Wie unser Stadtteil wurde, was er ist. Von seinen Ursprüngen als Feldmark und Heide bis zu einem der dichtbesiedeltsten Orte Deutschlands – der Wedding hat eine bewegte Geschichte.
Industriestandort Wedding
Die Dampfmaschine, die 1765 in England erfunden wurde, eroberte in nur kürzester Zeit die ganze Welt. Sie war Voraussetzung und Motor der Industriellen Revolution, weil sie die bis dato agrarisch und handwerklich geprägte Güterproduktion radikal verändern sollte. Schon bald erhielt sie Einzug in Webereien und Spinnereien, in die Kohle‑, Eisen- und Stahlproduktion. 1835 nahm die erste Eisenbahn ihren Betrieb in Deutschland auf und eröffnete damit völlig neue Möglichkeiten, Waren zu transportieren.
In Deutschland setzte diese Entwicklung erst Mitte des 19. Jahrhunderts vollends ein. Für die Ansiedlung von Industriebetrieben bot sich der Wedding an, weil er sowohl ausreichend über (Land-)arbeiter als auch über Gewerbeflächen verfügte. Weitere Standortvorteile waren die 1841 eröffnete Eisenbahnlinie bis Stettin, mit dem Hamburger Bahnhof, und der 1848 begonnene Ausbau des Spandauer Schifffahrtskanals mit seiner Ausweitung zum Nordhafen. An der Panke hatten sich zwischen 1846 und 1873 mehr als ein Dutzend Lederfabriken niedergelassen, die ihr Abwasser in die Panke ableiteten. Dieses unerträgliche stinkende Wasser war nur einer der Nachteile, die die Industrialisierung im Wedding mit sich bringen sollte. Nichts desto trotz ging nun alles sehr schnell: 1851 eröffnete der Pharmazeut Ernst Schering eine Apotheke. Mit ihr legte er den Grundstein für die zehn Jahre später errichtete Chemiefabrik in der Müllerstraße, die sich zu einem weltweit bedeutenden Pharmakonzern mausern sollte. An der Osloer Straße ließ sich 1855 die Maschinenfabrik R. Roller nieder, die Maschinen für die Zündholzherstellung produzierte.
Vor allem die Eingemeindung 1861 bewirkte ein explosionsartiges Anschwellen des Stadtgebietes Wedding, weil sich nun auch zahlreiche Großunternehmen ansiedelten. So expandierte das Unternehmen von Emil Rathenau, die AEG-Apparatefabrik, mit der Produktion von Elektromotoren, Kraftwerksteilen und Straßenbahnen. 1896 kam eine Großmaschinenfabrik südlich des neu angelegten Humboldthains hinzu. Immerhin waren 1907 insgesamt 7.500 Arbeiter bei der AEG beschäftigt. Mit den großen Fabrikgebäuden entstanden unter der Regie von Peter Behrens richtungsweisende Bauwerke, die die moderne Architektur des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägten. Hier auf dem Gelände des ehemaligen Viehmarkts hatte sich ebenfalls Carl Kühne 1890 mit einer Weinessig- und Mostrichfabrik niedergelassen.
Auch die Schwartzkopffsche Berliner Maschinenbau AG verschlug es 1862 in den Wedding, in deren Fabrikhallen bis 1874 jährlich rund 150 Lokomotiven hergestellt wurden. 1890 siedelte sich nördlich vom Luisenbad die renommierte Tresorfabrik S.J. Arnheim an. Als weiterer Industrie-Pionier der damaligen Zeit gilt Sigmund Bergmann, der 1879 in den USA mit Thomas Edison die erste Glühbirne erfunden hatte. Der gebürtige Deutsche gründete zuerst in Moabit ein Unternehmen, das Glühlampen, Dynamos und Elektromotoren produzierte. 1904 zog das Glühlampenwerk in den Wedding und bebaute das Areal der heutigen Osram-Höfe mit mehreren Geschossfabriken – zu der Zeit das größte Werk Europas. Prägend für den Wedding wurde ebenso ein Maschinenbauunternehmen, das sich 1916 an der Gottschedstraße niederließ und später unter dem Firmennamen „Rotaprint“ Druckmaschinen in aller Welt exportierte.
Transit Wedding
Lange Zeit war der Wedding als „Armen- und Verbrecher-Kolonie“ verschrien, weshalb weder der Kreis Niederbarnim noch die Stadt Berlin ein wirkliches Interesse daran hatten, das Gebiet einzugemeinden. Man befürchtete, die Kosten für die Infrastruktur, aber auch für die Armenfürsorge übernehmen zu müssen. Als Berlin jedoch 1842 gesetzlich zur Armenpflege verpflichtet wurde, entschieden sich die Stadtverordneten 1861 notgedrungen zur Eingemeindung der Vorstädte Gesundbrunnen, Wedding und Moabit. Plötzensee folgte 1915 sehr viel später. Nun platzte Berlin aus allen Nähten – ein neuer Bebauungsplan musste her. Besser bekannt wurde er als Hobrecht-Plan, benannt nach seinem Verfasser. Er diente zum einen für den Bau einer unterirdischen Kanalisation, die 1873–93 erfolgreich umgesetzt wurde. Zum anderen war er Voraussetzung für eine großflächige Stadterweiterung im Norden und Osten Berlins. Bestehende Chausseen, die heute Schönhauser Allee, Müllerstraße, Potsdamer Straße oder Frankfurter Allee heißen, wurden übernommen und dazwischen um ein rechtwinkliges System von Erschließungsstraßen und symmetrischen Stadtplätzen ergänzt, die von der Bebauung freizuhalten waren. Weitere Festlegungen zu Art und Dichte der Bebauung oder zur vorgesehenen Nutzung wurden mit dem Verweis auf die Baupolizeiordnung nicht weiter getroffen. Die wiederum erlaubte nicht mehr als sechs Geschosse und orientierte sich bei dem Innenhofmaß am Einsatz damals gebräuchlicher Feuerwehrleitern.
