An der närrischen Zeit kommt man, ob man es mag oder nicht, in manchen Gegenden nicht vorbei. Anders in Berlin. Hier weiß kein Mensch, wann Altweiber gefeiert wird oder Rosenmontag. Allenfalls bekommt man es in den Abendnachrichten mit, und dann fühlt es sich so exotisch an wie ein entfernter Krieg oder ein Vulkanausbruch in Indonesien. Zwei unserer Autoren sind in Karnevalsgegenden aufgewachsen. Und haben ernsthaft im Wedding zwei Karnevalsvereine entdeckt!
Wolle mer se reilasse?
In meiner Heimatgegend in Rheinland-Pfalz wird der Winter eingeteilt in die Zeit vor der “Fassenacht” und in die Zeit danach. Meine Eltern waren nie in einer Karnevalsgesellschaft und so sind wir als Kinder auch nicht in die Traditionen hineingewachsen. Klar, der Besuch des Umzugs mit “Kamelle-Sammeln” gehörte für uns dazu, und auch die Fernsehsitzungen aus dem nahen Mainz wurden mit einer Mischung aus Abscheu und Begeisterung gesehen. Ich erinnere mich an einen Kostümwettbewerb in der Grundschule, den ich gewonnen hatte, weil mich eine Bekannte meiner Eltern mit viel Freude in einen Zauberer verwandelt hatte. Das war es dann aber auch, und als ich nach Berlin zog, fehlte mir ehrlich gesagt nichts von dem ganzen Zirkus, der das Rheinland in der 5. Jahreszeit in Atem hält. Vor ein paar Jahren habe ich mir mal die Basler Fasnacht angesehen, das war in der Tat ein sehr gespenstisches und atmosphärisches Event, das mit allem anderen Karnevalistischen in Deutschland wenig zu tun hat.
Joachim Faust
Als Rheinländerin, die nur 35 Minuten von Köln aufgewachsen ist, ist es mir ein Bedürfnis, diese Jahreszeit Karneval zu nennen, nicht Fasching. Genau wie der korrekte Narrenruf ‚Alaaf‘ heißt und nicht etwa ‚Helau‘. Ja, da können Kölner:innen und viele Rheinländer:innen auch mal humorlos sein.
Lange Zeit war ich selbst in einem Karnevalsverein meines Heimatorts tätig und tanzte in der lokalen Garde. Bis heute ist Karneval ein wichtiger Anlass für mich, die 600 Kilometer Bahn zu fahren und die letzten fünf Tage der Session ‚jeck‘ zu sein.
Eigentlich ist Karneval aber viel mehr als die Tage zwischen Altweiber und Rosenmontag, sie bilden, wenn man so will, lediglich das ‚Finale‘. Ich erinnere mich an die Auftritte ab dem 11.11. Jedes Wochenende hat sich der Verein auf den Weg in viele Städte NRWs gemacht, um auf den verschiedensten Karnevalssitzungen aufzutreten.
Für diejenigen, die nicht wissen, was eine ‚Karnevalssitzung‘ überhaupt ist: Es handelt sich um verschiedene Veranstaltungen im Karneval, von Kinder- über Damen- und Herrensitzungen bis hin zu Seniorensitzungen findet man viele Varianten, aber eines haben sie gemeinsam: Das Programm ist immer sehr vielfältig. Es wird gesungen und getanzt, auch Reden werden gehalten und – nicht zu vergessen – die Sitzungen finden kostümiert statt.
Seitdem ich im Wedding wohne, vermisse ich jedes Jahr die ganze Session. Denn sie hat die grauen Monate von November bis Februar, wenn viele grundlos schlecht gelaunt sind, irgendwie aufgefrischt. Die Wochenenden waren bunt, laut und spaßig, es war eben was los.
Aber Karneval bedeutet für mich vor allem auch Gleichheit. An den letzten fünf Tagen der Session, an denen Karneval nicht nur von den ‚Nerds‘ gefeiert wird, sondern auch von vielen anderen Menschen, kommen alle kostümiert zusammen. In unseren Rollen der Cowboys/Cowgirls, verschiedener Tiere, Feen oder Superhelden sind wir alle ausgelassen und vergessen kurz den stressigen Alltag. Jung und Alt schunkeln miteinander, es wird gebützt (Bützche=Küsschen), getrunken und eben gefeiert, ohne Vorurteile, denn man ist dann eben eine Fee oder ein Superheld. Diese fehlende Tradition ist für mich ein negativer Punkt der Hauptstadt, deshalb habe ich mich gefreut, als ich erfuhr, dass es im Wedding Karnevalsvereine gibt. Ob ich an einer Sitzung teilnehmen würde? Ich würde mir definitiv ein Bild davon machen, denn man soll ja nicht urteilen, bevor man etwas nicht selbst erlebt, aber ehrlicherweise sind meine Anforderungen an eine Sitzung oder einen Verein sehr hoch und ich bin mir nicht sicher, ob ein Verein außerhalb des Rheinlands dem gerecht werden kann.
Ich schreibe diesen Text am Abend des Karnevalssamstag. Unter anderen Umständen wäre ich heute jeck in Kölle, das fällt verständlicherweise dieses Jahr für alle Narren und Närrinnnen aus. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sich auf nächstes Jahr zu freuen. Also meinerseits: Karneval 2022 – Alaaf!, Kölle – Alaaf!, Wedding – Alaaf!
Oliwia Nowakowska
Und was ist mit dem Wedding?
Im Wedding hat doch tatsächlich ein Verein zur Pflege des karnevalistischen Brauchtums seinen Sitz, der Narrenkappe e.V. Auch hier gibt es (außer in diesem Jahr) Sitzungen und im Vorfeld wird fleißig für die Tanzauftritte geübt. Unter Leitung der Trainerin Martina Giersch wird geprobt, und es gibt Auftritte zu mehreren Anlässen. “Neben Jugendarbeit und Leistungssport oder gesellschaftlichem Engagement während der Session unterstützen wir viele soziale Projekte”, schreibt der Verein auf seiner Website. So werden seit Jahren auch Seniorenevents veranstaltet. “Mit unseren Tänzen, Gesang und gesprochenen Beiträgen auf den zahlreichen Aktionen, tragen wir gezielte Kurzweil in die Herzen unserer Zuschauer.” Und eine Recherche ergab: Auch die Prinzengarde hat ihren Sitz im Wedding! Dort spielen verschiedene Corps (wie Showtanz) eine große Rolle.
Na dann, da bleibt uns nur zu sagen: Berlin Hei Jo! (Alaaf und Helau sind in Berlin jedenfalls tabu). Auch wenn in diesem Jahr vieles ausfällt…