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Auf Berlins Straßen lauern nur Irre und der Tod

26. September 2018
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Fahrradspur, Gartenstraße
Fahr­rad­spur auf der Gar­ten­stra­ße. Foto: And­rei Schnell

Rad­fah­ren ist ja so gesund, zumin­dest wenn man es außer­halb Ber­lins macht. Denn in der Haupt­stadt herrscht Krieg auf den Stra­ßen. Es wird gepö­belt, geprü­gelt und über­rollt. Ist das noch nor­mal? Nun sagt ein Rich­ter: Nein!  Wenn ich alle Beschimp­fun­gen hier auf­lis­ten wür­de, die uns Fahr­rad­fah­rern täg­lich an den Kopf gewor­fen wer­den, käme der Text wegen jugend­ge­fähr­den­den Inhalts auf den Index. Es ist kein Spaß, sich zwi­schen Rei­se­bus­sen, eili­gen Lie­fer­wa­gen, ori­en­tie­rungs­lo­sen E‑Rollern und aggres­si­ven Auto­fah­rern durch den Ber­li­ner Ver­kehr zu schlän­geln. Vor allem, wenn alle den­ken: Rück­sicht hält ein­fach zu lan­ge auf. Und so sind wir Rad­ler an allem schuld, sogar wenn wir uns an die Regeln hal­ten, Licht ein­schal­ten und bei Grün über die Ampel fahren.

Karower Urteil

Fahrrad, Antwerpener Straße, kurios
Ant­wer­pe­ner Straße

Zu unse­rer Ehren­ret­tung sprach ein Rich­ter nun eine Ber­li­ner Auto­fah­re­rin wegen Nöti­gung und gefähr­li­cher Kör­per­ver­let­zung schul­dig, weil sie eine Rad­fah­re­rin in Karow ange­brüllt und geschnit­ten hat­te. Ihr Pech: Das radeln­de Opfer war Poli­zei­kom­mis­sa­rin. Natür­lich wäre ihr rabia­tes Ver­hal­ten auch gegen­über einer Zivi­lis­tin straf­bar gewe­sen, aber die ord­nungs­hü­ten­de Fahr­rad­fah­re­rin wuss­te, was zu tun ist. Sie sicher­te sich Zeu­gen und brach­te den Vor­fall ord­nungs­ge­mäß zur Anzei­ge. Und als das Ver­fah­ren wegen Belang­lo­sig­keit ein­ge­stellt wur­de, infor­mier­te sie mit Hil­fe der Pres­se die Öffent­lich­keit. Als Teil die­ser Öffent­lich­keit fra­gen wir uns: Wie kann es belang­los sein, dass eine Auto­fah­re­rin aus­fal­lend und sogar hand­greif­lich wird, einen Men­schen mit der Stoß­stan­ge weg­schiebt, ein Fahr­rad an den Stra­ßen­rand wirft und schließ­lich mit auf­heu­len­dem Motor davon­ge­jagt? (Oder das hier?, Anm. d. Red.)

Waffenschein statt Führerschein

Der Fall wur­de wie­der auf­ge­rollt, mit Urteil abge­schlos­sen und die Auto­fah­re­rin bleibt trotz Schuld­spruch unein­sich­tig. Ehr­lich gesagt: Uns wun­dert das nicht. Es scheint tat­säch­lich den meis­ten nicht klar zu sein, dass die unkon­trol­lier­te Wut eines Auto­fah­rers einem Rad­fah­rer das Leben kos­ten kann. Die Autos wer­den als Waf­fen ein­ge­setzt, einen extra Schein braucht man dafür nicht. Ein Schlen­ker nach rechts, eine schnell geöff­ne­te Auto­tür, ein sicht­neh­men­der Falsch­par­ker und schon lie­gen wir samt Zwei­rad am Boden. Blöd nur, wenn wir nicht mehr auf­ste­hen – wenn aus einem spon­ta­nem Beleh­rungs­ver­such ein Tötungs­de­likt wird.

Radler sind auch nicht besser

Ja, und natür­lich stimmt der Vor­wurf, dass auch nicht alle Fahr­rad­fah­rer Engel sind. Es gibt sol­che, die nachts ohne Licht nicht nur ihr eige­nes Leben ris­kie­ren und sich trotz­dem ver­hal­ten, als gehö­ren die Stra­ßen ihnen allein. Es gibt auch sol­che, die auf Bür­ger­stei­gen Pas­san­ten anrem­peln und Kin­der in Grund und Boden fah­ren. Es gibt die­je­ni­gen, die mei­nen, Ver­kehrs­re­geln gel­ten nur für alle ande­ren oder glau­ben, dass sie auf ihr Recht sogar im toten Win­kel eines LKWs behar­ren kön­nen. Zu dumm, dass sie vie­le Feh­ler nicht mehr ein­se­hen kön­nen. Immer­hin steht auf ihren Grab­stei­nen: „Ich hat­te Vorfahrt.“

Straßenkampf 2.0

Es gab schon unzäh­li­ge Demos und Stern­fahr­ten, Fahr­rad­fah­rer zeig­ten sich nackt, um auf ihre Ver­letz­lich­keit auf­merk­sam zu machen, Kin­der scho­ckier­ten mit nach­ge­stell­ten Unfäl­len, fried­li­che Luft­bal­lon­ak­tio­nen brach­ten so wenig wie pro­vo­ka­ti­ve Cri­ti­cal-Mass-Ver­an­stal­tun­gen, bei denen die Stra­ßen für Auto­fah­rer blo­ckiert wur­den. Der Streit fin­det nicht nur im Nah­kampf auf der offe­nen Stra­ße statt, son­dern auch längst in den (un)sozialen Medi­en. Auto­fah­rer machen sich bei Twit­ter Luft, Rad­fah­rer pöbeln über Falsch­par­ker auf Face­book und dazwi­schen gibt es kras­se Street-Fotos von bei­den auf Instagram.

