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Eine Hausgemeinschaft wehrt sich:
Seestraße 110 – Notruf an die Politik

25. September 2023
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Die See­stra­ße 110 ist eine Pro­blem­im­mo­bi­lie. Jah­re­lang wur­de nichts gemacht: kei­ne Instand­hal­tung, kei­ne Sanie­rung, die Far­be an den Trep­pen löst sich lang­sam auf, es gibt Außen­klos, eini­ge Woh­nun­gen haben ein Schim­mel­pro­blem, ande­re ste­hen leer. Und wohl gera­de des­we­gen plant ein Schwei­zer Immo­bi­li­en­fonds, die See­stra­ße 110 zu kau­fen. Was bil­lig ist, lässt sich umso effek­ti­ver auf­wer­ten. Die Bewoh­ner wün­schen sich nun, dass der Bezirk sein Vor­kaufs­recht im Milieu­schutz­ge­biet nutzt und eine städ­ti­sche Woh­nungs­ge­sell­schaft das Gebäu­de erwirbt. Denn das Pro­blem­haus, so ihre Hoff­nung, könn­te der Schlüs­sel zum Vor­kauf sein. Das Vor­kaufs­recht wur­de zwar teil­wei­se von Gerich­ten kas­siert, aber bei Immo­bi­li­en, in denen Wohn­raum leer steht oder gra­vie­ren­de Miss­stän­de und Män­gel am Haus vor­lie­gen, kön­ne dies wei­ter ange­wan­det wer­den. Die Frist ver­streicht aller­dings am 10. Oktober.

Ob Pro­blem oder nicht, Haus­num­mer 110 oder eine ande­re, den Inves­to­ren und den Anle­gern, die in Immo­bi­li­en inves­tie­ren und eine Ren­di­te erwar­ten, ist es egal, wes­sen Zuhau­se sie dort kau­fen. Am Ende muss das Plus im Port­fo­lio ste­hen. Ein Gewis­sen? Fehl­an­zei­ge. Schlupf­lö­cher im Miet­recht? Jede Men­ge.
Da der Wed­ding aber nicht nur aus Num­mern und Objek­ten besteht, waren wir am Sams­tag (23.9.) beim Hof­fest der Haus­ge­mein­schaft, um mit eini­gen Mie­te­rin­nen und Mie­tern zu sprechen.

Fotos: Andar­as Hahn

Ich woh­ne seit 1 ½ Jah­ren hier. Ich habe echt lan­ge nach der Woh­nung gesucht, was beson­ders schwer als allein­er­zie­hen­de Mut­ter ist. Es war ein Schock! Was pas­siert jetzt, müs­sen wir hier raus? Immer­hin ist es ein gutes Gefühl, dass sich hier so vie­le orga­ni­sie­ren, auch weil alle die glei­chen Sor­gen haben. Und jetzt sind wir sicht­bar! Ich hof­fe, dass es kei­nen Käu­fer gibt, der hier­in nur eine Kapi­tal­an­la­ge sieht. Hier ste­hen so vie­le Schick­sa­le im Raum.


Man wird ganz schön über­rollt von dem, was pas­siert ist. Es gibt so vie­le Nega­tiv­bei­spie­le, jetzt pas­siert es einem selbst. Ich habe aber Hoff­nung, dass das Bezirks­amt reagiert. In Neu­kölln ist es ja gera­de geglückt. Ich bin vor 2 ½ Jah­ren in den Sei­ten­flü­gel gezo­gen, in eine der drei Woh­nun­gen mit Außen­klo, ein­fach­ver­glas­ten Fens­tern, mit sen­sa­tio­nell nied­ri­ger Mie­te. Hier müss­te so viel gemacht wer­den. Allei­ne das Ein­bau­en von Hei­zun­gen und die Ver­le­gung von Warm­was­ser, das wird auf­wän­dig.


