Hier könnt ihr Teil 1 und Teil 2 der Serie nachlesen.
Tag 5 – Donnerstag, 03.03.2022
Nach dem gestrigen sehr intensiven Tag weiß ich gar nicht so recht wohin mit mir. Ich werde nicht wieder zur Grenze fahren, denn ich vermute, die Situation und Bilder ähneln sich – und manchmal ist es tatsächlich eine ziemliche Kunst, Blick und Ohren nach vorne, hinten und zu den Seiten zu richten, um den Leuten nicht im Weg zu stehen. Doch auch heute wird es wieder dazu kommen.
Links: Solidaritätsbekundung in der Hotellobby. Rechts: Eine ukrainische Familie überprüft den Motorraum kurz vor der Weiterfahrt.
Ich nehme mir vor, in die nächstgrößere Stadt Chełm zu fahren und mich dort am Bahnhof und nach Erstaufnahmezentren umzuschauen. Auf dem Weg dorthin halte ich in der Kleinstadt Rejowiec an. Den Namen finde ich erst später heraus, denn der einzige Grund für den Halt ist die Tatsache, dass es so etwas wie einen zentralen Platz mit zwei Lebensmittelgeschäften gibt. Ich betrete das erste und es stellt sich heraus, dass der Ladeninhaber viele Jahre in Belgien gelebt hat und einige Worte Deutsch spricht. Ich bin froh, denn so langsam setzt bei mir ein Schamgefühl dafür ein, dass ich auf Polnisch immer noch nicht mehr als Hallo, Tschüss und Danke sagen kann.
Auf die Frage nach einem Kaffee, der hier in seinem kleinen Laden eigentlich nicht serviert wird, lädt mich Mirek, Ende 50, hinter die Theke ein und bietet mir einen Stuhl an. Während ich an einem köstlichen Zwiebelbrötchen und einem Stück Wurst, das er mir in die Hand drückt, knabbere, erzählt er von seinen Kindern. Ich berichte ihm von meinem Vorhaben für heute und er sagt: „Da brauchst du nicht nach Chełm zu fahren. Mein Sohn Radek arbeitet als Freiwilliger einen Kilometer von hier.“
Mirek.
Nach einer knappen halben Stunde verabschieden wir uns. Auf die Frage hin, wie viel ich ihm für das Frühstück schulde, winkt er ab und zeigt mit Daumen und Zeigefinger eine Null. Er gibt mir noch seine Nummer und bietet mir einen Schlafplatz an. Ich solle einfach vorbeikommen, wenn nötig.
Ich finde das von ihm beschriebene Schulgebäude auf Anhieb; es ist nicht zu übersehen bei all dem Trubel, den Kartons schleppenden Helfer*innen und Fahrzeugen davor. Die erste Person, die ich anspreche, ist tatsächlich Mireks Sohn Radek. Wir lachen und er lädt mich ein hineinzukommen. In dem Moment fährt gerade ein Bus mit Kindern ab. Frauen winken zum Abschied. Ich frage eine andere Freiwillige neben mir und verstehe nur: „Kinder, Kiew, Krankenhaus, Flugzeug, Holland, Onkologie.“
Frauen winken bei der Abfahrt des Busses.
An einer Empfangskabine direkt an der Eingangstür bleibe ich einen Moment in einer Ecke stehen, muss mich erst einmal sortieren und versuche niemandem im Weg zu stehen. Eine Freiwillige schaut zu mir herüber, wir nicken uns zu. Als ich zu verstehen gebe, dass ich Fotograf „z Berlina“ (aus Berlin) bin, gibt sie mir zu verstehen, dass sie kein Deutsch spricht, sagt aber dann auf unverkennbare Art „Ciao“. Sie spricht Italienisch, hurra! Wie nicht wenige Menschen aus Polen, hat sie eine Zeit in Italien gelebt und wir können uns verständigen.
Sie bittet ihre Kollegin Alicia, mich durch das Gebäude zu führen. Alicia erklärt ganz viel, alles auf schnellem Polnisch, aber was sie mir zeigt: dafür braucht es keine Sprache. Im Souterrain des Gebäudes sind Räume bis oben hin voll mit Decken, medizinischen Produkten, Baby- und Hygieneartikeln, Wasserflaschen, Konserven, Zucker, Mehl. Ein Lebensmittelgroßmarkt wirkt dagegen fast wie ein Witz.
Oben: Alicia führt mich durch das Gebäude.
Mitte links: Stapelweise Windeln.
Mitte rechts: Berge von Wasserflaschen.
Unten: Decken und Kissen.
