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Ein Nachruf:
Nachts um zwei beim Eselsmann

Porträt eines Weddinger Antiquars
5. April 2021
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Ger­hard Kah­les „Anti­qua­ri­at Esel“ war eine Zuflucht für die Bewoh­ne­rin­nen des Brüs­se­ler Kiezes. Ver­gan­ge­nen Novem­ber ist Ger­hard, Fahr­rad­fah­rer, Buch­lie­ben­der und Wed­din­ger Uni­kum, ver­stor­ben. Eine Erin­ne­rung von Kirs­ten Reinhardt.


Eine Insel des Widerstands

Das Anti­qua­ri­at Esel in der Brüs­se­ler Stra­ße war eine Insel. Obwohl sich manch Besu­che­rin viel­leicht eher an eine Höh­le erin­nert, eine gemüt­li­che und reich­lich stau­bi­ge Höh­le mit war­mem Licht und zu gera­de­zu bedroh­lich schrä­gen Sta­lak­ti­ten in die Höhe wuchern­den Bücher­türm­chen, war es doch eine Insel der Buch­sta­ben, der nicht gewoll­ten und hier kis­ten­wei­se abge­la­de­nen, von Ger­hard immer will­kom­me­nen Bücher. Ein Hort der Geschich­ten, der Gram­ma­tik­rat­ge­ber und alte Land­kar­ten, des ver­gilb­ten und nach dem Rauch unzäh­li­ger Ziga­ret­ten und Zeit duf­ten­den Papiers, Papiers, Papiers. Irgend­wie war Ger­hard Kah­les Laden auch eine Insel des Wider­stands. Eines ganz lei­sen, ganz und gar pas­si­ven, von lako­ni­schen Bemer­kun­gen und einer an Radi­ka­li­tät gren­zen­den Reni­tenz des schnel­len Lebens gegen­über ein­mal abge­se­hen. Eines fei­nen Dage­gen­hal­tens gegen das all­zu Grel­le, das funk­tio­nal Effi­zi­en­te, das wider­lich Per­fek­te, das neo­li­be­ra­le Gesumm­se, das kal­ku­liert Käuf­li­che. Hier konn­te man stö­bern. In Ruhe und ver­ges­sen, hin­ten auf dem schwar­zen Leder­so­fa, stun­den­lang. Konn­te schwei­gen und lesen oder auch ein Gespräch begin­nen mit Ger­hard, über den Auf­bau-Ver­lag, über West­ber­lin, über sei­ne Jobs als Stu­dent, wie den in der Piz­za­fa­brik (Ger­hard hat nie wie­der Tief­kühl­piz­za ange­rührt…), über sei­ne Bücher natür­lich und den Tat­ort am Sonn­tag. Auch Geschich­ten aus der Nach­bar­schaft gab es zu hören. Man konn­te mit ihm eine Ziga­ret­te rau­chen und sich im Som­mer mit einem Wein vor die Tür set­zen und den Abend genie­ßen. Oder aber er hat­te zu tun. Viel zu tun. Bestel­lun­gen abwi­ckeln. Ins Lager fah­ren. Bücher verschicken.

Nach eigenen Regeln leben

Mein Herr Osi­an­der, so nann­te ein Kun­de Ger­hard, nach dem Anti­quar in Micha­el Endes „Unend­li­cher Geschich­te“. Ger­hard tauch­te meist am spä­ten Nach­mit­tag in sei­nem Anti­qua­ri­at auf. Er war eine Nacht­eu­le. Gern hör­te er Radio­sen­dun­gen, die gan­ze Nacht hin­durch, klas­si­sche Kon­zer­te. Dazu mach­te er sich Spa­ghet­ti. Er genoss das Leben, die ein­fa­chen Din­ge. War­um soll­te er sich auch einem Nine-to-Five-Leben anpas­sen? Ger­hard leb­te nach sei­nen eige­nen Regeln. Dazu gehör­ten: sein Draht­esel, sei­ne Ziga­ret­ten, sein Laden, sein Lager, sei­ne Musik, sein Essen. Und all die Bücher. Tau­sen­de. Im Lager, im Laden, ein sei­ner Woh­nung im Hin­ter­haus und in dem klei­nen Häus­chen in Brie­se­lang, wo er sei­nen Alters­sitz begrün­den woll­te. Dazu ist es nun lei­der nicht mehr gekom­men. Ger­hard Kah­le starb am 30. Novem­ber 2020 im Kli­ni­kum Buch in Ber­lin. Als sei­ne Leib-und Magen­band bezeich­ne­te Ger­hard die Doors. In Ver­zü­ckung gera­ten konn­te er auch über J. S. Bachs Weih­nachts­ora­to­ri­um. Das hör­te er ein­mal im Jahr im Radio an. Nie ver­ges­sen wer­de ich, wie Ger­hard, als wir ihn bei einem Besuch im Kran­ken­haus weih­nacht­li­che Leb­ku­chen vor­bei­brach­ten, mit schloh­wei­ßem lan­gen Haar, sei­ner schwar­zen Jeans und einem alten Karo­hemd in sei­nem Kran­ken­bett saß und uns Unkun­di­gen den Beginn des Ora­to­ri­ums vor­sang. Die Pau­ken, die Trom­meln und dann das jähe Ein­set­zen des Chors: „Jauch­zet! Frohlocket!“ 

