Die Schuhe werden getragen, bis sie auseinanderfallen, der Ranzen wird von der älteren Schwester geerbt und Urlaub in den Sommerferien ist auch nicht drin. Kinderarmut ist im Wedding ein Problem. 2017 lebten allein im Gebiet Osloer Straße 64,9 Prozent der Kinder in Hartz IV-Familien. Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen das Problem lösen? Ein Kommentar.
In den Sommerferien in den Urlaub fahren, wie die meisten Kinder? Geht nicht. Stattdessen gibt es einige, die aus Scham über die verbrachten Ferien lügen. Nach den Ferien und dem Urlaubsaustausch ist es aber nicht vorbei mit der Scham, denn jetzt werden neue Bücher, Hefte, Stifte gebraucht. Naja, einfach in den Laden gehen und einkaufen, würden die meisten jetzt denken – aber auch das ist manchmal nicht so einfach. Denn ein alleinerziehendes Elternteil, das auf Sozialhilfen angewiesen ist, kann sich das bei mehreren schulpflichtigen Kindern nicht leisten. Also müssen die Kinder mit einem (gelben) Zettel zu der Klassenlehrerin, denn damit bekommen sie die Schulutensilien erstattet – schon wieder Scham. Weil (Grund-)Schulkinder das oft nicht verstehen, fragen sie nach: „Warum kriegt xy das umsonst?“ – schon wieder Scham. Die Kinder schämen sich, anders zu sein, sie schämen sich für etwas, wofür sie rein gar nichts können. Dann werden sie älter und fangen an zu verstehen, warum sie anders sind, also möchten sie sich angleichen und auch die neuen 120 Euro-Sneaker tragen. Stattdessen bekommen sie aber nur die 20 Euro-Victory Sneaker von Deichmann, nicht die Originalen und schon wieder heben sie sich negativ von der Masse ab.
Kommt es in der Klasse zu Gesprächen über die anstehende Klassenfahrt oder eine freiwillige Ski-Freizeit, können sie entweder gar nicht mit oder sie wollen nicht mit, denn dann müssten sie wieder mit dem (gelben) Zettel zur Lehrerin – sich also wieder schämen. Dabei sind solche Klassenfahrten oder Freizeiten doch so wichtig. Hier werden neue Freundschaften geschlossen oder bestehende gefestigt, gewissermaßen wird auch eine Art Selbstständigkeit entwickelt, aber das bleibt aus.
Das ist die Realität vieler Weddinger Kinder. In Mitte leben 43,5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Hartz IV-Familien, mehr sind es mit 45,3 Prozent nur in Neukölln. „Wird ein Kind in Wedding geboren, ist die Chance auf eine gute Schulbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und somit Selbstverwirklichung wesentlich geringer als zum Beispiel in Pankow“, stellte Stadtrat Ephraim Gothe (SPD), einst zuständig für Soziales und Gesundheit bei einem Pressegespräch mit dem Tagesspiegel fest.
Und was passiert stattdessen mit den Kindern? Sie tun so, als sei es ihnen egal, denn Kümmernis offenlegen kommt nicht in Frage. Das wäre ja ein Zeichen von Schwäche und Schwächen haben sie in ihren Augen sowieso genug. Die Kinder suchen sich also Freunde, die genauso anders sind wie sie und hängen sich von den anderen ab. Sie bleiben in ihrer Blase, die man in unserer Gesellschaft als ‚sozial schwach‘ bezeichnet. Wenn man jedoch um die Ecke denkt, wird schnell klar, dass diese Blase genau das Gegenteil ist: Sie ist vielleicht monetär oder wirtschaftlich schwach, aber ganz bestimmt nicht unsozial. Die Menschen in dieser Blase wissen, wie wichtig gegenseitige Unterstützung ist: Du kannst Autos reparieren? Okay, ich kann Wände streichen. Du bist krank? Okay, ich gehe für dich einkaufen, dafür machst du es das nächste Mal für mich. Das ist prinzipiell erstmal gut. Das Problem entsteht nur, wenn ein Mitglied dieser Blase diese durchstechen möchte, um herauszukommen und etwas anderes zu machen.
