Die Zahl wirkt verschwindend gering: Im Dezember 2020 betrug der Anteil der Empfänger von Grundsicherung im Alter bundesweit im Durchschnitt 3,2%. In Deutschland im Jahr 2018 waren 411.000 Fälle und im Dezember 2021 waren es schon 589.000 Personen, die Grundsicherung im Alter bezogen. Vor allem in Berlin ist die Zahl in den letzten Jahren gestiegen – und arme Stadtteile wie der Wedding sind besonders betroffen. Warum das so ist? Dem spüre ich in dieser Ü60-Kolumne nach.
In diesen Tagen findet die 48. Berliner Seniorenwoche unter dem Motto „Leben in Vielfalt“ zu Ende. Ob es nicht bald auch eher ein gemeinsames Leben in verbreiteter Armutsvielfalt sein wird? Denn ein deutlicher Trend zur Altersarmut ist nachweisbar, diese Entwicklung ist systemisch verursacht und spiegelt sich auch im Wedding wider.
Was ist der Status quo?
In anderen europäischen Ländern gibt es bereits die Mindestrente für AltersrentnerInnen. Beispielsweise in den Niederlanden hat man ab dem 65. Lebensjahr monatlich Anspruch auf eine existenzsichernde Rente, unabhängig von vorherigen Beitragszahlungen. In Österreich gibt es die Mindestpension. In Deutschland gibt es für kleine Rentenansprüche ergänzend die Grundrente (GrundRentG seit 01.01.2021) und die Grundsicherung im Alter nach SGB XII (seit 2003).
Deutschland zahlt keine Mindestrente, stockt aber die nicht zur Existenz ausreichende kleine Altersrente auf Antrag mit einer Grundsicherung im Alter nach Sozialgesetzbuch XII auf. Dabei erfolgt im Normalfall kein Rückgriff auf die Kinder.
Daneben wurde 2021 die Grundrente (bitte, nicht verwechseln mit der Grundsicherung im Alter nach SGB XII !) eingeführt, die die Rentenhöhe diejenigen Geringverdiener ausgleichen möchte, die 33 bzw. 35 Jahre lang Rentenbeitragszeiten durch sehr kleine Einkommen (zwischen 30% und 80% des Durchschnittsverdienstes) zurückgelegt haben.
Diese Grundrente wird ohne Antrag an jeden Berechtigten automatisch ausgezahlt, auch ohne Antrag. Die Rententräger prüfen derzeit etwa 26 Millionen Versichertenkonten; man schätzt, dass etwa 1,3 Millionen Anspruchsberechtigte eine durchschnittlichen Zusatzrentenanspruch von 75 € im Monat erhalten werden. Als Zuschlag gibt es maximal 418 € monatlich. Manchen Rentenberechtigten, vor allem Frauen wegen ihrer noch immer typischen Erwerbsverläufe mit Unterbrechungen und Minijobs, wird dies helfen.
Andere Kleinrentner, die keine Berechtigung nach SGB XII haben, können zusätzlich zur kleinen Rente Wohngeld beim Wohngeldamt beantragen.
Andere Rentner werden die aufstockende Grundsicherung im Alter beim zuständigen Grundsicherungsamt beantragen müssen und erhalten dann, wenn die Bedürftigkeit nachgewiesen ist, zudem auch die Anerkennung der Angemessenheit der Wohnung und die der Höhe der Bruttokaltmiete und – getrennt davon – auch die Angemessenheit der Heizkosten, den Ergänzungsbetrag im Rahmen der Regelbedarfe nach SGB XII (2021 449 € im Monat) und die angemessene Bruttowarmmiete.
Bei fast drei Viertel der Leistungen nach Grundsicherung im Alter werden die niedrigen Altersrenten nach SGB XII verrechnet. Ansprüche der Altersrentner sind also nicht ausreichend für ein eigenständiges Leben, oft eben auch wegen weiterer existenzrelevanter Faktoren wie der starken Mietpreisanstiege, Inflation und Energiekosten.