So begeis­tert Ger­hard sich über man­che Din­ge zei­gen konn­te, so wun­der­bar tro­cken konn­te er die Bücher­wün­sche sei­ner Kun­din­nen kom­men­tie­ren. Einst auf der Suche nach Updi­ke (ich hat­te irgend­wo gele­sen, man müs­se ihn gele­sen haben) bekam ich einen die­ser typi­schen Ger­hards zu hören: „Updi­ke. Pau­se. Joah…. Schwei­gen. Müss­te ich irgend­wo haben. Pau­se. Da hin­ten in der drit­ten Rei­he in dem Sta­pel unten links unter den Koch­bü­chern viel­leicht. Lan­ge Pau­se. Ich per­sön­lich inter­es­sie­re mich ja nicht für die Pro­ble­me der ame­ri­ka­ni­schen Mittelschicht…“

Bücher als Zuflucht

Am 25. Okto­ber 1954 wur­de Ger­hard Kah­le in Groß Ösi­gen bei Gif­horn in Nie­der­sach­sen gebo­ren. Er kam aus einer bäu­er­li­chen Fami­lie, war der Jüngs­te und erzähl­te uns noch vom Torf-Ste­chen, geschwärmt hat er von sei­ner Kind­heit aber nie. Nach einer Aus­bil­dung in der frei­kirch­li­chen Gemein­de sei­ner Hei­mat soll­te er als Mis­sio­nar in die damals so genann­te „Drit­te Welt“ gehen. Ger­hard ging – es war 1979 – lie­ber nach West-Ber­lin. Die Enkla­ve, in der jeder nach sei­ner Fas­son leben konn­te. Und genau das tat Ger­hard von da an denn auch. In der Abend­schu­le lern­te er Judith und Hol­ger ken­nen, bes­te Freun­de des Mitt­woch-Stamm­ti­sches im Val­le di Templi und Gefähr­ten bis zum Schluss. Judith erin­nert sich so: „Es war eine tol­le Zeit. Wer mor­gens nicht zu früh auf­ste­hen muss­te, such­te nach dem Abend­un­ter­richt eine der nahe gele­ge­nen Knei­pen auf, in der dann nicht sel­ten bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den dis­ku­tiert und berat­schlagt wur­de, immer einer bes­se­ren Welt und der Lösung aller Pro­ble­me dicht auf der Spur. Ger­hard war als ruhi­ger, inter­es­san­ter Gesprächs­part­ner stets dabei. Das Abitur hat er als einer der Bes­ten geschafft, Stu­die­ren war kei­ne Fra­ge: Phi­lo­so­phie und Musik­ge­schich­te! Die letz­te Hür­de des Stu­di­ums war noch nicht geschafft, da war bereits die Mau­er in Ber­lin gefal­len, und es wur­de ihm Arbeit als Archi­var im Auf­bau-Ver­lag ange­bo­ten. Das war für Ger­hard nicht irgend­ein Job, in dem man diver­se Erfah­run­gen sam­meln kann – so wie ihn zum Bei­spiel die Arbeit im Forst­amt Tegel sehr beein­druckt hat – das war ein Traum­job! Doch dann kam die Zeit der gro­ßen Umstruk­tu­rie­run­gen. Das Archiv wur­de in den Kel­ler ver­bannt, ein Archi­var nicht mehr benö­tigt, aber ein Haus­meis­ter wur­de gebraucht. Auch dafür erwies sich Ger­hard als zuver­läs­si­ge Kraft, aber glück­lich war er damit nicht. Es reif­te der Plan für sein Anti­qua­ri­at Esel im Brüs­se­ler Kiez. Die­ses Anti­qua­ri­at, Ger­hards Wohn­zim­mer zur Welt, das Reich des Esels­manns – wie wir Ger­hard anfangs in Unkennt­nis sei­nes Namens und auf­grund der über­all zwi­schen den Büchern ver­steck­ten Stoff‑, Holz- und Papie­re­sel bei uns nann­ten – war eine Zuflucht. Abends, nachts konn­te man bei einen Gang um den Block vor­bei­ge­hen. Bei Ger­hard war meist Licht, hin­ter Bücher­sta­peln stieg eine dün­ne Rauch­säu­le auf, dahin­ter saß Ger­hard vor sei­nem alten Com­pu­ter, zwi­schen Ber­gen von Zet­teln und orga­ni­sier­te Bestel­lun­gen. An sei­nen Geburts­ta­gen aber, ver­wan­del­te er den Laden in eine Deli­ka­tes­sen-Höh­le. Er begann Tage zuvor mit dem Auf­räu­men. Alte Freun­de, Weg­ge­fähr­ten und immer wie­der neue jun­ge Leu­te, Stamm­kun­din­nen und Stu­den­ten, wur­den von Ger­hard zur Geburts­tags­fei­er ein­ge­la­den. Der run­de Holz­tisch, sonst bis unter die Decke mit Büchern betürmt, bog sich zu die­sen Anläs­sen unter Wein­fla­schen und fri­schen Baguettes, ein­ge­leg­ten Oli­ven und Käse­ber­gen, Kuchen, Obst und aller­lei ande­ren Köst­lich­kei­ten. Wir saßen und aßen bis spät in die Nacht, lern­ten ein­an­der ken­nen, hör­ten Musik und blät­ter­ten in den Büchern, zwi­schen denen wir saßen. Das waren Aben­de, an die eine gol­de­ne Erin­ne­rung bleibt. Im März 2019 gab es den Letz­ten die­ser Art. Ger­hards Laden war auch eine Insel der Gesel­lig­keit in der Nach­bar­schaft, stell­te Gemein­schaft her, im Kiez.

