Der jüngst erschienene Roman des Weddinger Autors Paul Bokowski heißt Schlesenburg und nicht Schlesierburg. Dabei wäre Schlesien als erster Teil des zusammengesetzten Substantivs auch treffend. Denn in dem fiktiven Stadtteil Schlesenburg, in dem der Roman spielt, wohnen jene, die in den 1980er Jahren aus Polen geflüchtet sind. Schlesische Ortsnamen wie Opole, Katowice oder Legnica schwirren durch die Buchseiten.
Und nicht zuletzt hat der Autor die Trabantenstadt Schlesenburg an den Breslauer Ring gebaut. Der zweite Wortteil des Titels – die Burg – ist ebenfalls gut gewählt. Der Roman spielt nicht auf einem hohen Berg, sondern in einer massiven Burg; die Stimmung im Roman ist nicht vergleichbar mit der eines Wanderers, der die Freiheit der Gipfelluft atmet und über den Dingen steht. In dem Roman riecht es nach schweren Mauern. Und auch wenn die Leute das Asylbewerberlager – kurz das Lager – hinter sich gelassen haben, leben sie in der Schlesenburg wie hinter einem Belagerungsring. Auf sich gestellt, als Schicksalsgemeinschaft, abgeschnitten von der Außenwelt.
Beim ersten Lesen wirkt Schlesenburg wie eine Autobiographie. Wie Kindheitserinnerungen, direkt aus dem Gedächtnis aufgeschrieben. Manchmal denkt der Leser, darf der Paul Bokowski so viel über seine Familie verraten? Was sagt der Papa dazu? Es wirkt alles sehr ehrlich, offen, authentisch, dieser Bericht über eine Kindheit in einer westdeutschen, mittelgroßen Stadt im Ausländerviertel. Man ertappt sich dabei, dass man in einem Stadtplan von Mainz nachschauen will, welche Ecke der 1982 dort geborene Autor wohl meint. Aber spätestens beim zweiten Lesen kehrt der Blick zurück zwischen die Zeilen auf die eigentliche Hauptfigur: die Schlesenburg, dem erdachten Stadtteil. Die Figuren füllen den Ort nur, sie sind nicht die, um die es in Wahrheit in dem Roman geht. Der Roman ist kein entwendetes und heimlich veröffentlichtes Tagebuch. Er beschreibt das Lebensgefühl am schlechteren Stadtrand.
Die Burgbewohner leben auf eigenartige Weise zusammen. Es ist eine Mischung aus Zusammenhalt und Isolation. Das neunjährige Kind, aus dessen Perspektive die Erinnerungen erzählt werden, ist seinen Eltern natürlich ganz nah – und gleichzeitig gibt es unüberwindbare Gräben, Geheimnisse, Trennlinien. In der Nachbarschaft geht dieses Doppelspiel weiter. Die Kinder spielen zusammen und stänkern sich gleichzeitig. Und auch die Erwachsenen helfen sich beim Renovieren, beim Tragen schwerer Möbel – trotz allem, das zwischendurch an brutalen Dingen geschieht. Sie sind gleichzeitig freundlich und gehässig. Nur eines ist klar und niemals zweideutig: Kontakt zu den Menschen außerhalb der Burg, den gibt es nicht. In Summe: kein sensationsgierig brutales Buch über ein Ausländerviertel, aber doch lebenshart.
Lesetipp am Rande: Ungewöhnlich ist, wie viel Sorgfalt Paul Bokowski auf die Beschreibung der Düfte und Gerüche legt. Gewissermaßen ein Alleinstellungsmerkmal in der Sprache der Manager.
Paul Bokowski ist bekannt für komische Texte, die er in Büchern versammelt wie „Alleine ist man weniger zusammen‟, „Hauptsache nichts mit Menschen‟ oder „Bitte nehmen Sie meine Hand da weg‟. Ein Hauch Traurigkeit – Eigenbeschreibung: Autor misanthropischer Standardwerke – schwingt auch in diesen Büchern mit. Im Romane ist es umgekehrt: Ein Hauch Komik weht auch durch „Schlesenburg‟. Der Roman ist Paul Bokowskis erster Großtext, ist als Hardcover am 14. September erschienen und kostet 22 Euro.
Der Text ist eine längere Version eines Abdrucks in der Weddinger Allgemeinen Zeitung (–> E‑Paper), der gedruckten Zeitung für den Wedding. Autor ist Andrei Schnell. Wir danken dem RAZ-Verlag!