Gerhard Kahles „Antiquariat Esel“ war eine Zuflucht für die Bewohnerinnen des Brüsseler Kiezes. Vergangenen November ist Gerhard, Fahrradfahrer, Buchliebender und Weddinger Unikum, verstorben. Eine Erinnerung von Kirsten Reinhardt.
Eine Insel des Widerstands
Das Antiquariat Esel in der Brüsseler Straße war eine Insel. Obwohl sich manch Besucherin vielleicht eher an eine Höhle erinnert, eine gemütliche und reichlich staubige Höhle mit warmem Licht und zu geradezu bedrohlich schrägen Stalaktiten in die Höhe wuchernden Büchertürmchen, war es doch eine Insel der Buchstaben, der nicht gewollten und hier kistenweise abgeladenen, von Gerhard immer willkommenen Bücher. Ein Hort der Geschichten, der Grammatikratgeber und alte Landkarten, des vergilbten und nach dem Rauch unzähliger Zigaretten und Zeit duftenden Papiers, Papiers, Papiers. Irgendwie war Gerhard Kahles Laden auch eine Insel des Widerstands. Eines ganz leisen, ganz und gar passiven, von lakonischen Bemerkungen und einer an Radikalität grenzenden Renitenz des schnellen Lebens gegenüber einmal abgesehen. Eines feinen Dagegenhaltens gegen das allzu Grelle, das funktional Effiziente, das widerlich Perfekte, das neoliberale Gesummse, das kalkuliert Käufliche. Hier konnte man stöbern. In Ruhe und vergessen, hinten auf dem schwarzen Ledersofa, stundenlang. Konnte schweigen und lesen oder auch ein Gespräch beginnen mit Gerhard, über den Aufbau-Verlag, über Westberlin, über seine Jobs als Student, wie den in der Pizzafabrik (Gerhard hat nie wieder Tiefkühlpizza angerührt…), über seine Bücher natürlich und den Tatort am Sonntag. Auch Geschichten aus der Nachbarschaft gab es zu hören. Man konnte mit ihm eine Zigarette rauchen und sich im Sommer mit einem Wein vor die Tür setzen und den Abend genießen. Oder aber er hatte zu tun. Viel zu tun. Bestellungen abwickeln. Ins Lager fahren. Bücher verschicken.
Nach eigenen Regeln leben
Mein Herr Osiander, so nannte ein Kunde Gerhard, nach dem Antiquar in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. Gerhard tauchte meist am späten Nachmittag in seinem Antiquariat auf. Er war eine Nachteule. Gern hörte er Radiosendungen, die ganze Nacht hindurch, klassische Konzerte. Dazu machte er sich Spaghetti. Er genoss das Leben, die einfachen Dinge. Warum sollte er sich auch einem Nine-to-Five-Leben anpassen? Gerhard lebte nach seinen eigenen Regeln. Dazu gehörten: sein Drahtesel, seine Zigaretten, sein Laden, sein Lager, seine Musik, sein Essen. Und all die Bücher. Tausende. Im Lager, im Laden, ein seiner Wohnung im Hinterhaus und in dem kleinen Häuschen in Brieselang, wo er seinen Alterssitz begründen wollte. Dazu ist es nun leider nicht mehr gekommen. Gerhard Kahle starb am 30. November 2020 im Klinikum Buch in Berlin. Als seine Leib-und Magenband bezeichnete Gerhard die Doors. In Verzückung geraten konnte er auch über J. S. Bachs Weihnachtsoratorium. Das hörte er einmal im Jahr im Radio an. Nie vergessen werde ich, wie Gerhard, als wir ihn bei einem Besuch im Krankenhaus weihnachtliche Lebkuchen vorbeibrachten, mit schlohweißem langen Haar, seiner schwarzen Jeans und einem alten Karohemd in seinem Krankenbett saß und uns Unkundigen den Beginn des Oratoriums vorsang. Die Pauken, die Trommeln und dann das jähe Einsetzen des Chors: „Jauchzet! Frohlocket!“