Das Ver­kaufs­ge­rücht gab es ja schon lan­ge. Ich habe das nicht so ernst genom­men, aber als das Schrei­ben des Bezirks kam, habe ich mich erkun­digt. Für mich stand fest, dass das Haus mit einem neu­en Besit­zer umge­krem­pelt wird. Wer über­nimmt das, wenn er kei­ne Ren­di­te erzie­len wür­de? Egal wer es kauft, er will auch Geld damit machen. Und das lässt uns auf­hor­chen. Die meis­ten hier haben kein Geld. Und die Auf­wer­tung hier geht mit Ver­drän­gung ein­her. Wir woh­nen seit 5 Jah­ren im Vor­der­haus, sind gut im Kiez ange­kom­men und haben eine tol­le Kita gefun­den. Die Alt­bau­woh­nung ist groß, sowas fin­den wir nicht noch mal in Berlin.


Ich woh­ne zwar erst seit 24 Jah­ren in die­sem Haus, bin aber gleich um die Ecke im Wed­ding mit Hil­fe der Fran­zo­sen gebo­ren. 1945, es war Aus­gangs­sper­re. Für die Ent­bin­dung lief mei­ne hoch­schwan­ge­re Mut­ter die Mül­lerstra­ße ent­lang, da sahen sie fran­zö­si­sche Sol­da­ten, nah­men sie mit in den Jeep und fuh­ren sie zum Paul-Ger­hardt-Stift, wo ich zur Welt kam. Ich lie­be die Fran­zo­sen auf ewig! 

Ich habe immer in die­sem Kiez gewohnt. Mei­ne Woh­nung im Vor­der­haus hier ist in Ord­nung. Nee, hier will ich nicht wie­der raus. Ich hat­te vier Herz­in­fark­te, meh­re­re Stents, aber einen Umzug über­le­be ich hier nicht mehr. Ich kau­fe noch allein ein, aber mei­ne Nach­barn tra­gen mei­ne Ein­käu­fe hoch. Jetzt ent­wi­ckelt sich hier eine rich­ti­ge Haus­ge­mein­schaft, wenn auch nur in der Not. Aber die Hoff­nung stirbt zuletzt! 


Das ist hier mei­ne drit­te Woh­nung, ich bin hier seit 25 Jah­ren, ich habe hier mein hal­bes Leben lang viel Arbeit rein­ge­steckt. Ich habe erst gemerkt, dass was faul war, als ich einen Brief von der Spar­kas­se bekam, weil das Miet­kau­ti­ons­kon­to gekün­digt war. Dann kam der Brief vom Bezirks­amt, dass man einen Vor­kauf prüft. Ich weiß vom Haus mei­ner Eltern in Neu­kölln, was pas­siert, nach­dem ein Haus ver­kauft wird. Ich will nicht raus hier. Wir geben nicht kampf­los auf.


Ich woh­ne hier seit 15 Jah­ren. Das Haus ist von 1912, bau­fäl­lig, aber nicht ein­sturz­ge­fähr­det. Ich mag die alte Bau­sub­stanz, aber es muss was gemacht wer­den. Wir haben ver­sucht, die Schä­den auf­zu­lis­ten und dem Bezirk zu schi­cken. Die sind schon hier zur Bege­hung gewe­sen. Es gibt die Befürch­tung, dass ein neu­er Besit­zer das Haus wei­ter ver­kom­men lässt, bis es viel­leicht abriss­reif ist. So ein Fonds hat viel Zeit.

Die Haus­ge­mein­schaft ist gut, wir schüt­zen uns und küm­mern uns um die älte­ren Bewoh­ner. Ich habe als Kind wehr­haf­te Eltern erlebt, die sich auch enga­giert haben. Für mich heißt es also: back to the roots!


