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Weddingliteratur:
Paul Bokowski lebenshartes Romandebüt

13. Oktober 2022

Der jüngst erschie­ne­ne Roman des Wed­din­ger Autors Paul Bokow­ski heißt Schle­sen­burg und nicht Schle­si­er­burg. Dabei wäre Schle­si­en als ers­ter Teil des zusam­men­ge­setz­ten Sub­stan­tivs auch tref­fend. Denn in dem fik­ti­ven Stadt­teil Schle­sen­burg, in dem der Roman spielt, woh­nen jene, die in den 1980er Jah­ren aus Polen geflüch­tet sind. Schle­si­sche Orts­na­men wie Opo­le, Katow­ice oder Leg­ni­ca schwir­ren durch die Buchseiten. 

Paul Bokowski
Paul Bokow­ski bei einer Lesung der Brau­se­boys 2016. Foto: And­rei Schnell

Und nicht zuletzt hat der Autor die Tra­ban­ten­stadt Schle­sen­burg an den Bres­lau­er Ring gebaut. Der zwei­te Wort­teil des Titels – die Burg – ist eben­falls gut gewählt. Der Roman spielt nicht auf einem hohen Berg, son­dern in einer mas­si­ven Burg; die Stim­mung im Roman ist nicht ver­gleich­bar mit der eines Wan­de­rers, der die Frei­heit der Gip­fel­luft atmet und über den Din­gen steht. In dem Roman riecht es nach schwe­ren Mau­ern. Und auch wenn die Leu­te das Asyl­be­wer­ber­la­ger – kurz das Lager – hin­ter sich gelas­sen haben, leben sie in der Schle­sen­burg wie hin­ter einem Bela­ge­rungs­ring. Auf sich gestellt, als Schick­sals­ge­mein­schaft, abge­schnit­ten von der Außenwelt.

Beim ers­ten Lesen wirkt Schle­sen­burg wie eine Auto­bio­gra­phie. Wie Kind­heits­er­in­ne­run­gen, direkt aus dem Gedächt­nis auf­ge­schrie­ben. Manch­mal denkt der Leser, darf der Paul Bokow­ski so viel über sei­ne Fami­lie ver­ra­ten? Was sagt der Papa dazu? Es wirkt alles sehr ehr­lich, offen, authen­tisch, die­ser Bericht über eine Kind­heit in einer west­deut­schen, mit­tel­gro­ßen Stadt im Aus­län­der­vier­tel. Man ertappt sich dabei, dass man in einem Stadt­plan von Mainz nach­schau­en will, wel­che Ecke der 1982 dort gebo­re­ne Autor wohl meint. Aber spä­tes­tens beim zwei­ten Lesen kehrt der Blick zurück zwi­schen die Zei­len auf die eigent­li­che Haupt­fi­gur: die Schle­sen­burg, dem erdach­ten Stadt­teil. Die Figu­ren fül­len den Ort nur, sie sind nicht die, um die es in Wahr­heit in dem Roman geht. Der Roman ist kein ent­wen­de­tes und heim­lich ver­öf­fent­lich­tes Tage­buch. Er beschreibt das Lebens­ge­fühl am schlech­te­ren Stadtrand.

Die Burg­be­woh­ner leben auf eigen­ar­ti­ge Wei­se zusam­men. Es ist eine Mischung aus Zusam­men­halt und Iso­la­ti­on. Das neun­jäh­ri­ge Kind, aus des­sen Per­spek­ti­ve die Erin­ne­run­gen erzählt wer­den, ist sei­nen Eltern natür­lich ganz nah – und gleich­zei­tig gibt es unüber­wind­ba­re Grä­ben, Geheim­nis­se, Trenn­li­ni­en. In der Nach­bar­schaft geht die­ses Dop­pel­spiel wei­ter. Die Kin­der spie­len zusam­men und stän­kern sich gleich­zei­tig. Und auch die Erwach­se­nen hel­fen sich beim Reno­vie­ren, beim Tra­gen schwe­rer Möbel – trotz allem, das zwi­schen­durch an bru­ta­len Din­gen geschieht. Sie sind gleich­zei­tig freund­lich und gehäs­sig. Nur eines ist klar und nie­mals zwei­deu­tig: Kon­takt zu den Men­schen außer­halb der Burg, den gibt es nicht. In Sum­me: kein sen­sa­ti­ons­gie­rig bru­ta­les Buch über ein Aus­län­der­vier­tel, aber doch lebenshart.

Lese­tipp am Ran­de: Unge­wöhn­lich ist, wie viel Sorg­falt Paul Bokow­ski auf die Beschrei­bung der Düf­te und Gerü­che legt. Gewis­ser­ma­ßen ein Allein­stel­lungs­merk­mal in der Spra­che der Manager.

Paul Bokow­ski ist bekannt für komi­sche Tex­te, die er in Büchern ver­sam­melt wie „Allei­ne ist man weni­ger zusam­men‟, „Haupt­sa­che nichts mit Men­schen‟ oder „Bit­te neh­men Sie mei­ne Hand da weg‟. Ein Hauch Trau­rig­keit – Eigen­be­schrei­bung: Autor mis­an­thro­pi­scher Stan­dard­wer­ke – schwingt auch in die­sen Büchern mit. Im Roma­ne ist es umge­kehrt: Ein Hauch Komik weht auch durch „Schle­sen­burg‟. Der Roman ist Paul Bokow­skis ers­ter Groß­text, ist als Hard­co­ver am 14. Sep­tem­ber erschie­nen und kos­tet 22 Euro.

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Der Text ist eine län­ge­re Ver­si­on eines Abdrucks in der Wed­din­ger All­ge­mei­nen Zei­tung (–> E‑Paper), der gedruck­ten Zei­tung für den Wed­ding. Autor ist And­rei Schnell. Wir dan­ken dem RAZ-Verlag!

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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