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Kiezhaus Agnes Reinhold:
Basisdemokratie für alle im Stadtteil

4. Oktober 2022

Schon im Herbst 2016 plan­ten etli­che Stadt­ak­ti­vis­ten ein Kiez­haus im Wed­ding. Die Erwerbs­lo­sen­in­itia­ti­ve Bas­ta, die Grup­pe “Hän­de weg vom Wed­ding” und das inter­kul­tu­rel­len Gar­ten­pro­jekt “Im Gar­ten” ver­folg­ten ziel­stre­big und gemein­sam das Vor­ha­ben, ein neu­es Nach­bar­schafts­haus zu grün­den. Seit Sep­tem­ber 2018 gibt es die­ses nun in der Afri­ka­ni­schen Stra­ße: Ein Gespräch im und über das Kiez­haus Agnes Rein­hold.

Vor allem auch das Abweh­ren der Mie­ten­po­li­tik und der Moder­ni­sie­run­gen stan­den im Fokus und das Unter­stüt­zen der Bewoh­ner in der Nach­bar­schaft bei die­sen Zustän­den vor Ort und bei den loka­len Initia­ti­ven. Man fand die his­to­ri­sche Per­son Agnes Rein­hold, die durch ihre poli­ti­schen Akti­vi­tä­ten im Ber­lin des 19. Jahr­hun­derts beson­de­ren per­sön­li­chen Ein­satz zeig­te. Sie war poli­tisch aktiv, und sie ver­brei­te­te anar­chis­ti­sche Zei­tun­gen und Flug­blät­ter. “Sie leis­te­te damit einen frü­hen Bei­trag dazu, die ent­wür­di­gen­den Lebens­um­stän­de der Arbei­te­rin­nen und Arbei­ter anzu­pran­gern und zur poli­ti­schen Akti­on auf­zu­ru­fen”, so steht es in einer Bro­schü­re der Gus­tav-Land­au­er-Denk­malin­itia­ti­ve, die das Leben von Rein­hold erst kürz­lich auf­ge­ar­bei­tet hat.“ (nd 21.12.2017)

Die Lese­ecke im Kiez­haus Agnes Rein­hold – © Rena­te Straetling

Eröff­net wur­de das Kiez­haus dann im Sep­tem­ber 2018, mit Hil­fe von Anträ­gen bei Stif­tun­gen zur Anschub­fi­na­zie­rung, mit vie­len klei­nen Spen­den und mit Fördermitgliedschaften.

Ich führ­te ein Gespräch mit Tino und Fran­zi, die für die Öffent­lich­keits­ar­beit des Kiez­hau­ses zustän­dig sind. Tino ist seit dem Jahr 2013 in der „Hän­de weg vom Wedding“-Stadtteilinitiative, die damals den Mie­ter­pro­test in der Kolo­nie­stra­ße orga­ni­siert und auch in der Butt­mann­stra­ße einen Treff­punkt genutzt hat­te, aber kei­nen fes­ten Ort hatte.

Dar­über hin­aus gab und gibt es, so Tino, auch poli­ti­sche Grün­de, gesi­cher­te Räu­me zu nut­zen, sich unab­hän­gig von Ver­mie­tern, Woh­nungs­bau­un­ter­neh­men und Bezirks­äm­tern zu hal­ten. Gera­de bei Pro­tes­ten oder Haus­be­set­zun­gen gegen Mie­ten­po­li­tik kön­ne das wich­tig sein, z.B. mit Räu­mungs­be­schlüs­sen nach der sog. Ber­li­ner Linie (1981), die bin­nen 24 Stun­den nach einer Haus­be­set­zung und wegen Straf­an­trä­gen der Haus­be­sit­zer voll­streck­bar sind (taz 5.6.2018). Man woll­te unab­hän­gig sein, um eben auch unab­hän­gig Kri­tik üben zu können.