Die Häufung von Sozialfällen ist oftmals in bestimmten Stadtvierteln oder Wohngebieten und an typischen Brennpunkten der Armut, vor allem auch in Berlin, ausgeprägter als anderswo. Das lässt sich am Ortsteil Gesundbrunnen deutlich erkennen: Hier ist die allgemeine Armut auch in den anderen Altersgruppen bis zu 200% höher als im Berliner Durchschnitt, wie Taylan Kurt (Grüne) über diesen Ortsteil im nördlichen Bezirk Mitte im Sommer 2018 berichtet. Und ich denke, weil zudem überdurchschnittlich viel Altersarmut in solch belasteten Umfeldern angesiedelt ist, verspricht auch Nachbarschafts- und Seniorenarbeit kaum Abhilfe.
Man kann und sollte bei einer kleinen Altersrente mit Grundsicherung im Alter nach SGB XII oder mit Wohngeld aufstocken, um nicht am Hungertuch zu nagen oder gar seine Gesundheit zu gefährden.
Aber auch mit Sozialhilfeniveau ist man noch lange nicht aus den alltagsbezogenen Risiken wie Unbeweglichkeit, Kulturferne oder Vereinsamung heraus, vor allem, wenn man alleine lebt und jede Aktivität vorbereiten und womöglich mit kleinen Taschengeldern an Hilfsbereite zahlen muss.
Woher kommt die aktuell ansteigende Altersarmut?
Am Ende der Erwerbsphase, sofern man nicht schon vorher einmal in die Renteninformationen und Bescheide der Rentenversicherung schaute, kommt oft ein jähes böses Erwachen über die Höhe der eigenen Ansprüche. Sofern man sich von der DRV beraten lässt oder das Gewusst-wie zum Rechnen mit der Rentenformel selbst beherrscht und nachgerechnet hat, kann man vielleicht die ein oder andere Entscheidung noch richtigstellen, nichtsdestotrotz hilft im späteren mittleren Erwerbsalter nichts mehr oder wenig, denn anerkannte Beitragszeiten und vor allem die Höhe der Zahlungen zählen am stärksten.
Auch, wenn man heutzutage viel guten Rat erhält und durch alle Medien regelmäßig informiert wird, und wenn zudem die traditionellen Erwerbsmuster der Frauen schwinden, ergeben sich Renten-Lücken zum Existenzminimum für viele Altersrentner, vor allem Frauen, besonders auch für die Ü84-Jährigen, vermehrt auch für alte Männer.
Da bleiben als Rettung vielleicht noch eine Erbschaft, ein Lottogewinn oder eine reiche Partnerschaft.
Wann ist eine Altersrente eigenständig existenzsichernd?
Um am Lebensende eine wenigstens existenzsichernde Rente, heute etwa 1200 € oder angesichts der aktuellen Preissteigerungen (Miete, Grundversorgung, Energie) zu bekommen, braucht man eine bestimmte Anzahl von Entgeltpunkten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Man muss sage und schreibe insgesamt 540 Monate ein sozialversicherungspflichtiges Bruttomonatseinkommen von mindestens etwa 2200 € verdienen, um ein eigenständiges Existenzminimum für das Alter(n) zu erlangen. (2015)
Und diese Kriterien müssen bei einem gesetzlichen Mindestlohn, der erst ab 1. Oktober 2022 auf 12 € angehoben wird, von einem Rentenanwärter erfüllt werden. Etwas mehr Glück hat, wer dann gute Verhandlungen zum Arbeitsvertrag führt.
Oder anders ausgedrückt: Man muss 45 volle Jahre lang in einer 37,7‑Stunden-Woche und je 16 € Stundenlohn sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, um im Alter eine monatliche Mindestrente von (bei heutigem Niveau) 1160,62 € zu erhalten, d.h. man erhält für ein Jahr Erwerbsarbeit nach diesem Rechenbeispiel genau 25,79 € pro Monat. (merkur.de am 16.9.22)
Aha! Ach so! Da also sitzt der Teufel, der eingebaute Schreck…. ääähmm ….der Fehlerteufel: Man muss also sogar deutlich mehr als den heutigen Mindestlohn pro Stunde und das 45 Jahre lang in einer Vollzeitbeschäftigung ohne einen Beschäftigungsmonat Unterbrechung verdienen, um im Alter gerade so über die Runden zu kommen!
