In der Mitte des 19. Jahrhunderts lag der Wedding noch weit außerhalb, aber die Dynamik der Gründerzeit ließ Berlin aus allen Nähten platzen. Im Jahr 1880 hatte die noch junge kaiserliche Reichshauptstadt 1,1 Millionen Einwohner und 25 Jahre später bereits etwas mehr als 2 Millionen. Damals wurde der Wedding als Spekulationsobjekt und neue Heimat entdeckt. Auch in der Prinzenallee 58 begann mit der Hutfabrik Gattel ein neues Kapitel.
Hutfabrik Gattel
Foto: Andaras Hahn
Auf in den Wedding! Hier dreht sich alles um Hüte
Die jüdische Familie Gattel gehörte in Berlin schnell zu den etablierten Unternehmen für Hüte aus Wollfilz und Stroh. Nachweislich gab es 1870 ein Ladenlokal in der Linienstraße und in der Neuen Königstraße 31 die eigene Wollfilz- u. Strohhutfabrik. Die Gründerzeit wurde auch für das Familienunternehmen Gattel ein Goldenes Zeitalter, denn in den späten 1880er Jahren startete sie einen mutigen Neuanfang im Wedding. Nahezu zeitgleich und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Tresorfabrik Arnheim entstand an der Prinzenallee 58 die neue Hutfabrik der Gattels mitsamt repräsentativen straßenseitigen Wohnhaus und einem Privatgarten bis zur Panke.
Prinzenallee Wohnhaus um 1910
Quelle: Anni Wolff: Schliesslich waren wir jung und lebenslustig, (1993), S. 46.
Der Architekt Georg Lewy plant für die Gattels ein Wohn-Fabrik-Ensemble
Der jüdische Architekt Georg Lewy, Regierungsbaumeister seit 1881, wurde von der Familie Gattel mit dem Gesamtkomplex an der Prinzenallee beauftragt. Er reichte am 16.11.1889 den Bauantrag ein. Im Eiltempo entstanden in den kommenden zwei Jahren die neue Hutfabrik mit Hof, ein weiterer Hof mit niedrigen Nebengebäuden und das Wohnhaus an der Prinzenallee mitsamt Seitenflügel mit 4 oder 5 kleinen Angestellten-Wohnungen. Hinzu kam die neueste Technik, denn Dampf, Wärme und Feuchtigkeit sind für die Herstellung von Wollfilzhüten unverzichtbar. Und unten an der Panke ließen die Gattels eine Laube und eine Kegelbahn errichten. Am 4. September 1891 wurden die Kessel angeheizt und die Produktion gestartet. Das Familienunternehmen beschäftigte im Wedding bis zu 175 Angestellte.
Georg Lewy Entwurf Brückenstr.
Ein vielseitiger Baumeister
Nahezu zeitgleich entstand nach Lewys Plänen ein prachtvolles Wohnhaus im aufstrebenden Hansa-Viertel in der Brückenstraße 33 (1891−1892), wo später der deutsch-jüdische Grafiker und Maler Hermann Struck wohnte. Bekannt ist Lewy vor allem für das Jugendstil-Geschäftshaus Tietz in der Klosterstraße von 1904-06, aber auch für Fabriken/Gewerbehöfe wie z. B. in der Oranienstraße 6 oder Holzmarktstraße 67 (Geschäftsbücher-Fabrik Riefenstahl, Zumpe & Co. von 1887). In der Prinzenallee konnte er sein Interesse und Können sowohl im hochherrschaftlichen Wohnbau als auch für zeitgenössische Industriearchitektur umsetzen. Diese Vielfalt macht das Ensemble im Wedding so besonders.
Tür & Tor: Eingang
Fotos: Andaras Hahn
Opulente Gründerzeit und Industrial Flair
Die neue Hutfabrik der Gattels (heute bekannt als PA 58) lag verborgen hinter dem prachtvollen Wohnhaus zur Prinzenallee. Nur ein seitliches schmiedeeisernes Tor und die täglichen Arbeiter ließen die Nutzung der hofseitigen Gebäude erahnen. Der Architekt Georg Lewy wählte für die straßenseitige Fassade Formen der italienischen Renaissance. Entsprechend des beliebtes Stil-Mixes im Historismus entstand eine Fantasiearchitektur, die in erster Linie dem Betrachter gefallen und die gewünschte Wirkung erzielen sollte.
