Nicht nur länger leben wir, sondern auch länger gesünder. Die Lebenserwartung hat sich enorm gesteigert. Es lässt sich feststellen, dass täglich etwa 5 Stunden gewonnen werden. Und die Lebenserwartung der im Jahr 2000 Geborenen beträgt heute 92,4 Lebensjahre für Frauen und 88,0 für Männer. Eine der am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen sind die 80-Jährigen.
Schlicht und ergreifend rollt da eine Welle an neuen Lebensformen und sozialen Optionen und Chancen auf uns zu, die genutzt und gestaltet werden müssen, denn es betrifft alle.
Aber was hat das nun mit uns im Wedding und Gesundbrunnen zu tun?
Das Altern schützt vor dem Leben nicht. Man kann das Altern nur vor Ort leben, gestalten und verbessern. Das ist die starke Einsicht aus den einfachsten Notwendigkeiten – überall. Die Menschen heute, erfolgsverwöhnt, lange Jahre engagiert oder in Familien und soziale Netzwerke eingebunden, möchten ihre Lebensstile fortsetzen und gerade erst nach der Berentung neu aufnehmen und kultivieren.
Es ist mittlerweile schon fast ein stehender Begriff, dass die traditionellen Stereotype zum Altern veraltet sind. Auch die Ansprüche an das Leben, das gelebt sein möchte und gestaltet sein muss, sind gestiegen, denn mehr Gesundheit und Beweglichkeit fordern heraus.
Die (gegenseitigen) Wahr-Nehmungen sind eingeschränkt. Alleine das Benennen einer Altersgrenze, ab wann ein Mensch als alt gilt, sind in der öffentlichen Wahrnehmung weit gestreut: Jugendliche sehen 61-Jährige als alt, dagegen Ältere selbst setzen diese Grenze bei 69 Lebensjahren an. Viele dieser Einschätzungen sind einem diffusen Unwissen über das Leben im Alter geschuldet bzw. der mangelnden Lebenskompetenz in einer Zeit der stark verkleinerten Anzahl von Familien jenseits der Zwei-Generationen-Familien.
Auch in der Coronazeit wurde den Senior*innen ein schützenswerter Sonderstatus zugesprochen, der sich leicht mit dem überkommenen Klischee des Absonders vereinbaren ließ. Bis man protestierte von Seiten der Senior*innenvertretungen!
Wie sehr Altersbilder das Befinden und den Mut zum aktiven Leben nehmen können, ergibt sich daraus, dass solche Bilder vom Altern kollektiv erzeugt werden und sich in das Überzeugtsein aller eingraben. Viele der traditionellen Vorstellungen vom Alter(n) hängen mit der Zuschreibung von Defiziten zusammen. Entmutigung und Verstecken können die Folge sein, was bei alten Menschen fatal ist, wenn sie zudem auf Hilfe angewiesen sind, um ihre Vorhaben zu realisieren.
Ageism nennt man die Diskriminierung nach Alter, ob bei Kindern oder Senior*innen und dies kann beinhalten, dass man Inaktivität, mangelnde Kreativität oder Konservativismus pauschal einem einzelnen Menschen zuordnet.
Wann aber bekommen wir Erlösung von den Rollenzuweisungen, die noch 1950 gegolten haben, als viele Rentner*innen im Durchschnitt keine weiteren fünf Jahre nach dem Eintritt in den Rentenbezug mit 65 durch/nach Pflege, Einsamkeit, Bettlägrigkeit und Gebrechlichkeit (über-)lebten? Wann machen die Traditionen den neuen Bildern Platz? Was, wenn im Alter neue und damit wirklich zeitgemäße Lebensentscheidungen getroffen sein müssen, weil die alten Zusammenhänge hinfällig wurden?
Da ist ein großer Konsens in unserer Gesellschaft über Teilhabe an den gesellschaftlichen Aktivitäten und Abstimmungen, ebenso wie zu Gesundheitsvorsorge, sportliche Fitness und Wellness. Und die noch größeren Begriffe wie Lebendigkeit, Kulturteilhabe, Autonomie und Selbstbestimmtheit gehören für viele zur einhelligen Grundauffassung zum Altern in Würde.
Wann also sehen wir die von den Baby-Boomern, die Jahrgänge ab Mitte der 1950er bis 1969, bereits vorgelebten Lebensformen und neuen Lebensfelder in unserer Realität? Wann sind sie prägend für unsere ausgetauschten Bilder? Freiheitliche Bilder vom Genießen, Wünschen und von der Gemeinschaftlichkeit?
Eines muss man sich vor Augen führen, nämlich, dass die Alten, je länger sie leben, umso mehr von Schicksalsschlägen betroffen sind, ob Partnerverluste oder Gebrechlichkeiten, es müssen auch bei Hochaltrigkeit noch neue Freundschaften und Beschäftigungen möglich sein.