Stets mit großem Humor

Ger­hard grün­de­te sein Anti­qua­ri­at Esel am 24.10.1998, am 17.9.2019 gab er den Schlüs­sel wie­der ab. Der Laden ren­tier­te sich nicht mehr. Dazu die Krebs­dia­gno­se, mit der Ger­hard stets zuver­sicht­lich und mit größ­tem opti­mis­ti­schen Prag­ma­tis­mus umging. „OP? Na, da fahr ich doch mit dem Rad hin!“ Und zurück natür­lich auch. Über­haupt fuhr er über­all mit dem Rad hin. Zum Haus­vog­tei­platz in sein Buch­la­ger (ein­mal wur­de er dort wochen­lang poli­zei­lich beschat­tet und unter dem Vor­wand, man ver­mu­te ein Mari­hua­na-Depot zwi­schen den Büchern, wur­de mit einem Spreng­stoff-Hund dort her­um­ge­schnüf­felt – der älte­re lang­haa­ri­ge Mann mit dem Ruck­sack schien wohl ver­däch­tig) und nach Brie­se­lang. Jedes Wochen­en­de fuhr Ger­hard die 30 Kilo­me­ter, um mit sei­nem Kum­pel Hol­ger den Tat­ort zu sehen und sei­nen legen­dä­ren “Hand­kä­se mit Musik” zuzu­be­rei­ten. Sei­ne Freun­din­nen und Bekann­te ließ Ger­hard auch teil­ha­ben an sei­ner Krank­heits­be­hand­lung, sei­ne Emails aus der Kli­nik waren stets von gro­ßem Humor. Iro­nisch, haar­ge­nau beob­ach­tend und sich selbst immer mit ein­be­zie­hend, in den lie­be­voll-spöt­ti­schen Blick, mit dem er das Trei­ben um sich her­um schilderte.


Nun steht der Laden leer. Und mit Ger­hard Kah­les Tod ist eine noch grö­ße­re Lücke ent­stan­den. Ger­hard war ein sehr eige­ner, sehr beson­de­rer Mensch. Einer, der unbe­irr­bar sein Leben leb­te. Ein Leben vol­ler Bücher und Musik und guter Freun­de. Er hat es sogar geschafft, bis zuletzt neue dazu­zu­ge­win­nen. Wir wer­den ihn sehr ver­mis­sen. Doch in Gedan­ken kön­nen wir ihn besu­chen und ihn sehen, wie er, halb ver­deckt hin­ter Bücher­sta­peln, in sei­nem Laden sitzt und auf uns wartet.

Text: Kirs­ten Reinhardt

Gastautor

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4 Comments

  1. Mit gro­ßer Betrof­fen­heit lese ich hier vom Tod von Ger­hard. Wir haben uns wäh­rend des Stu­di­ums ken­nen­ge­lernt, eine Zeit lang im sel­ben Haus (Brüs­se­ler 14) gewohnt und dann, wie es lei­der vor­kommt, aus den Augen verloren.
    Ich woll­te mich immer mal bei dir mel­den, Ger­hard. Nun ist es zu spät.
    Dei­ne Jah­re nach dem Stu­di­um klin­gen nach einem erfüll­ten Leben. Ich freu mich für dich, dass du den Schritt mit dem Anti­qua­ri­at gewagt hast. Ich kann mich noch gut an dei­ne Woh­nung, voll mit Büchern, erin­nern. Schon damals hast du Bücher gesam­melt, vor allem vom Auf­bau Ver­lag. Mach es gut, wo immer du nun bist. Ich den­ke an dich.

  2. Eine schö­ne Wür­di­gung für Ger­hardt, sein Leben und sein Schaf­fen. Dan­ke Kirsten.
    Nor­bert, Brüs­se­ler 14

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