Also war die lei­ten­de Idee, sich Räu­me anzu­eig­nen und für die Nach­bar­schafts­ar­beit zur Ver­fü­gung zu stel­len. Die Initia­ti­ve wirk­te etwa drei Jah­re lang an den Ideen, der Suche und der Finan­zie­rung, bis der gegrün­de­te Ver­ein beschloss, ein Kiez­haus als sozia­les Zen­trum zu eröff­nen. Damit war es mög­lich, eine soli­da­ri­sche Infra­struk­tur für die Leu­te im Kiez, die sich weh­ren und ver­net­zen wol­len, anzubieten.

Das Kiez­haus ist par­tei­un­ab­hän­gig und hat einen Rat, in dem über Pro­jek­te und Akti­vi­tä­ten eben­so wie über die tech­ni­schen Belan­ge der Räu­me beschlos­sen wird. So gibt es ein­mal im Jahr ein Tref­fen, an dem der Laden reno­viert wird, und es gibt Initia­ti­ven, über deren Raum­nut­zung und Mit­wir­kung gemein­sam ent­schie­den wird, um die sozia­len und poli­ti­schen Ange­bo­te prak­ti­ka­bel zu halten.

Es wird ein Rah­men der Ver­trau­ens­bil­dung gege­ben, um auch neue und wach­sen­de Inter­es­sen ein­zu­bin­den. Das ist ein emi­nen­ter Vor­teil der Nach­bar­schafts­ar­beit unmit­tel­bar im Kiez, da aktu­el­le Trends und Ent­wick­lun­gen sofort auf­greif­bar werden.

Man ist ver­netzt mit vie­len Initia­ti­ven, z.B. auch mit NARUD e.V. und der Regis­ter­stel­le Ber­lin-Mit­te, der Mel­de­stel­le für Dis­kri­mi­nie­rung und rech­te Gewalt. Auf dem Tag der Zivil­cou­ra­ge am 19. Sep­tem­ber auf dem Wed­din­ger Leo­pold­platz gab es dazu Infor­ma­ti­on und Aktionen.

Der theo­re­ti­sche Rah­men für all die­se Krea­ti­vi­tä­ten und Akti­vi­tä­ten ist die Kri­tik an Aus­wüch­sen der Arbeits­welt und der Gewalt in der Gesellschaft.

Alles in allem also eine wei­te und gewich­ti­ge Platt­form für die soli­da­ri­sche Rah­men­set­zung loka­ler Inter­es­sen und kri­ti­scher Arbeit an den Lebens­fel­dern, wobei das Kiez­haus Agnes Rein­hold kei­ne poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on ist, son­dern eine poli­ti­sche Rah­men­ver­wal­tung leis­tet, die The­men setzt und über die Räte­struk­tur lei­ten­de Vor­ga­ben macht.

Das Las­ten­rad im Laden des Kiez­haus Agnes Reinhold

Es soll eine Poli­ti­sie­rung ermög­licht wer­den. Die Pro­jek­te über­neh­men die Ver­ant­wor­tung für ihre Arbeit und es ist nicht gemeint, die Sozi­al­ar­beit zu kopie­ren, son­dern soli­da­ri­sche Pro­zes­se zu befördern.

Es geht um gesell­schaft­li­che Orga­ni­sie­rung und dabei um Dele­gier­ten­prin­zi­pi­en, bei denen die Basis, die hier kom­mu­ni­ziert, nicht ver­ges­sen wird, und es geht um die kon­kre­te Häu­ser­ebe­ne, die die weit­sich­ti­ge Per­spek­ti­ve der Ver­bes­se­run­gen an den Lebens­ver­hält­nis­sen nicht aus den Augen ver­liert. Dies geht Hand in Hand mit der Kri­tik des Kiez­hau­ses an den Stadt­teil­ver­tre­tun­gen und den QM, die die Ergeb­nis­se ihrer Arbeit oft genug nur auf das Bezirks­amt und des­sen Rege­lungs­kom­pe­ten­zen hin kanalisieren.