Ebenso die lokalpolitische Teilhabe ist gefragt, denn – hoffentlich kein böses Klischee über die Jugend und die Mittelalten – die Jüngeren erkennen das Altern, die Rententücken und die Vorbereitungen auf ein eigenständiges Leben außerhalb der Zwänge des Erwerbslebens oft zu spät oder gar nicht, so dass auch hier Selbsthilfe der Alten gefordert ist. Wer, wenn nicht sie selber könnten ein Machtwort sprechen? Und sie sollen es auch tun. Und wir alle werden die age-friendly-cities benötigen neben einer verallgemeinerten Grundversorgung in den Kommunen mit Wasserbrunnen, Plauderbänken und Schattenecken.
Dazu sollte nochmals der 7. Altenbericht (2016) herangezogen werden, denn dieser verweist auf die hohe Zuständigkeit der Kommunen und das Zurverfügungstellen von Rahmenbedingungen für die Senior*innen und deren sozialer Zusammenhalte. Der Staat und allen voran die Kommunen, so wird dort empfohlen, muss Infrastruktur anbieten. Und je früher man gute Strukturen schafft, die die Kommunikationsbedarfe der Alten ermöglichen und sichern, umso besser. Das Abwinken mit den Worten, das regele sich schon, geht ganz und gar fehl.
Wir Berliner können uns dazu zwar kaum beschweren, können wir uns doch täglich ganztags amüsieren, aber schaut man genauer hin, so sind lediglich sechs weit verstreute Begegnungsstätten in Wedding und Gesundbrunnen vorhanden (Grüntaler Straße, Haus Bottrop, Begegnungsstätte im Kiez, AWO Freizeitstätte Schillerpark, Otawitreff, Sprengelhaus). Wo also realisiert man seine sozialen Bedarfe, die im Alter Leben und Gesundheit retten können und durchaus auch geschützt sein sollten? Wo also lernt man diejenigen kennen, mit denen man sein Leben in Vielfalt und Freiheit teilen möchte?
Etwa zwei Drittel der Menschen zwischen 65 und 84 lebt mit dem Partner (steigender Anteil, 2021) und – gegengleich – etwa 40 Prozent der Älteren ist alleinlebend (sinkender Anteil, 2021), was auch Resultate der steigenden Langlebigkeit sind.
Viele der Alten in Deutschland sind überdurchschnittlich familienorientiert, das ist die häufigste Angabe zu ihren Werten; aber selbst an letzter Position wird noch überdurchschnittlich oft von den Älteren im Vergleich zum Durchschnitt die „aktive Teilhabe am politischen Leben“ genannt!
Wo zeigt sich dies bunte Leben der heutigen Alten?
Im Norden von Mitte, bei uns vor Ort, ist es besonders die kulturelle Vielfalt, die uns vor Augen führt, was das Leben alles anbietet, bricht und weiterentwickelt. Die Kieze und Stadtteile, die sehr unterschiedlich strukturiert sein können, sind oft auch Schwerpunkte für Pflegebedürftigkeit (im Wedding 11 %; LISA II), weit verbreitete Altersarmut oder einer gewissen heimischen Kultur- und Bildungsferne, die sich auch in täglichem TV-Konsum niederschlägt, was über 80% der repräsentativ Befragten tun.
Wie ergeht es den Alten nun im „grünen Wedding“, in einem Stadtteil, der Teil eines Bezirks der Superlativen und der transformativen Lebensformen ist? Und wo sind die aktuellen Fotos und die Bilder dazu?
Es gibt einen Fotowettbewerb, der am 21. Mai Einsendeschluss hat und vom BAGSO initiiert wurde.
VielfALT - Fotowettbewerb zum Leben im Alter
Zu diesen vier Kategorien können Fotos eingereicht werden.
• Das bin ich. Individuell im Alter.
• Mittendrin. Aktiv und engagiert bis ins hohe Alter.
• Licht und Schatten. Herausforderungen im Alter.
• Gemeinsam geht was. Jung und Alt im Austausch.
Die Preisverleihung findet im September durch die Bundesministerin Lisa Paus statt.
https://www.programm-altersbilder.de/
https://www.neunter-altersbericht.de/
Man kann gemeinsam Bildideen konzipieren, man kann gemeinsam einen Kalender fotografieren, man kann sich gegenseitig fotografieren!
Mitmachen verbindet und vergrößert die Chance auf eine erweiterte Perspektive auf das errungene zusätzliche Leben mit Lebensfreude und Respekt.
Text © Renate Straetling
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Links
Die Studie LISA II vom Februar 2021 zur Befragung der älteren Bürger*innen im Bezirk Mitte
https://www.berlin.de/ba-mitte/aktuelles/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1049291.php
Aktuelle Lesetipps zum Altern
WOMAN Mai 2023 “Nach vorn schauen, nicht zurück”, S. 17 ff
Das aktuelle Heft “brand eins” vom März 2023: Neue Lebensplanung
https://kiosk.brandeins.de/products/brand-eins-03–2023