Fassade Prinzenallee
Foto: Andaras Hahn
Italienische Renaissance an der Prinzenallee
Lewy gliederte die verputzte, monochrome Hauptfassade an der Prinzenallee mit horizontaler Bandrustika in eine zweigeschossige Sockelzone mit seitlichem Portal und Rundbogenfenstern sowie einer wehrhafter Rustizierung. Darüber die fast schlossartigen beiden Etagen und abschließend ein Gesims mitsamt Balustrade (heute nicht mehr vorhanden). So gelang es dem Architekten, dass das Gebäude nach oben hin leichter und filigraner wirkte, wenngleich die Fensterverdachungen in den oberen Etagen und der hervortretende doppelgeschossige Erker mit reichem Stuck zugleich opulent und elegant ist. Säulen, Muscheln und Plastiken schmücken die großen Erkerfenster. Nahezu unsichtbar ist die 4. Etage, denn nur ein Segmentbogen-Fenster hinter dem obersten Dreiecksgiebel des Erkers verrät ihre Existenz.
Insgesamt bezieht sich die Fassade auf italienische Vorbilder und ist für die Gegend als eher ungewöhnlich zu bewerten. Der starke Ausdruck, die hohe Plastizität und die gesamtkünstlerische Komposition lassen sich mit dem legendären Riehmers Hofgarten (1880−1899) in Berlin-Kreuzberg vergleichen. Im inneren gab es holzvertäfelte Räume, Marmor im Eingangsbereich und üppige Wandmalerei im Treppenhaus.
Hutfabrik Innenhof
Foto: Andaras Hahn
Ein Herz aus gelbem Klinker
An das Wohnhaus schloss rückseitig ein Seitenflügel an (heute nicht mehr vollständig vorhanden), während die Fabrikgebäude davon losgelöst sich hintereinander um zwei Höfe gruppierten. Der große Abstand zum Wohnhaus könnte aufgrund von Brandbestimmungen notwendig gewesen sein. Im Gegensatz zum Haupthaus ist die Fabrik in sichtbaren gelben Klinker ausgeführt. Der strenge viergeschossige Bau erhielt eine symmetrische Fassade. Vertikale und horizontale Band-Elemente und Gesimse gliedern ebenso wie beim Wohnhaus das Bauwerk in eine Sockelzone, die beiden Hauptetagen und ein abschließendes Mezzaningeschoss. Die großen Fenster (heute im oberen Bereich geschlossen) erhielten einen hellen Schlussstein im Scheitelpunkt und eine kleine Segmentbogenverdachung. Lewys klassisches Architekturverständnis kommt wiederum beim Mezzaningeschoss zum Ausdruck, wo zwei schmale Fenster die gleiche Breite wie ein großes Fenster der darunterliegenden Etagen einnehmen. Auch sind die Fenster wesentlich niedriger. So entsteht der Eindruck, als würde die oberste Etage aus der Fassadenflucht zurücktreten. Durch den seitlichen Zugang wird der Innenhof betreten, welcher weder als strenges Quadrat noch als Rechteck beschrieben werden kann, denn an einer Stelle tritt ein Treppenaufgang hervor, ein anderer Treppenaufgang unterbricht wie ein eigenständiges Gestaltungselement die ansonsten nahezu gleichen Fassaden. Lewy bricht im Innenhof aus der Symmetrie aus und schafft mit einfachsten Mitteln einen fast bewegten Eindruck. Auch die Beschränkung auf gelben Klinker macht den Unterschied zwischen außen und innen deutlich. Zeittypisch für den Fabrikbau sind hingegen die gemauerten Außenwände, Stahlstützen im Inneren und preußische Kappendecken.
Hutfabrik Gartenseiten
Foto: Andaras Hahn
Im Garten der Gattels
Es schloss ein weiterer Hof an, um den sich sukzessive niedrige Gebäude gruppierten wie z.B. die Färberei und das Kesselhaus. Am Ende führte ein Gang in die grüne Oase der Familie Gattel, denn bis hinunter zum Panke-Ufer erstreckte sich der Privatgarten mit großen Rasenflächen, Gartenhaus, lauschigen Sitzecken und schönen Ziergehölzen. Hier verbrachte die Familie die Wochenenden und spielten die Kinder. Für die Gattels fand das Leben zwischen Prinzenallee und Panke statt. Auf engstem Raum konnte der Gegensatz zwischen moderner Hutfabrik mit einer effizienten Arbeitsteilung und ruhigem Garten kaum größer sein.