So kann man sagen, dass das Kiez­haus dar­auf bedacht ist, mit der poli­ti­schen Orga­ni­sie­rung wach­sen­den Druck für gesell­schaft­li­che Fra­gen zu ermög­li­chen und dafür sei­nen Bei­trag zu leis­ten. Letzt­end­lich ist eine Stär­kung der Selbst­ver­tre­tung beab­sich­tigt, die ohne ein über­ge­stülp­tes Sozi­al­ar­bei­ter­kon­zept, auf­ge­baut wer­den soll.

Und dazu gibt es die­sen schö­nen son­ni­gen Laden an der Afri­ka­ni­schen Stra­ße 74 nahe dem Ein­gang zum Park Reh­ber­ge (Bus 221, Ota­wistr.), in dem man sich zu vie­len Anläs­sen und auch ohne den Anspruch, eine Grup­pe zu grün­den oder inte­grier­te Ver­eins­ar­beit zu leis­ten, ken­nen­ler­nen kann.

Aktu­el­ler Lese­stoff im Kiezhaus

Das Kiez­haus ist ein Mul­ti-The­men-Ort, der vie­le soli­da­risch unter einem Dach zusam­men­bringt. Die SoLa­Wi , die Kiez­kü­che, die die Nach­barn zum gemein­sa­men Kochen und Essen ein­lädt, das Femi­nis­ti­sche Netz­werk im Wed­ding und die Offe­ne femi­nis­ti­sche Kon­takt­stel­le, die frei­tags um 11 Uhr im Kiez­haus Bera­tung anbie­tet, der AKS Ber­lin, ein Zusam­men­schluss von Arbei­ten­den in der Sozi­al­ar­beit, die BAGA (Ber­li­ner Akti­on gegen Arbeit­ge­ber­un­recht), der Mie­ten­wahn­sinn Nord, das Ofi­ci­na Pre­ka­ria Ber­lin, also die Bera­tung um alle lebens­re­le­van­ten Fra­gen von Aus­län­dern. Dane­ben wer­den lau­fend die Anfra­gen aus den Nach­bar­schaf­ten beant­wor­tet, der­zeit vie­le zum Miet­recht und zu den stei­gen­den Energiekosten.

Zudem gibt es außer­or­dent­li­che Events, so das durch­aus pom­pö­se Tref­fen Gaza Bene­fiz Din­ner am 24. Sep­tem­ber 22, bei dem bis zu 20 Gäs­te gegen eine Spen­de ein Drei-Gän­ge-Welt­me­nü, kre­iert von Coo­king for Peace gemein­sam genießen.

Und am 8. Okto­ber 2022 ver­an­stal­tet unverwertbar.org unter dem Mot­to „Prei­se run­ter!“ eine Demo ab 13 Uhr.

In der Mache sind wei­ter­hin ein Cafe für Allein­er­zie­hen­de und eine Abhol­stel­le für Baby­be­klei­dung, ange­dacht ist ein Eltern­ca­fé, zudem wird eine poli­ti­sche Biblio­thek aufgebaut.

Ein­mal im Jahr gibt es einen Tag der offe­nen Tür, zu dem jedes Pro­jekt einen Slot erhält und sich den Besu­chern vor­stellt. Der eben ver­an­stal­te­te Tag des offe­nen Kiez­hau­ses war gera­de am 3. Sep­tem­ber: Man soll­te sich die­sen ori­en­tie­ren­den Tag als Wed­din­ge­rIn und als Park­vier­tel-Bewoh­ner die­sen Ter­min für 2023 bereits vormerken.

Gespräch, Text und Fotos © Rena­te Straetling

Kiez­haus Agnes Rein­hold, Afri­ka­ni­sche Stra­ße 74

Mail: info[ät]kiezhaus.org (OpenPGP für ver­schlüs­sel­ten Mail­ver­kehr)

Mobil: +49 151 55811505 (Do. 11–14 Uhr) Ger­ne auch Sprachnachrichten!

Tele­gram-Info­ka­nal: t.me/Kiezhaus6

Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit etwa 55 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Ich habe noch viel vor!
www.renatestraetling.wordpress.com

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