Diese Minimalvorgaben führten aufgrund der massenhaften Zuwanderung und der skrupellosen Bodenspekulation zu einer verdichteten Bauweise mit größtmöglicher Ausnutzung von Grund und Boden. So entstanden unter einheitlicher Traufhöhe zwar Straßenfronten mit aufwändigem Fassadenschmuck. Dahinter jedoch wurden die Parzellen bis in den letzten Winkel ausgenutzt durch eine Reihe von bis zu acht Hinterhöfen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der 1972 gesprengte Meyers Hof, den der Fabrikbesitzer Jacques Meyer 1874 in der Ackerstraße mit insgesamt 280 Wohnungen erbauen ließ. Das war die Geburtsstunde der berüchtigten Berliner Mietskasernen mit ihrer Blockrandbebauung: dunkel, feucht und überbelegt. Nicht minder belastete die euphemistisch bezeichnete „Berliner Mischung“ aus Wohnen und Gewerbe die Bewohner, denn die Fabriken mitten in den Wohnblöcken verpesteten die Luft und machten Lärm. Das war beispielsweise auch bei der Großbäckerei Wittler-Brot in der Maxstraße der Fall. Denn wo heute ein Pflegeheim untergebracht ist, wurden in den 1920er Jahren am Tag bis zu 66.000 Brote von 2.000 Beschäftigten gebacken.
Gerade die Berliner Außenbezirke, wie der Wedding, wurden vom Hobrecht-Plan maßgeblich geprägt, bis er 1919 außer Kraft gesetzt wurde. Wen wundert es, denn hier waren noch Äcker und Wiesen, die als Bauland erschlossen werden konnten. Ältere Wohnbebauungen wurden durch größere Mietshäuser ersetzt (Abb.4/ Grüntaler Straße, um 1910). Im Wedding verdichtete sich das Stadtgebiet besonders um den Nettelbeckplatz.
Erst in den Jahren um 1900 sollte der Wedding über die Seestraße hinauswachsen: Es entstand die Bebauung des Afrikanischen Viertels und rund um den Schillerpark, der 1913 feierlich als erster moderner Volkspark Berlins eröffnet wurde. Vieles, was ein neuer Stadtbezirk an Infrastruktur notwendigerweise benötigt, kann an dieser Stelle gar nicht ausführlich genannt werden. So wurden bis zum Ende des 1. Weltkrieges allein 69 Schulen im nördlichen Berlin eingerichtet. Bahnhöfe, Brücken, Friedhöfe, Feuerwehr- und Polizeiwachen – an alles musste gedacht werden. Direkt an der Seestraße wurde die „Krankenstadt“, das Rudolf-Virchow-Krankenhaus, nach Plänen des Stadtbaurates Ludwig Hofmann 1899–1906 aus dem Boden gestampft.
Anfang der 1920er Jahre war bis auf den nordöstlichen Teil von Prenzlauer Berg und das nordwestliche Ende des Weddings alles flächendeckend bebaut. Zählten die Außenbezirke bei ihrer Eingemeindung 1861 noch 25.000 Einwohner, hatte sich die Zahl 1913 mit 250.000 bereits verzehnfacht, um 1920 mit 337.193 Einwohnern einen absoluten Höhepunkt zu erreichen.
1920 entstand Berlin, wie wir es heute kennen. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz entschied die Preußische Landesversammlung, (Klein-)Berlin mit den Städten Lichtenberg, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlottenburg, Neukölln und Spandau, den Kreisen Niederbarnim, Osthavelland und Teltow, der Stadtgemeinde Cöpenick, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken zu einer Einheitsgemeinde mit 20 Bezirken zusammenzuschließen. Mit diesem Federstrich wurde Berlin mit einer Einwohnerzahl von 3,8 Mio. Menschen von einem Tag auf den anderen die drittgrößte Stadt der Welt, nach London und New York.
Aus Wedding, Gesundbrunnen sowie Teilen der Oranienburger Vorstadt und der Rosenthaler Vorstadt wurde der 3. Verwaltungsbezirk gebildet und erhielt den Namen Wedding. Diese Bezirksstruktur blieb bis 2001 bestehen, als die 23 Bezirke nach einer Verwaltungsreform zu zwölf neuen Bezirken zusammengelegt worden sind. Der Wedding verlor dabei seine Eigenständigkeit und fusionierte mit den ehemaligen Bezirken Mitte und Tiergarten zum Bezirk Mitte.
Autor: Holger Barth