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Bedingungsloses Grundeinkommen:
Ein Mittel gegen Kinderarmut?

29. September 2021
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Die Schu­he wer­den getra­gen, bis sie aus­ein­an­der­fal­len, der Ran­zen wird von der älte­ren Schwes­ter geerbt und Urlaub in den Som­mer­fe­ri­en ist auch nicht drin. Kin­der­ar­mut ist im Wed­ding ein Pro­blem. 2017 leb­ten allein im Gebiet Oslo­er Stra­ße 64,9 Pro­zent der Kin­der in Hartz IV-Fami­li­en. Könn­te ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men das Pro­blem lösen? Ein Kommentar.

Schulranzen
Foto: And­rei Schnell

In den Som­mer­fe­ri­en in den Urlaub fah­ren, wie die meis­ten Kin­der? Geht nicht. Statt­des­sen gibt es eini­ge, die aus Scham über die ver­brach­ten Feri­en lügen. Nach den Feri­en und dem Urlaub­saus­tausch ist es aber nicht vor­bei mit der Scham, denn jetzt wer­den neue Bücher, Hef­te, Stif­te gebraucht. Naja, ein­fach in den Laden gehen und ein­kau­fen, wür­den die meis­ten jetzt den­ken – aber auch das ist manch­mal nicht so ein­fach. Denn ein allein­er­zie­hen­des Eltern­teil, das auf Sozi­al­hil­fen ange­wie­sen ist, kann sich das bei meh­re­ren schul­pflich­ti­gen Kin­dern nicht leis­ten. Also müs­sen die Kin­der mit einem (gel­ben) Zet­tel zu der Klas­sen­leh­re­rin, denn damit bekom­men sie die Schu­lu­ten­si­li­en erstat­tet – schon wie­der Scham. Weil (Grund-)Schulkinder das oft nicht ver­ste­hen, fra­gen sie nach: „War­um kriegt xy das umsonst?“ – schon wie­der Scham. Die Kin­der schä­men sich,  anders zu sein, sie schä­men sich für etwas, wofür sie rein gar nichts kön­nen. Dann wer­den sie älter und fan­gen an zu ver­ste­hen, war­um sie anders sind, also möch­ten sie sich anglei­chen und auch die neu­en 120 Euro-Snea­k­er tra­gen. Statt­des­sen bekom­men sie aber nur die 20 Euro-Vic­to­ry Snea­k­er von Deich­mann, nicht die Ori­gi­na­len und schon wie­der heben sie sich nega­tiv von der Mas­se ab. 

Kommt es in der Klas­se zu Gesprä­chen über die anste­hen­de Klas­sen­fahrt oder eine frei­wil­li­ge Ski-Frei­zeit, kön­nen sie ent­we­der gar nicht mit oder sie wol­len nicht mit, denn dann müss­ten sie wie­der mit dem (gel­ben) Zet­tel zur Leh­re­rin – sich also wie­der schä­men. Dabei sind sol­che Klas­sen­fahr­ten oder Frei­zei­ten doch so wich­tig. Hier wer­den neue Freund­schaf­ten geschlos­sen oder bestehen­de gefes­tigt, gewis­ser­ma­ßen wird auch eine Art Selbst­stän­dig­keit ent­wi­ckelt, aber das bleibt aus. 

Das ist die Rea­li­tät vie­ler Wed­din­ger Kin­der. In Mit­te leben 43,5 Pro­zent aller Kin­der und Jugend­li­chen in Hartz IV-Fami­li­en, mehr sind es mit 45,3 Pro­zent nur in Neu­kölln. „Wird ein Kind in Wed­ding gebo­ren, ist die Chan­ce auf eine gute Schul­bil­dung, Zugang zum Arbeits­markt und somit Selbst­ver­wirk­li­chung wesent­lich gerin­ger als zum Bei­spiel in Pan­kow“, stell­te Stadt­rat Ephra­im Gothe (SPD), einst zustän­dig für Sozia­les und Gesund­heit bei einem Pres­se­ge­spräch mit dem Tages­spie­gel fest.

Und was pas­siert statt­des­sen mit den Kin­dern? Sie tun so, als sei es ihnen egal, denn Küm­mer­nis offen­le­gen kommt nicht in Fra­ge. Das wäre ja ein Zei­chen von Schwä­che und Schwä­chen haben sie in ihren Augen sowie­so genug. Die Kin­der suchen sich also Freun­de, die genau­so anders sind wie sie und hän­gen sich von den ande­ren ab. Sie blei­ben in ihrer Bla­se, die man in unse­rer Gesell­schaft als ‚sozi­al schwach‘ bezeich­net. Wenn man jedoch um die Ecke denkt, wird schnell klar, dass die­se Bla­se genau das Gegen­teil ist: Sie ist viel­leicht mone­tär oder wirt­schaft­lich schwach, aber ganz bestimmt nicht unso­zi­al. Die Men­schen in die­ser Bla­se wis­sen, wie wich­tig gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung ist: Du kannst Autos repa­rie­ren? Okay, ich kann Wän­de strei­chen. Du bist krank? Okay, ich gehe für dich ein­kau­fen, dafür machst du es das nächs­te Mal für mich. Das ist prin­zi­pi­ell erst­mal gut. Das Pro­blem ent­steht nur, wenn ein Mit­glied die­ser Bla­se die­se durch­ste­chen möch­te, um her­aus­zu­kom­men und etwas ande­res zu machen. 