Nach 4 Jahrzehnten stehen die Maschinen still
1931 wurde die Produktion in der Hutfabrik Gattel eingestellt, denn das Unternehmen war in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten geraten. Noch in den 1930er Jahren wurde die Hutfabrik zu Wohnzwecken mit Kleinstwohnungen umgenutzt. Die hohen Fenster mit Einfachverglasung wurden im oberen Bereich zugemauert und auch heute erschließt sich nicht die einstige Leichtigkeit. Später wurde der Privatgarten zum öffentlichen Spielplatz entlang der Panke, denn nur die eigentliche Hutfabrik und das Wohnhaus mit kurzem Seitenflügel blieben bis heute stehen.
Ella und Richard Gattel im Garten (ca. 1910)
Quelle: Yad Vashem
Abschied vom Wedding
Die Adresse Prinzenallee 58 war über viele Jahrzehnte mit der jüdischen Familie Gattel verbunden, denn die drei Brüder und Firmengründer Borchard, Moritz und Leo Gattel sowie später die beiden Söhne von Borchard Gattel, Max und Richard (Jehuda), bewohnten mit ihren Familien die großen Etagenwohnungen an der Prinzenallee.
Die Hitler-Diktatur reißt die Familie auseinander. Es emigrieren die Schwestern Lotte und Anni Gattel nach Palästina (Israel), während ihre Eltern Ella (*23.7.1884, +15.3.1944) und Richard (*3.6.1870, +29.1.1943) im KZ Theresienstadt ermordet wurden. Von seinem Bruder Max und seiner Frau Anneliese fehlte wohl jede Spur – jüngste Quellen (Bundesarchiv) geben an, dass beide am 5.9.1942 von Berlin nach Riga deportiert wurden und am 8.9.1942 starben. Ihre Tochter Inge emigrierte nach England. Borchard Gattel hatte noch drei Töchter, Ella (*28.12.1883, +21.12.1942), Lucie (*20.2.1882, +30.08.1942) und Claire, wovon Claire in jungen Jahren stirbt. Ella und Lucy nahmen sich vor der Deportation das Leben. Überliefert wurde, dass Ella im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße arbeitete. Sie war Laborantin.
Rückseite Prinzenallee
Foto: Andaras Hahn
Georg Lewy und die Gattels schufen im Wedding etwas einzigartiges
Die Hutfabrik Gattel steht heute als ein Solitär umgeben von Grünflächen, Garten der Bewohner PA 58 und Spielplatz, was nicht dem ursprünglichen Umfeld entspricht. Es war wesentlich enger bebaut. Architektonisch muss das Gebäudeensemble an der Prinzenallee insofern als eine Besonderheit eingestuft werden, als das es aus drei Bereichen bestand: dem Wohnhaus, die Fabrik und den Privatgarten der Gattels bis zur Panke – er nahm nahezu die gleiche Fläche ein wie die Fabrikgebäude. Dies war eine außergewöhnliche Kombination, wenngleich der Architekt Georg Lewy genau auf diese Bauaufgaben spezialisiert war. Auch die Verbindung der Familie Gattel zum Wohnhaus und dem gesamten Komplex dürfte etwas ganz besonderes gewesen sein.
Wo sollen wir als nächstes auf Spurensuche gehen? Lassen Sie gerne einen Kommentar dar. Wir freuen uns über Anregungen!
Sehr geehrter Herr Schmidt, vielen Dank für Ihre Aufsätze und nun das Buch “Bittersweet”. Inzwischen ist das Grab der Gattels auf dem großen Jüdischen Friedhof in Weißensee wieder hergerichtet. Gern ein Treffen vor Ort. Hätte auch etwas Post von 1910 und 1919 dabei. Herzlich KD L. Ehmke, Cross Roads – Berlin mit anderen Augen
Einen schönen Sonntag Carsten Schmidt,
es ist erfreulich, dass sich Menschen um die Aufklärung bzw. Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse kümmern. Durch Ihr Buch lässt sich eine bisher offene Seite meiner Biografie aufschlagen. Ich recherchiere nach Vorfahren und Verwandten meiner Familie RICHTER / GORSCHINIAK in Berlin. Frau Helene Richter hat vom 24.02.1936 bis 27.03. 1936 in einer Hutfabrik gearbeitet. Art der Beschäftigung: Arbeiterin. In ihrem Arbeitsbuch wird die Arbeitsstelle bei Antritt angegeben mit: M. W. Arthur Müller vorm. Max Hirsch Hutfabrik Berlin SW 19. Mit dem Tag ihrer Beendigung der Beschäftigung hat der Unternehmer M. W. Arthur Müller dies mit seiner Unterschrift bestätigt.
