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Die Besichtigung

29. April 2019

Dies ist die Ergän­zung zum Arti­kel „Wenn der Inves­tor kommt“, wel­cher sich in der Lüde­ritz­stra­ße abspielt. Der fol­gen­de Text bezieht sich ein­zig auf die Gewer­be­räu­me im Erd­ge­schoss. Es ist emp­feh­lens­wert, den Aus­gangs­ar­ti­kel zuvor zu lesen. 

Rück­blick.
Mit­te März luden die neu­en Mie­ter der Gewer­be­räu­me zur Besich­ti­gung ein. Nach aller­lei Dreck, Nacht­lärm sowie Unge­wiss­heit, eine Metho­de um mit der Nach­bar­schaft in Kon­takt zu kom­men. Auch wenn ich kein Mie­ter des Hau­ses bin, war ich per­sön­lich dort und so ent­stand die­ser Text:

So bege­be ich mich mit Neu­gier zur erwähn­ten Füh­rung. Es ist April-Wet­ter. Son­ne und Regen wech­seln sich ab. Beglei­tet von fri­schen Böen, die die Lüde­ritz­stra­ße auf- und ab peitschen.

Ich gehe in den Haus­flur, fol­ge einer Dame, die in besag­te „Woh­nung“ geht und sage „Hal­lo“. Von einem ande­ren Herrn kommt ein freund­li­ches „Hal­lo“ zurück, die Lau­ne reicht zum fröh­li­chen Händedruck. 

Wäh­rend mei­ne Bli­cke noch durch den Raum schwei­fen, vom sty­lishen Deko­fahr­rad an der Wand, hoch zu dem ein­ge­zo­ge­nen Zwi­schen­bo­den, für die Erhö­hung der Bet­ten­ka­pa­zi­tät, hin­über zur Kli­ma­an­la­ge, ste­hen plötz­lich 4 oder 5 wei­te­re Leu­te in der Woh­nung. Sie alle ken­nen sich, sie alle ken­nen die bei­den Inha­ber. Es folgt ungläu­bi­ges Stau­nen, über die Ver­än­de­rung, wel­che hier statt­fand. Wie schlimm es damals aus­sah. Nun die­ser groß­ar­ti­ge Fuß­bo­den. Ein­fach toll, alles toll, alles geil, drü­cken die­se Gesich­ter aus, der Mief des Alten ist end­lich weg.

Ich schlen­de­re auf und ab, gucke mir die Rega­le und Schrän­ke an. Ikea. Hier wird sich jeder Urlau­ber wohl­füh­len. Zeit­gleich den­ke ich an die über­teu­er­ten Stu­den­ten­apart­ments in der Utrech­ter Straße.
Ein­fachs­te tech­ni­sche Ein­rich­tung, Mikro­wel­le von Exqui­sit, aber Miet­prei­se, als hät­te man eine inte­grier­te Pro­fi­kü­che. Mit der Not lässt es sich immer am leich­tes­ten spielen.

Nun geht es rüber in das zwei­te Apart­ment, das grö­ße­re der bei­den – zu dem Zeit­punkt hat der Schnei­der auf der ande­ren Sei­te des Auf­gangs noch 14 Tage bis sein Miet­ver­trag enden wird. 6 Leu­te kön­nen hier schla­fen. Ein Zwi­schen­bo­den sorgt wie­der für zusätz­li­che Bet­ten, im sepa­ra­ten Schlaf­zim­mer am Ende der „Woh­nung“ Stim­mungs­bil­der an der Wand, die ver­mit­teln: Ber­lin ist ein­fach geil. 

Im unte­ren Bereich flim­mert ein Fern­se­her an der Wand, auf dem jetzt ein Vor­her-Nach­her-Video abge­spielt wird. Die Men­ge staunt noch ein­mal, wie es vor­her hier aus­sah, wie her­un­ter­ge­kom­men. Nur der Boden in der Küche neben­an wur­de erhal­ten. Das war schein­bar eine sau­gu­te Idee, ver­rät die Eupho­rie in der Stim­me beim Erzäh­len. Ansons­ten war es ein­fach krass, ist der gemein­sa­me Tenor. Was so krass war, das weiß ich nicht genau. Es war halt krass. Aber nun ist alles geil.

6 Wochen dau­ert der Umbau zu Apart­ments wie die­sen nor­ma­ler­wei­se. 6 Wochen, um den Mief alt­ein­ge­ses­se­ner Gewer­be zu besei­ti­gen. Nur hier, im Wed­ding, dau­er­te es 4 ½ Mona­te, vie­les ist schiefgelaufen.

Aber nun, fer­tig. Über­all in Ber­lin gibt es die­se Apart­ments, aber das ist das ers­te Pro­jekt im Wed­ding. Hier ist rich­tig gei­les Ber­li­ner Leben, heißt es. Ich über­le­ge kurz „war“ in den Satz ein­zu­streu­en, belas­se es aber doch beim ein­fa­chen Zuhören.