Was aber bei all dem Wahn­sinn wirk­lich ver­rückt ist: Nicht ein­mal die Fahr­rad­fah­rer unter­ein­an­der hal­ten zusam­men. Fährt man nicht schnell genug, wird man ange­fein­det (ist ja wirk­lich unver­schämt), muss man anhal­ten (war­um denn auch?), wird man über den Hau­fen gerollt, will man abbie­gen (ey, Alter!), kann man nicht sicher sein, dass das jeman­den inter­es­siert. Eini­gen wir uns dar­auf, dass auf allen Sei­ten Irre sind. Ok, also wem bringt der selbst­ge­rech­te Stra­ßen­kampf eigent­lich etwas? Es ist eigent­lich Platz genug für jeden Ver­kehrs­teil­neh­mer – sogar für Las­ten­rä­der, Tou­ris­ten auf Leih­rä­dern, ver­träum­te Jung­müt­ter in SUVs, Rent­ner in Klein­wä­gen, Machos in Sport­wä­gen, semi-pro­fes­sio­nel­le Rad­sport­ler… statt uns über alles auf­zu­re­gen, könn­ten wir es zur Abwechs­lung mit Ber­li­ner Humor ver­su­chen: „Das Ärger­li­che am Ärger ist, dass man sich scha­det, ohne ande­ren zu nüt­zen“, mein­te näm­lich schon der radeln­de Moa­bi­ter Kurt Tucholsky.

Autor: Marei­le Mora­wi­etz, QIEZ.de

Die­ser Bei­trag erschien zuerst bei unse­rem Koope­ra­ti­ons­part­ner QIEZ.de

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Gastautor

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4 Comments

  1. Tat­sa­che ist, dass es vor allem einen Ver­lie­rer gibt: den Fuß­gän­ger. Dass sich Auto­fah­rer oft aso­zi­al ver­hal­ten: geschenkt, aber die Arro­ganz und Gewal­tä­tig­keit sei­tens Fahr­rad­fah­rern ist neu. Und vor allem: nie­mand tut was dage­gen. Weder Poli­zei, noch Poli­tik, es scheint als hät­ten die Frei­brie­fe für alles, weil sie sich immer in der Opfer­rol­le sehen.
    Übri­gens gefähr­det der Rad­fah­rer natür­lich sich selbst, wenn er nachts bei rot und ohne Licht über die Ampel fährt. Nur was ist mit denen die die­sen dann umfah­ren? Schock und Depres­sio­nen sind da an der Tages­ord­nung. Inter­es­siert halt nur keinen.

  2. Als Fuß­gän­ge­rin lei­de ich vor allem unter Rad­fah­rern, die glau­ben, die Bür­ger­stei­ge sei­en für sie gemacht – für sie allei­ne. Ein­zel­hei­ten hier­zu kennt ja jeder. Es sind vor allem jün­ge­re Män­ner und Frau­en, die sich hier Frech- und Frei­hei­ten raus­neh­men, die sie an den Auto­fah­re­rIn­nen wie­der­um kri­ti­sie­ren. Näm­lich, dass man sie bedrängt, nicht beach­tet, gefähr­det. Ich glau­be, dass die Libe­ra­li­tät Ber­lins aus­ge­nutzt wird: von ego­is­ti­schen Leu­ten, denen es um schnells­te und maxi­mals­te Bedürf­nis­be­frie­di­gung geht. Scha­de für Ber­lin, hof­fent­lich wer­den wir nicht voll­ends vom Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus und sei­nen Anbe­tern überrollt.

  3. Ich fra­ge einen Rad­fah­rer der, trotz vor­han­de­nem Fahr­rad­weg, die Stras­se befährt!

    Die Ant­wort: Weil ich das nicht muss (den Rad­weg benut­zen) und aus­ser­dem geht dich das nichts an, du Arschloch!

    Fin­de den Fehler!
    Noch Fragen??

    Ich plä­die­re für die Wie­der­ein­füh­rung der unein­ge­schränk­ten Radwegebenutzungspflicht!
    Bit­te, … gerne

    • Hal­lo Herr Divert,

      für vie­le Rad­we­ge gab es in Ber­lin ja mal eine Nut­zungs­pflicht, lei­der wur­den die Wege nicht gepflegt und der Zustand ist heu­te so schlecht, dass die Nut­zungs­pflicht der Rad­we­ge auf­ge­ho­ben oder die Rad­we­ge gänz­lich gesperrt wur­den (sie­he Nord­ufer). Wird die bau­li­che Qua­li­tät der Rad­we­ge ver­bes­sert und neue räum­lich getrenn­te Fahr­rad­we­ge ange­legt, wird sich das Pro­blem weit­ge­hend von allei­ne lösen, da die wenigs­ten Rad­fah­rer frei­wil­lig auf der Stra­ße fahren.

      Abge­se­hen davon hat­te der Rad­fah­rer natür­lich recht, wenn er sich im Ton auch ver­grif­fen haben mag. War­um erkun­di­gen Sie sich, wie­so er auf der Stra­ße fährt? Die Ant­wort lau­tet: Weil er sich damit völ­lig kor­rekt ver­hält und weil er es darf. Das wäre etwa so, als wür­de man Sie anhal­ten und fra­gen, war­um Sie mit dem Auto und nicht mit dem Rad unter­wegs sind. Weil Sie es auch dür­fen. Mehr Mit­ein­an­der und gegen­sei­ti­ge Rück­sicht­nah­me statt Besitz­stands- und Wir-Gegen-Die-Den­ken sind im Stra­ßen­ver­kehr gefragt.

      All­zeit siche­re Fahrt!

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