Ich habe noch nie so viele Kartons gesehen, wie hier in der Sporthalle stehen. Auf der einen Seite der Halle: meterhohe Berge von Kleidung und endlose Meter voll hängender Kleiderstangen. In der Mitte der Halle: Dutzende offene Kartons, wo sortierte Kleidung hineinkommt. Auf der anderen Seite: meterhohe Stapel mit versandfertigen Kartons. Ein Teil der Halle ist mit einer Reihe offener Kartons voller Kinderspielzeug abgetrennt – dahinter Bälle, Bobbycars und spielende Kinder.
Oben links: Eine Frau sortiert Kleidung.
Oben rechts: Kartons, in denen Hilfsgüter sortiert verpackt werden.
Unten links: Blick in die Sporthalle.
Unten rechts: Kinder beim Bobbycarfahren.
Es gibt einige große Räume voller Matratzen und viele Zimmer auf mehreren Etagen, ebenfalls voller Feldbetten und Matratzen, wo nun gerade Flüchtlinge leben. Ein etwa 30 Quadratmeter großer Raum fungiert als Küche. Mittags werden hier Kartoffelpüree, Sauerkraut und Würste serviert. Trotz einem unglaublichen Gewusel geht alles ziemlich geordnet vonstatten. Hört sich komisch an, aber in den Kopf kommt mir der Vergleich zu Ameisen, die auf unseren ersten Blick in totalem Chaos alle genau wissen, was sie tun und wo sie hinwollen und zusammen Großes schaffen.
Ich bin heute überwältigt von der Menschlichkeit.
In der Küche.
Mein Gefühl sagt mir, dass hier eine geeignete Stelle für das Ende dieses Artikels wäre. Von einer Begegnung möchte ich jedoch noch erzählen. Als ich wieder hinausgehe, sehe ich vor den Toren auf dem Parkplatz einen Mietwagen mit deutschem Kennzeichen. Ich spreche die zwei jungen Erwachsenen an: Bogdan, 30, und Wadim, 35, beide in Slawuta, Ukraine, geboren, sind aus Buxtehude gekommen. Sie leben schon lange in Deutschland, haben über Instagram einen Spendenaufruf gestartet und sind mit einer großen Ladung Hilfsgüter gekommen. Sie haben so viel Unterstützung bekommen, dass zu Hause noch zwei Sprinter stehen.
Nun warten sie auf ihren Kontakt, mit dem die Güter über die Grenze gelangen werden. Dieser hat die Papiere, dass er Freiwilliger ist und kann damit problemlos in die Ukraine. Was nicht in sein Auto passt, geben sie in der Aufnahmestelle ab. Bogdan sagt: „Uns ist wichtig, dass die Sachen in die Ukraine gelangen. Für die Leute, die es am nötigsten haben. Ich finde, die Leute, die jetzt hier in Polen sind, sind halbwegs gerettet.“ Wadim beschreibt, wie ihn die Nachrichten nicht loslassen: Hunderte Meter lange Schlangen an Geschäften, viele leere Regale. Er hat gehört, dass ein Brot umgerechnet schon fünf Euro kostet. Die Bilder von U‑Bahnstationen voller Menschen, von Geburten und jungen Müttern, deren Körper keine Milch gibt. „Die brauchen dann doch dieses Pulver“, sagt er.
Wadim und Bogdan.
Sie erzählen kopfschüttelnd von einem russischen Freund, der immer noch glaube, dass Putin die Ukraine von Nazis befreie, dass alles die Schuld der NATO sei. Sie sprechen in einem ruhig-entsetzt-resignierten und nicht mehr überraschtem Ton von der russischen Staatsprogaganda. Sie erzählen davon, wie es manchen russischen Menschen und vor allem kaum 20-jährigen Soldaten nach Jahren der „Wir sind die Befreier“-Erzählung schwerfallen muss zu glauben, dass nun „die kleine Ukraine“ so viel Widerstand leisten kann.
Ich lasse Bogdan sprechen: „ Wir fahren jedes Jahr mehrmals zu unserer Familie. Wie sah das Land vor 2014 aus? Zerschlagene Straßen, Korruption ohne Ende. Die Leute hatten die Schnauze voll. Bis dahin standen wir doch quasi unter dem Regime Putins. Es wurde doch niemand gezwungen, auf den Maidan zu gehen von irgendwelchen Nazis, der US-Regierung oder sonst wem. Die meisten Menschen haben Polen, Deutschland oder die EU als Vorbild und fragen sich: Warum können wir uns nicht in diese Richtung entwickeln, was spricht dagegen?“
Wie so viele haben auch sie es nicht für möglich gehalten, dass geschieht, was nun Realität ist. Wadim erzählt, dass er im Januar noch eine Wohnung in Kiew gekauft hat – ohne schlechtes Gewissen. „Und dann das!“
Bildredaktion: Liane Geßner
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