Wer hier woh­nen wird, wird kom­plett unter­schied­lich sein, erzählt mir einer der bei­den Her­ren. Zumeist Geschäfts­rei­sen­de, manch­mal Fami­li­en. Was man nicht will, sind Hand­wer­ker. Die sau­fen manch­mal oder schmei­ßen Fla­schen auf die Stra­ße. Aber die Apart­ments sind sowie­so höher­prei­sig, schiebt man noch ein, Pro­blem gelöst. Geil.

Die gän­gi­gen Buchungs­por­ta­le füh­ren Woh­nun­gen wie die­se. Ein intel­li­gen­tes Buchungs­sys­tem wird den Preis ermit­teln, den der Markt je nach Zeit­punkt und Dau­er her­gibt. Wobei das Wort Woh­nung das böse Wort mit W ist. Es ist Gewer­be. Mie­te im Schnitt maxi­mal 4 Wochen. Ein Wohn­cha­rak­ter besteht. Es sei wie ein Hotel. Ver­rück­ter­wei­se Apart­ments. Es ist gut, wenn man die Geset­ze kennt.

Wie sie auf die­ses Objekt kamen? Die­se Gewer­be­flä­chen wur­den frei, mit der Opti­on auf das Gewer­be neben­an. Das macht es spä­ter leich­ter für die Putzteams.

Außer­dem ist der Wed­ding rich­tig geil im Kom­men. Dar­um ist man jetzt das ers­te Mal in Wed­ding. Er schiebt noch schnell hin­ter­her: Es hie­ße ja „im“ Wedding.
Die Stim­mung ist super­du­per. Ich den­ke mir: Ich fin­de euch zwar nicht sym­pa­thisch, aber eure Haus­auf­ga­ben habt ihr wenigs­tens gemacht.

Und dann ste­hen wir plötz­lich alle gemein­sam in der Küche. Das Sekt­glas in der Hand. Wir sto­ßen an. Er lacht, sie lachen, ich lache, wir alle lachen. Maxi­ma­le Ren­di­te, maxi­mal geil das Gan­ze hier. Alles geil, habe ich das Gefühl.

Ich schlen­de­re noch etwas wei­ter durch die „Woh­nung“, die kei­ne ist. Es ist ein Gewer­be, ein Hotel­zim­mer. Strikt an die Geset­ze hal­tend wird das auch so bleiben.

Der Sekt ist alle, es war lei­der nicht viel und ich über­le­ge, was ich hier noch will. Die­se Räu­me ste­hen für alles, was ich eigent­lich ver­ach­te und was den­noch legal ist. Es steht für ein Sys­tem, das krank macht. Wel­ches die Lebens­adern einer Stadt ver­stopft wie Kalk­ab­la­ge­run­gen in der Blut­bahn. Es ist das Gerinn­sel im Gehirn, das sich lang­sam auf­baut, jeder­zeit bereit zum Plat­zen. Dabei wün­sche ich den bei­den Her­ren nicht, dass sie mit ihren Ideen schei­tern, die Fol­gen die­ser Idee aber sind ungesund.

Mit betäub­tem Schwung stel­le ich das Glas auf der Küchen­plat­te ab, gehe nach vor­ne Rich­tung Tür und sage höf­lich „Dan­ke“. Maxi­mal geil. Maxi­ma­len Erfolg. Jetzt schon ein gei­ler Tag für alle hier, ver­su­che ich aus­zu­drü­cken. Das, so glau­be ich, funk­tio­niert nicht.

Ich ste­he an der Tür und habe das Gefühl, die Bli­cke durch­lö­chern mich von hin­ten. Wer oder was war das, was woll­te die­ser Typ hier? Ob das wirk­lich so stimmt, dass weiß ich nicht. Ich dre­he mich noch ein­mal um, schüt­tel die Hän­de der bei­den Her­ren und gehe hinaus.

Drau­ßen scheint die Son­ne, die Wim­pel der Lüde­ritz­stra­ße flat­tern im Wind. Ich schüt­tel mich aus Reflex, ich räus­pe­re mich sogar, ein Walk of Shame nach Hau­se. Nach 40 Metern kommt plötz­lich wie­der der Regen – es ist halt nie so schön, wie es am Anfang wirkt. Aber heu­te ist alles maxi­mal geil, maxi­mal krass, maxi­ma­le Ren­di­te. Was ein gei­les Sys­tem höre ich sie drin­nen den­ken. Der Regen wird zu Hagel.

Dies ist die Ergän­zung zum Arti­kel „Wenn der Inves­tor kommt“, wel­cher sich in der Lüde­ritz­stra­ße abspielt. Der vor­her­ge­hen­de Text bezog sich ein­zig auf die Gewer­be­räu­me im Erd­ge­schoss. Es ist emp­feh­lens­wert, den Aus­gangs­ar­ti­kel zuvor zu lesen. 

Andaras Hahn

Andaras Hahn ist seit 2010 Weddinger. Er kommt eigentlich aus Mecklenburg-Vorpommern. Schreibt assoziativ, weiß aber nicht, was das heißt und ob das gut ist. Macht manchmal Fotos: @siehs_mal
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