Viele haben bestimmt schon mal hinein gespäht, in die typische Weddinger Eckkneipe. Hinter Spitzengardinen und Leuchtreklame verbirgt sich eine kleine Parallelwelt, in der die Zeit still zu stehen scheint. Auf mich, einen zugezogenen Wahlweddinger, übten diese Orte schon immer eine besondere Anziehungskraft aus. Eine dieser Eckkneipen, das Brüsseler Eck, befindet sich in meiner direkten Nachbarschaft. Oft schon bin ich auf dem Weg zur Straßenbahn daran vorbei gelaufen, habe sehnsüchtige Blicke in das halbdunkle Innere geworfen, den Duft von altem Zigarettenrauch geschnuppert und dem riesigen Hund, der zu jeder Tag und Nachtzeit mit treuem Blick am Eingang Wache hält, den zotteligen Kopf getätschelt. Hinein traute ich mich jedoch nicht, ich fühlte mich wie ein Eindringling, der mit seiner Neugierde die Ruhe stört; zu oft hatte ich die alteingesessenen Berliner über die Touristen und die Zugezogenen schimpfen hören.
Seit langem schon keimte in mir aber die Idee, eine Fotoreihe über die alten Geschäfte und Lokale des Weddings zu machen, die wie Relikte vergangener Zeiten überall im Stadtteil wacker die Stellung halten und sich gegenüber den rasanten Veränderungen in der Stadt, sowie der längst auch im Wedding angekommenen Gentrifizierungswelle behaupten.
Ich fasste also Mut und entschied, mich den Tatsachen zu stellen. Die Kamera im Gepäck ging ich zur Tür hinaus, überbrückte die 50 Meter Bürgersteig entschlossenen Schrittes, stieg über ausgestreckte Hinterpfoten hinweg und stand schließlich im schummrigen Eingangsbereichs des Brüsseler Ecks. Während sich meine Augen noch an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte ich, wie sich mancherorts Köpfe drehten und ahnte, dass ich bereits Zentrum der Aufmerksamkeit geworden war. Mit Lampenfieber schlich ich zum Tresen und trug der Wirtin mein Anliegen vor – und wurde überrascht! Ich hatte Skepsis erwartet, wenn nicht sogar Ablehnung.
Stattdessen reichte man mir die Hand und Ilse stellte sich direkt mit Namen vor. Sie schenkte mir ein offenes Lächeln und ließ mich erzählen. Mein Projekt wurde mit Interesse aufgenommen und Ilse erzählte mir ein wenig über ihre Kneipe. Das Brüsseler Eck kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, hat mehrere Besitzerwechsel miterlebt und ist trotzdem immer seiner Bestimmung treu geblieben. Denn die Kneipe versteht sich weniger als Zechstube, sondern eher als Nachbarschaftstreff. Es werden regelmäßig kleine Dartturniere veranstaltet und einmal im Monat gibt es eine Skatrunde, zu der sich jung und alt zusammen finden. Überhaupt war ich überrascht, wie viele junge Leute Stammgast im Eck sind. Bisher war mir Berlin immer als ein Ort erschienen, wo zwar viele Generationen auf engem Raum zusammen leben, aber dennoch kaum ein Austausch zwischen ihnen stattfindet.
Hier erlebte ich eine ganz andere Seite dieser Stadt, die ich so noch nicht kennen lernen durfte. Wer sich traut zu fragen, erfährt auch Interessantes über den Kiez und die Menschen. Vor allem die älteren Gäste haben viele spannende Geschichten zu erzählen. Leider haben es die meisten Eckkneipen mittlerweile sehr schwer, da die alteingesessenen Berliner langsam aussterben und neue Kundschaft ausbleibt. Auch Ilse beklagt über zurückgehende Gästezahlen – die jungen Weddinger sind meist Zugezogene, die es eher in die neueren, szenigen Bars in Kreuzberg und Neukölln zieht. Dabei gibt es gar nichts, was dagegen spricht, einfach mal in der Nachbarschaft zu bleiben. Wer also wirklich Interesse an dem Stadtteil hat, in dem er lebt und nicht einfach nur „auf der Durchreise“ ist, ist hier an der richtigen Adresse. Die Atmosphäre ist gemütlich, die Menschen freundlich und die Getränke preiswert. Außerdem hat man – gerade als Neuberliner – die Möglichkeit die Stadt mal auf eine ganz andere Weise kennen zu lernen.
Autor/Fotos: Michael Wick
Brüsseler Eck
Brüsseler Str. 5, 13353 Berlin
Nicht alles auf den Kopf gestellt:
Brüsseler Eck: Alte Kneipe neu belebt
2022 gab es im “Eck” einen Betreiberinnenwechsel. Helena hat das Brüsseler Eck nun übernommen und neuen Wind reingebracht, den Charakter einer Kneipe aber beibehalten.