Wenn bei­spiels­wei­se ein Kind einer allein­er­zie­hen­den Mut­ter, die auf Sozi­al­hil­fen ange­wie­sen ist, auf lega­lem Weg ein biss­chen Taschen­geld mit Hil­fe eines Aus­hilfs­jobs dazu­ver­die­nen möch­te, um sich end­lich die ori­gi­na­len 120 Euro-Snea­k­er zu kau­fen, darf es das nicht. Bezie­hungs­wei­se, recht­lich darf es das natür­lich schon, aber alles was der oder die Jugendliche:r ver­dient, wird der Mut­ter von ihrer Sozi­al­hil­fe gekürzt. Das heißt: Wie­der kei­nen neu­en Sneaker. 

Nach­hil­fe im Medi­en­hof Wed­ding. FotO. David Ausserhofer

Blei­ben wir bei die­sem Bespiel und neh­men an, der oder die Jugendliche:r boxt sich irgend­wie zum Abitur durch. Er oder sie hält die erleb­te Scham aus und beschließt zu stu­die­ren, um es bes­ser zu haben. Zunächst wird es aber nicht bes­ser, denn zu Beginn des Stu­di­ums kommt die nächs­te Hür­de: Der Bafög-Antrag. Die­je­ni­gen, die einen sol­chen Antrag schon ein­mal gestellt haben, wis­sen, dass es sich hier irgend­wie um einen klei­nen See­len­strip­tease han­delt: Wie viel ver­dient dei­ne Mut­ter und war sie schon vor zwei Jah­ren arbeits­los? Was ist mit dei­nem Vater? War­um habt ihr kei­nen Kon­takt? Wie viel Bar­geld hast du aktu­ell im Porte­mon­naie? All die­sen Fra­gen muss sich der oder die Stu­die­ren­de aus­setz­ten – jähr­lich. Natür­lich kön­nen wir froh sein, dass wir ein Sys­tem haben, das theo­re­tisch allen Men­schen das Stu­die­ren ermög­licht. Trotz­dem ist es nicht ein­fach, vor allem nicht, wenn man die ers­te Per­son ist, die die Bla­se durch­ste­chen möchte. 

Dabei gibt es doch ein Instru­ment oder eher eine Idee, wel­che ein G7-Staat wie Deutsch­land nut­zen könn­te, um Kin­dern, Jugend­li­chen, jun­gen Erwach­se­nen und über­haupt allen Men­schen all die Scham und den Stress zu neh­men: Das bedin­gungs­lo­se Grund­ein­kom­men, wie es Rut­ger Breg­man in sei­nem Buch ‚Uto­pien für Rea­lis­ten‘ beschreibt. Viel­leicht hört sich die Idee zunächst wirk­lich uto­pisch an: „Jeder Bür­ger und jede Bür­ge­rin bekommt ab der Geburt bedin­gungs­los 1200 Euro monat­lich zusätz­lich zum Ein­kom­men durch Arbeit.“ Aber ganz ehr­lich, vor 20 Jah­ren hät­te auch nie­mand gedacht, dass es irgend­wann Han­dys gibt, die wie klei­ne Com­pu­ter funk­tio­nie­ren oder die Mög­lich­keit mit­tels Stamm­zel­len, Fleisch in einer Petri­scha­le zum Ver­zehr zu kul­ti­vie­ren. Die­se Idee hat vie­le Vor­tei­le: Es wür­de kei­ne Men­schen ohne Obdach mehr geben, jeder Mensch könn­te ohne Sor­gen stu­die­ren gehen und Hob­bies aus­üben, für der er oder sie sonst viel­leicht kein Geld mehr übrig­hät­te. Jedes Kind könn­te mit auf Ski-Frei­zeit, ohne gel­ben Zet­tel. Nach­tei­le gäbe es eigent­lich kei­ne, es gibt nur eine – auf den ers­ten Blick nicht ganz unbe­rech­tig­te – Sor­ge: Wenn Men­schen bedin­gungs­los 1200 Euro bekom­men wür­den, dann wür­de nie­mand mehr arbei­ten. Die­se Sor­ge ist nur auf den ers­ten Blick berech­tigt. In Stu­di­en wur­den Men­schen befragt, wie sich, ihrer Mei­nung nach, ihr Leben mit einem bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men ändern wür­de. Dabei kam her­aus, dass zwar vie­le ihre wöchent­li­che Arbeits­zeit um fünf Stun­den redu­zie­ren wür­den, in der übri­gen Zeit jedoch sehr wahr­schein­lich pro­duk­ti­ver wären, weil sie glück­li­cher wären und weni­ger Stress hät­ten. Außer­dem sei laut einer Stu­die das Brut­to­in­lands­pro­dukt der Schweiz nach Ein­füh­rung eines bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men um 1,84 % pro Jahr gestie­gen. Das wäre ja nicht mög­lich, wenn die Men­schen nicht mehr arbei­ten wür­den, nur weil sie das bedin­gungs­lo­se Grund­ein­kom­men bekommen.

Klar, Geld macht nicht bedin­gungs­los glück­lich, aber es kann das Leben in einem kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem defi­ni­tiv erleich­tern. Rut­ger Breg­man sagt: „Das wah­re Pro­blem unse­rer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut gin­ge oder dass es uns in Zukunft schlech­ter gehen könn­te. Das wah­re Pro­blem ist, dass wir uns nichts Bes­se­res vor­stel­len kön­nen.“ Wir soll­ten unsl trau­en, mehr zu phan­ta­sie­ren und zu han­deln, damit die­se Uto­pie viel­leicht bald Rea­li­tät wer­den kann.

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