Vom Ver­kauf erfah­ren hat­te ich nur über die Nach­barn, die Ver­wal­tung hat­te sich gar nicht gemel­det. Ich hab von Anfang an gesagt, die Kis­te wird ver­kauft, die Haus­warts­frau mein­te nur, das ist alles Quatsch und wur­de rich­tig aggres­siv. Aggres­siv, weil ich gesagt habe, das Ding wird ver­kauft und da sag ich man, erzähl mir nichts, die gehen hier alle auf den Dach­bo­den und gucken sich den Scheiß hier an. Na klar wird hier ver­kauft. Und dann kam es auch so. Für mich war das jetzt kei­ne Über­ra­schung. Ich blei­be hier. Das wird nicht bil­li­ger, aber es ist nur eine Fra­ge der Zeit. Wenn das Ding hier den Bach run­ter geht, dann bin ich weg. Ich behal­te die Woh­nung aber bis zum bit­te­ren Ende.


Bis zum 10. Okto­ber hat der Bezirk Zeit, die Kar­te “Vor­kaufs­recht” zu zie­hen. Ephra­im Gothe, SPD-Bezirks­stadt­rat für Stadt­ent­wick­lung, äußer­te sich gegen­über dem Tages­spie­gel: „Die Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft, die für uns geprüft hat, hat einen erheb­li­chen Zuschuss­be­darf“, […]”„Ansons­ten sind die Mieter:innen dort durch Milieu­schutz vor Moder­ni­sie­rung geschützt und durch den §250 BauGB vor Umwand­lung. Das ist zusam­men gar nicht so schlecht.” (Tages­spie­gel vom 18.09.2023)

Gar nicht so schlecht… bedeu­tet aber auch: nicht gut. Die Mieter:innen sind miss­trau­isch. Lässt man das Haus wei­ter ver­fal­len, lässt man Bau­ar­bei­ten so lan­ge lau­fen, bis alle nerv­lich am Ende sind? Alles schon irgend­wo mal pas­siert. So bleibt den Anwoh­nen­den nur zu hof­fen, dass ihre 110 bis zum 10. Okto­ber doch irgend­wie geret­tet wird. Das Haus der AmMa65 im Wed­ding wur­de vor eini­gen Jah­ren eben­falls von einem Inves­tor erwor­ben und dann ganz plötz­lich an eine städ­ti­sche Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft ver­kauft. In der Kameruner/Müllerstraße sprang zuletzt eine Genos­sen­schaft ein. Hel­fen kann jetzt nur die Poli­tik, um die sozia­le Struk­tur im Wed­ding zu erhal­ten. Denn das Haus ist mehr als eine Num­mer. Wie alle Häu­ser, in denen wir wohnen.

Ver­gan­ge­nen Mitt­woch hat die Links­frak­ti­on den Antrag See­stra­ße 110 – Mieter*innen schüt­zen – Vor­kaufs­recht nut­zen! zur Abstim­mung in die Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung (BVV) ein­ge­bracht. Auf Antrag der CDU wur­de die­ser in den Aus­schuss ver­scho­ben. Ter­min: nach dem 10. Oktober.

Heu­te um 16.30 Uhr ver­an­stal­tet die Haus­ge­mein­schaft eine Kund­ge­bung gegen Ver­drän­gung aus ihrem Haus vor dem Rat­haus Wed­ding.

Inter­views: Joa­chim Faust, Text und Fotos: Andar­as Hahn

Andaras Hahn

Andaras Hahn ist seit 2010 Weddinger. Er kommt eigentlich aus Mecklenburg-Vorpommern. Schreibt assoziativ, weiß aber nicht, was das heißt und ob das gut ist. Macht manchmal Fotos: @siehs_mal
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Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