Wenn beispielsweise ein Kind einer alleinerziehenden Mutter, die auf Sozialhilfen angewiesen ist, auf legalem Weg ein bisschen Taschengeld mit Hilfe eines Aushilfsjobs dazuverdienen möchte, um sich endlich die originalen 120 Euro-Sneaker zu kaufen, darf es das nicht. Beziehungsweise, rechtlich darf es das natürlich schon, aber alles was der oder die Jugendliche:r verdient, wird der Mutter von ihrer Sozialhilfe gekürzt. Das heißt: Wieder keinen neuen Sneaker.
Bleiben wir bei diesem Bespiel und nehmen an, der oder die Jugendliche:r boxt sich irgendwie zum Abitur durch. Er oder sie hält die erlebte Scham aus und beschließt zu studieren, um es besser zu haben. Zunächst wird es aber nicht besser, denn zu Beginn des Studiums kommt die nächste Hürde: Der Bafög-Antrag. Diejenigen, die einen solchen Antrag schon einmal gestellt haben, wissen, dass es sich hier irgendwie um einen kleinen Seelenstriptease handelt: Wie viel verdient deine Mutter und war sie schon vor zwei Jahren arbeitslos? Was ist mit deinem Vater? Warum habt ihr keinen Kontakt? Wie viel Bargeld hast du aktuell im Portemonnaie? All diesen Fragen muss sich der oder die Studierende aussetzten – jährlich. Natürlich können wir froh sein, dass wir ein System haben, das theoretisch allen Menschen das Studieren ermöglicht. Trotzdem ist es nicht einfach, vor allem nicht, wenn man die erste Person ist, die die Blase durchstechen möchte.
Dabei gibt es doch ein Instrument oder eher eine Idee, welche ein G7-Staat wie Deutschland nutzen könnte, um Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und überhaupt allen Menschen all die Scham und den Stress zu nehmen: Das bedingungslose Grundeinkommen, wie es Rutger Bregman in seinem Buch ‚Utopien für Realisten‘ beschreibt. Vielleicht hört sich die Idee zunächst wirklich utopisch an: „Jeder Bürger und jede Bürgerin bekommt ab der Geburt bedingungslos 1200 Euro monatlich zusätzlich zum Einkommen durch Arbeit.“ Aber ganz ehrlich, vor 20 Jahren hätte auch niemand gedacht, dass es irgendwann Handys gibt, die wie kleine Computer funktionieren oder die Möglichkeit mittels Stammzellen, Fleisch in einer Petrischale zum Verzehr zu kultivieren. Diese Idee hat viele Vorteile: Es würde keine Menschen ohne Obdach mehr geben, jeder Mensch könnte ohne Sorgen studieren gehen und Hobbies ausüben, für der er oder sie sonst vielleicht kein Geld mehr übrighätte. Jedes Kind könnte mit auf Ski-Freizeit, ohne gelben Zettel. Nachteile gäbe es eigentlich keine, es gibt nur eine – auf den ersten Blick nicht ganz unberechtigte – Sorge: Wenn Menschen bedingungslos 1200 Euro bekommen würden, dann würde niemand mehr arbeiten. Diese Sorge ist nur auf den ersten Blick berechtigt. In Studien wurden Menschen befragt, wie sich, ihrer Meinung nach, ihr Leben mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ändern würde. Dabei kam heraus, dass zwar viele ihre wöchentliche Arbeitszeit um fünf Stunden reduzieren würden, in der übrigen Zeit jedoch sehr wahrscheinlich produktiver wären, weil sie glücklicher wären und weniger Stress hätten. Außerdem sei laut einer Studie das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz nach Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommen um 1,84 % pro Jahr gestiegen. Das wäre ja nicht möglich, wenn die Menschen nicht mehr arbeiten würden, nur weil sie das bedingungslose Grundeinkommen bekommen.
Klar, Geld macht nicht bedingungslos glücklich, aber es kann das Leben in einem kapitalistischen System definitiv erleichtern. Rutger Bregman sagt: „Das wahre Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.“ Wir sollten unsl trauen, mehr zu phantasieren und zu handeln, damit diese Utopie vielleicht bald Realität werden kann.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen …
TOLLE ANALYSE !!!