So begeistert Gerhard sich über manche Dinge zeigen konnte, so wunderbar trocken konnte er die Bücherwünsche seiner Kundinnen kommentieren. Einst auf der Suche nach Updike (ich hatte irgendwo gelesen, man müsse ihn gelesen haben) bekam ich einen dieser typischen Gerhards zu hören: „Updike. Pause. Joah…. Schweigen. Müsste ich irgendwo haben. Pause. Da hinten in der dritten Reihe in dem Stapel unten links unter den Kochbüchern vielleicht. Lange Pause. Ich persönlich interessiere mich ja nicht für die Probleme der amerikanischen Mittelschicht…“
Bücher als Zuflucht
Am 25. Oktober 1954 wurde Gerhard Kahle in Groß Ösigen bei Gifhorn in Niedersachsen geboren. Er kam aus einer bäuerlichen Familie, war der Jüngste und erzählte uns noch vom Torf-Stechen, geschwärmt hat er von seiner Kindheit aber nie. Nach einer Ausbildung in der freikirchlichen Gemeinde seiner Heimat sollte er als Missionar in die damals so genannte „Dritte Welt“ gehen. Gerhard ging – es war 1979 – lieber nach West-Berlin. Die Enklave, in der jeder nach seiner Fasson leben konnte. Und genau das tat Gerhard von da an denn auch. In der Abendschule lernte er Judith und Holger kennen, beste Freunde des Mittwoch-Stammtisches im Valle di Templi und Gefährten bis zum Schluss. Judith erinnert sich so: „Es war eine tolle Zeit. Wer morgens nicht zu früh aufstehen musste, suchte nach dem Abendunterricht eine der nahe gelegenen Kneipen auf, in der dann nicht selten bis in die frühen Morgenstunden diskutiert und beratschlagt wurde, immer einer besseren Welt und der Lösung aller Probleme dicht auf der Spur. Gerhard war als ruhiger, interessanter Gesprächspartner stets dabei. Das Abitur hat er als einer der Besten geschafft, Studieren war keine Frage: Philosophie und Musikgeschichte! Die letzte Hürde des Studiums war noch nicht geschafft, da war bereits die Mauer in Berlin gefallen, und es wurde ihm Arbeit als Archivar im Aufbau-Verlag angeboten. Das war für Gerhard nicht irgendein Job, in dem man diverse Erfahrungen sammeln kann – so wie ihn zum Beispiel die Arbeit im Forstamt Tegel sehr beeindruckt hat – das war ein Traumjob! Doch dann kam die Zeit der großen Umstrukturierungen. Das Archiv wurde in den Keller verbannt, ein Archivar nicht mehr benötigt, aber ein Hausmeister wurde gebraucht. Auch dafür erwies sich Gerhard als zuverlässige Kraft, aber glücklich war er damit nicht. Es reifte der Plan für sein Antiquariat Esel im Brüsseler Kiez. Dieses Antiquariat, Gerhards Wohnzimmer zur Welt, das Reich des Eselsmanns – wie wir Gerhard anfangs in Unkenntnis seines Namens und aufgrund der überall zwischen den Büchern versteckten Stoff‑, Holz- und Papieresel bei uns nannten – war eine Zuflucht. Abends, nachts konnte man bei einen Gang um den Block vorbeigehen. Bei Gerhard war meist Licht, hinter Bücherstapeln stieg eine dünne Rauchsäule auf, dahinter saß Gerhard vor seinem alten Computer, zwischen Bergen von Zetteln und organisierte Bestellungen. An seinen Geburtstagen aber, verwandelte er den Laden in eine Delikatessen-Höhle. Er begann Tage zuvor mit dem Aufräumen. Alte Freunde, Weggefährten und immer wieder neue junge Leute, Stammkundinnen und Studenten, wurden von Gerhard zur Geburtstagsfeier eingeladen. Der runde Holztisch, sonst bis unter die Decke mit Büchern betürmt, bog sich zu diesen Anlässen unter Weinflaschen und frischen Baguettes, eingelegten Oliven und Käsebergen, Kuchen, Obst und allerlei anderen Köstlichkeiten. Wir saßen und aßen bis spät in die Nacht, lernten einander kennen, hörten Musik und blätterten in den Büchern, zwischen denen wir saßen. Das waren Abende, an die eine goldene Erinnerung bleibt. Im März 2019 gab es den Letzten dieser Art. Gerhards Laden war auch eine Insel der Geselligkeit in der Nachbarschaft, stellte Gemeinschaft her, im Kiez.
