Der Berlinale-Wettbewerb ist lau gewesen in diesem Jahr? Egal. Filmfestivaldirektor Dieter Kosslick möge nun endlich in den Ruhestand gehen, die Berlinale müsse sich dringend neu erfinden – das interessierte am Freitag im Wedding keinen. Der Potsdamer Platz ist weit weg, wenn man in der Müllerstraße auf dem roten Kinosessel sitzt. Im City Kino Wedding war am Freitag Berlinale-Tag. Drei Filme wurden im Rahmen der 69. Filmfestspiele gezeigt. Es gab zwei tolle Filmgespräche, einen echten Leinwandstar und auch ein wunderbares Menu zum Film, serviert von der Gourmanderie im Vorderhaus des Kinos. Die Berlinale im Wedding, die kann gerne bleiben wie sie ist.
Die engagierten Kiezkinos im Fokus
Seit zehn Jahren kommt die Berlinale mit dem fliegenden roten Teppich auch in die Kieze. Das Filmfestival will damit den Fokus auf die kleinen Programmkinos mit ihren engagierten Teams setzen. Teams wie das vom City Kino Wedding. Anne Lakeberg von City Kino ist eine dieser Menschen, die Woche um Woche ausgewählte Kinofilme in die Kieze tragen. Auch die Berlinale hat sie wieder in ihr Kino geholt, doch damit nicht genug. Anne Lakeberg ist während der diesjährigen Berlinale mit dem fliegenden roten Teppich von Kiezkino zu Kiezkino gereist und hat die Filmvorführungen und ‑gespräche in den anderen Kinos moderiert. Am Freitag war sie nach ihrem siebentägigen Berlinale goes Kiez-Weg durch Friedrichshain (b‑ware! Ladenkino), Friedrichshagen (Kino Union), Kreuzberg (Sputnik Kino), Prenzlauer Berg (Lichtblick-Kino), Pankow (Blauer Stern) und Schöneberg (Odeon) in ihrem eigenen Kino im Wedding angekommen.
Von Berlinale-Müdigkeit war im City Kino Wedding am Freitag nichts zu spüren. Die Zuschauer kamen aus allen Teilen der Stadt, schritten zahlreich über den roten Teppich im Centre Francais. Die Vorstellungen waren ausverkauft und gefüllt mit Menschen, die sich freuten, ein Berlinale-Ticket ergattert zu haben. Auch wenn kein Wettbewerbsfilm gezeigt wurde und auch wenn der Standort des Lichtspielhauses irgendwo an der U 6 erst nachgeschlagen werden musste.
Im Gespräch mit Charlotte Rampling
Die Berlinale im City Kino Wedding in diesem Jahr brachte „Der Nachtportier“ aus dem Jahre 1974 auf die Leinwand. Es geht darin um die Beziehung einer KZ-Gefangenen und einem SS-Arzt – ein Skandalfilm zur Zeit der Erstausstrahlung. Im Anschluss an die Vorführung gab es ein ausführliches Gespräch mit Filmemacherin Liliana Cavani und der Hauptdarstellerin Charlotte Rampling. Rampling war tags zuvor am Potsdamer Platz der Goldene Ehrenbär für ihr Lebenswerk verliehen worden. Am Freitag war sie für die Fragen von Anne Lakeberg und dem Publikum im City Kino Wedding da. Auch Liliana Cavani gab ausführlich Einblick in ihre Arbeit und ihre Herangehensweise an die Geschichte.
Der Weg zurück zum Leben
Im Anschluss an diesen Klassiker wurde den Zuschauern mit „The Biggest Little Farm“ eine Dokumentation serviert. Zu sehen war wie der Filmemacher und Aussteiger John Chester mit seiner Frau Molly eine 80 Hektar große Farm Kalifornien zu neuem Leben erweckt. Das Ziel der zwei: den durch Monokultur ausgedörrten Boden mit natürlichen Methoden wieder zu beleben. Die Kinozuschauer folgten dem Paar acht Jahre lang auf ihrem bemerkenswerten Weg hin zu einer naturverbundenen Lebensweise.
Guten Appetit Filmfans!
Nach der eindrucksvollen und witzigen Dokumentation folgte ebenfalls ein Filmgespräch mit dem Filmemacher und schließlich ergänzte ein vom Film inspiriertes Menü den Abend. Claude Trendel vom französischen Restaurant Gourmanderie im Vorderhaus des Centre Francais tischte ein vegetarisches Drei-Gänge-Menü auf. Dabei kamen an den langen Tischen viele Menschen miteinander ins Gespräch über die Filme, die Berlinale, über den Wedding und über die Generation Netflix. Der Film, der Anlass für die Gespräche und das Essen war, startet im Frühsommer übrigens auch in Deutschland im regulären Kinoprogramm.
Nouvelle Vague im Weddinger Kino
Während die Teilnehmer des Kulinarischen Kinos in der Gourmanderie noch ihr hervorragendes Dinner genossen, nahmen bereits neue Gäste in dem roten Kinosesseln Platz. Als letzter Film des Berlinale-Tages in der Müllerstraße wurde im Rahmen des Dokumentarischen Forums „Varda par Agnès“ von Agnès Varda gezeigt. Die Fotografin, Installationskünstlerin und Wegbereiterin der Nouvelle Vague, ist eine Institution des französischen Kinos. Sie gibt mit dem Film Einblick in ihr Schaffen.
Auf Wiedersehen Berlinale!
Das war sie, die Berlinale im Wedding. Es war ein Gewinn für die Zuschauer und das City Kino Wedding. Es war aber vor allem auch ein Gewinn und eine verdiente Wertschätzung für die, die wie Anne Lakeberg und ihr Team das ganze Jahr über unermüdlich Kinofilme und Filmgespräche in die Kieze tragen. Sollen sie ändern, was sie wollen, die beiden neuen Berlinale-Festivalleiter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Aber mögen sie die Kiezkinos im Blick behalten und den fliegenden roten Teppich auch weiterhin auf die Reise schicken vom Potsdamer Platz nach Friedrichshagen nach Wedding!
PS: Die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin finden vom 20. Februar bis 1. März 2020 statt.
[osm_map_v3 map_center=“52.5584,13.3391” zoom=“18” width=“100%” height=“450” ]