Handelt es sich um die Hutfabrik Max GATTEL, obwohl der Firmenstempel mit “Max Hirsch” bezeichnet wurde?
Für Ihre Bemühungen und eine Antwort auf meine Frage bedanke ich mich bereits jetzt.
Mit freundlichen Grüßen
Heidrun Hüchtebrock, geb. Richter
Liebe Frau Hüchtebrock, vielen herzlichen Dank für die Nachricht und thematische Anfrage. Es gibt mehrere Hinweise, dass es sich nicht um die Hutfabrik Gattel handelt. Aufgrund der von Ihnen mitgeteilten Angaben konnte ich im Branchenbuch 1934 ermitteln, dass die Hutfabrik Max Hirsch sich in der Kommandantenstraße 77⁄78 befand. Die Angabe SW19 weist daraufhin, dass es der Zustellbereich Südwest war – also ungefähr Steglitz-Zehlendorf. Es gab und gibt in Lichterfelde eine Kommandantenstraße. Zur weiteren Recherche empfehle ich Ihnen den Heimatverein Steglitz e.V. in der Drakestraße 64A zu kontaktieren. Viel Erfolg, Carsten Schmidt
Einen schönen Guten Tag Carsten Schmidt,
ich bin auf der Suche nach einem Hutgeschäft, dass es in den 1930er Jahren in der Maxstraße gab, geführt von einer Frau Schlüter.
Frau Schlüter half meinem Großvater, dem Künstler Otto Nagel, als er nach 1933 von den Nazis verfolgt wurde mit kleinen Päckchen vor die Tür gelegt. Otto Nagel lebte mit seiner Frau Walentina Nagel ab 1935 in der Badstraße 65.
Danke Salka-Valka Schallenberg
Hallo Frau Schallenberg, wir haben Ihre Anfrage an unseren Autoren weitergereicht. Viele Grüße: Domini
Hallo Frau Schallenberg, wir haben Ihre Anfrage an unseren Autoren weitergereicht. Viele Grüße: Dominique Hensel
Hallo Maximilian, die Publikation wurde als Quelle beim Gebäudefoto (Fassade 1910) auch genannt. Für alle Interessierte: Die Publikation mit starken persönlichen Erinnerungen ist kostenfrei digital verfügbar. Teilweise weichen die Erinnerungen von Archivunterlagen ab.
infos zur Familie Gattel:
Anni Wolf, Schliesslich waren wir alle jung und lebenslustig. Erinnerungen: von Berlin nach Israel, Schriftenreihe Wedding 1993 (Verlag Mackensen)
Hallo Maximilian, die Publikation wurde als Quelle beim Gebäudefoto (Fassade 1910) auch genannt. Für alle Interessierte: Die Publikation mit vielen persönlichen Erinnerungen ist kostenfrei digital verfügbar. Teilweise weichen die Erinnerungen von Archivunterlagen ab.
Hallo Carsten,
ich habe den Beitrag sehr gerne gelesen und werde heute einen Spaziergang zur Prinzenallee 58 unternehmen. Selbst als Ur-Weddingerin kannte ich diese Geschichte nicht.
Ich fände einen Beitrag über den Schillerpark, seine Entstehung, seine Nutzun über die Zeit und das Schillerdenkmal interessant 🙂
Einen schönen sonnigen Tag von Susanne
Liebe Susanne, dazu haben wir schon einiges, z.B.: https://weddingweiser.de/den-schillerpark-entdecken/ https://weddingweiser.de/kuriose-geschichte-dreier-denkmaeler/
Viele Grüße
Ich meinte nicht nur die Geschichte des Denkmals, Joachim, sondern die des Parks. Ich bin immer sehr begeistert, wie gut Carsten recherchiert.
Ein schönen Wochenende wünscht dir Susanne
Der gepflasterte Garten kann übrigens von allem Menschen genutzt werden. Er liegt zwar hinterm Haus, gehört aber dem Grünflächenamt 🙂
Ein toller Ort zum entspannend!
Vielen Dank für diese tollen Tipp. Eine schöne erste Frühlingswoche in der Prinzenallee 58!
Wieder ein gelungener Beitrag zur Heimatgeschichte,wann kommt das Buch?
Sehr geehrter Herr Malinowski, herzlichen Dank für das Feedback. Bislang gibt es noch keinen Verlag für ein Buchprojekt über die Vielfalt jüdischen Lebens im Wedding. Vielleicht ändert es sich noch 😉 Wir würden uns sehr freuen!