4 Comments Leave a Reply

  1. Es wäre halt schön wenn irgend­was in der Mit­te raus kommt.
    Man kann sich nicht über ein zer­fal­le­nes Haus, um das sich Nie­mand küm­mert und noch Außen­toi­let­ten hat beschwe­ren, im seben Atem­zug dann aber ver­lan­gen das nicht Moder­ni­siert wird. Oder das Moder­ni­siert wird und die Mie­ten nicht stei­gen sollen.
    Irgend­was muss gemacht wer­den, sonst ist es bald eine Rui­ne und nie­mand kann mehr dar­in leben.
    Ande­rer­seits soll es natür­lich auch nicht hei­ßen, alle Raus, gesichts­lo­se 0815 „Auf­wer­tung“ und dann die Mie­ten auf Anschlag.
    Am schöns­ten wäre es, fin­de ich, wenn die Men­schen selbst die Mög­lich­keit bekä­men das Objekt zu erwer­ben – und sich dann um Instand­hal­tung und Modern­sie­rung küm­mern. (Und natür­lich den Kre­dit abzahlen).
    Da fän­de ich es gut wenn der Steu­er­zah­ler da zum Kre­dit­ge­ber und Ermäch­ti­ger wird, nicht selbst zum Inves­tor sub­ven­tio­nier­ter Immobilien.
    Mit Archi­tekt und Tisch­ler leben im Haus ja schon mal 2 Leu­te, die Ahnung von der Mate­rie haben sollten.

    • Als ers­tes müss­te man da ja sanie­ren, nach moder­ni­sie­ren könn­te man dann gucken, wenn der Ver­fall gestoppt ist. Die Mie­ter beschwe­ren sich über Schim­mel, nicht über Außentoiletten.
      Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass Leu­te, die in so einem Haus woh­nen, es sich leis­ten kön­nen, gleich­zei­tig a) lau­fen­de Kos­ten des Hau­ses zu decken, b) zu sanie­ren und c) einen Kre­dit abzuzahlen. 

      Wir selbst haben schon über Wohn­ei­gen­tum nach­ge­dacht, muss­ten aber immer wie­der fest­stel­len, dass wir mit dem, was wir jetzt für die Mie­te aus­ge­ben, ent­we­der einen Kre­dit finan­zie­ren oder die lau­fen­den Aus­ga­ben für eine Eigen­tums­woh­nung finan­zie­ren kön­nen – bei­des geht ein­fach nicht, und das mit zwei (zuge­ge­ben unte­re Gehalts­stu­fen) ÖD-Ein­kom­men und ohne das Pro­blem einer Sanierung. 

      Unser Sys­tem ist halt ein­fach so, dass Arbeit kein Ver­mö­gen mehr schafft – nur Ver­mö­gen schafft mehr Ver­mö­gen. Wenn Woh­nungs­lo­sig­keit ver­hin­dert wer­den soll, muss halt die Stadt ran, Inves­to­ren werden’s nicht rich­ten und Nor­ma­los kön­nen es sich nicht leisten.

    • In den Gesprä­chen wirk­te es jetzt nicht so, dass man sich gänz­lich gegen ande­re Mie­ten weh­ren wür­de. Es wird ja auch von “sen­sa­tio­nell” nied­ri­ger Mie­te gespro­chen. Dass das nicht haltbar/eine Aus­nah­me ist, ist den Leu­ten bewusst.

      Leu­te die etwas kön­nen, machen auch was in ihren Woh­nun­gen. Aber es gab auch mini (wirk­lich mini) Aktio­nen der Anwoh­nen­den im all­ge­mein zugäng­li­chen Teil des Hau­ses, die sofort ein­ge­stellt wur­den mussten.

      Und am Ende ist es halt die Angst und Erfah­run­gen aus ande­ren Häu­sern. Wird etwas saniert, saniert man die Leu­te raus, weil hier und da mal eine Was­ser­lei­tung platzt, etc.

      Hin­zu kommt: Die Fra­ge ob die Haus­ge­mein­schaft kau­fen darf/soll/kann ist ja gar nicht mehr gege­ben. Der Fonds war­tet an sich nur, bis die Frist für den Bezirk abläuft. Es gab also schon laaaan­ge vor­her Gesprä­che und es fehlt nur noch die Über­wei­sung. War­um der Eigen­tü­mer nicht mal ein­fach anklopft, anfragt etc. Wer weiß das schon.

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