Stets mit großem Humor
Gerhard gründete sein Antiquariat Esel am 24.10.1998, am 17.9.2019 gab er den Schlüssel wieder ab. Der Laden rentierte sich nicht mehr. Dazu die Krebsdiagnose, mit der Gerhard stets zuversichtlich und mit größtem optimistischen Pragmatismus umging. „OP? Na, da fahr ich doch mit dem Rad hin!“ Und zurück natürlich auch. Überhaupt fuhr er überall mit dem Rad hin. Zum Hausvogteiplatz in sein Buchlager (einmal wurde er dort wochenlang polizeilich beschattet und unter dem Vorwand, man vermute ein Marihuana-Depot zwischen den Büchern, wurde mit einem Sprengstoff-Hund dort herumgeschnüffelt – der ältere langhaarige Mann mit dem Rucksack schien wohl verdächtig) und nach Brieselang. Jedes Wochenende fuhr Gerhard die 30 Kilometer, um mit seinem Kumpel Holger den Tatort zu sehen und seinen legendären “Handkäse mit Musik” zuzubereiten. Seine Freundinnen und Bekannte ließ Gerhard auch teilhaben an seiner Krankheitsbehandlung, seine Emails aus der Klinik waren stets von großem Humor. Ironisch, haargenau beobachtend und sich selbst immer mit einbeziehend, in den liebevoll-spöttischen Blick, mit dem er das Treiben um sich herum schilderte.
Nun steht der Laden leer. Und mit Gerhard Kahles Tod ist eine noch größere Lücke entstanden. Gerhard war ein sehr eigener, sehr besonderer Mensch. Einer, der unbeirrbar sein Leben lebte. Ein Leben voller Bücher und Musik und guter Freunde. Er hat es sogar geschafft, bis zuletzt neue dazuzugewinnen. Wir werden ihn sehr vermissen. Doch in Gedanken können wir ihn besuchen und ihn sehen, wie er, halb verdeckt hinter Bücherstapeln, in seinem Laden sitzt und auf uns wartet.
Text: Kirsten Reinhardt
Hallo Ihr Lieben,
wo ist Gerhard Kahle – Gerd beerdigt Diese Frage stellen sich seine alten Freunde aus der Studienzeit in Oberursel und Heidelberg.. Vielen Dank und alles Gute„ Ernst und Rigo
Mit großer Betroffenheit lese ich hier vom Tod von Gerhard. Wir haben uns während des Studiums kennengelernt, eine Zeit lang im selben Haus (Brüsseler 14) gewohnt und dann, wie es leider vorkommt, aus den Augen verloren.
Ich wollte mich immer mal bei dir melden, Gerhard. Nun ist es zu spät.
Deine Jahre nach dem Studium klingen nach einem erfüllten Leben. Ich freu mich für dich, dass du den Schritt mit dem Antiquariat gewagt hast. Ich kann mich noch gut an deine Wohnung, voll mit Büchern, erinnern. Schon damals hast du Bücher gesammelt, vor allem vom Aufbau Verlag. Mach es gut, wo immer du nun bist. Ich denke an dich.
Hallo ihr Lieben, wo ist Gerd beerdigt. Seine Freunde aus Oberursel und Heidelberg. LG Ernst und Rigo
schön geschrieben, danke.
Vielen Dank für diesen wunderschönen Nachruf.
Gerhard, du fehlst uns.
Eine schöne Würdigung für Gerhardt, sein Leben und sein Schaffen. Danke Kirsten.
Norbert, Brüsseler 14