß das schon.