Wie realistisch ist das?
Ist es jeder und jedem Erwerbstätigen möglich, jahrzehntelang mit diesem Mindestbruttoeinkommen ohne jede Unterbrechung und Pause zu arbeiten, ohne Krankheit, mit Mutterschaft(en), bei Unfall und vielleicht auch Reha, in akademischen Laufbahnen mit Doktorarbeit?
Ich schaute in die Statistik und sehe, dass im Jahr 2019 unter den westdeutschen Männern und Frauen, die bereits 60 bis 64 Jahre alt sind, nur 54 % (Frauen) überwiegend gesetzlich rentenversichert sind und 69% der Männer dieser Altersgruppe; bei den ostdeutschen sind es 82% (Frauen) bzw. 74% (Männer) (Versichertenbericht der DRV 2021). Dies offenbart Lücken im Erwerbsverlauf, die in diesem Alter nicht mehr durch Arbeitsmarktteilnahme überbrückbar sein dürften.
Noch eine Perspektive auf die höheren Anforderungen der rentenversicherungspflichtigen Kriterien: so gibt aktuell es 1.421.000 Beschäftigte in Minijobs, darunter 807.000 Frauen (destatis). Im Jahr 2020 waren 4,4 Millionen Erwerbstätige (darunter 60% Frauen) nur in einem Minijob (und in keiner anderen Beschäftigung) (WSI GenderDatenPortal:Erwerbsarbeit, 2022). So geraten die Frauen nun also in die nächste Rentenfalle, denn nach der Teilzeitfalle ist es nun – womöglich umso dramatischer- die Minijobfalle, denn viele Frauen verharren viele Jahre im geringfügigen sozialversicherungspflichtigen Jobs. Und, meine Damen und Herren, die Minijobs reichen nicht für Ansprüche auf Grundrente!
Was also sagt uns das?
Nach welchem sozial-ethischen Modell ist die Realisierung auch dieses rigide gefassten gesetzlichen Anspruchs bemessen? Kann man sich hierzu nicht die Frage stellen, ob ein so eng bemessenes Anforderungsprofil an die kleine Altersrente nicht ein Recht auf Arbeit voraussetzen müsste, wenn man befürwortet, dass Menschen nach einem langjährigen Berufsleben von wenigstens 33 erwerbsaktiven Jahren eine ausreichende gesetzliche Altersrente beanspruchen dürfen?
Lange Rede, kurzer Sinn:
Der Trend der Altersarmut ist in den mittig in Berlin gelegenen Stadtteilen besonders auffallend angekommen, vor allem im Berliner Wedding. Ohnehin sind es die Bezirke Berlin-Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg, die die Armutsbezirke stellen.
Welches Bild ergibt die Statistik auf der Bezirkskarte?
Es gibt einen Armutsäquator mitten durch den Bezirk Berlin-Mitte, der die Stadtteile in den armen Norden und den unterdurchschnittlich mit Armut belasteten Süden teilt. Es handelt sich um eine gewisse Grenze, die an der Linie Turmstraße-Invalidenstraße-Bernauer Straße leicht schräg nach Nordost verläuft. Südlich davon liegt der Ortsteil Alt-Mitte, die Bereiche Alexanderplatz und Regierungsviertel, die deutlich unter dem Berliner Gesamtdurchschnitt der (Alters-)Armut liegen (Ausnahmen sind der Lützowkiez und der Körnerkiez in Tiergarten-Süd).
Nördlich dieser Trennlinie ist die Altersarmut unter den Über-65-Jährigen bis zum Fünffachen ausgeprägt. Beispielsweise sind im Parkviertel 9111 Personen Ü65 und davon 23,5% von Grundsicherung abhängig.
Im Vergleich: Die Abhängigkeit von Transferleistungen der Ü65-Jährigen im Bezirk Mitte ist mit 20,9 % (2021) höher als in Berlin mit 15,9 %. (2019)
Zwei aktuelle Beispielgrafiken dazu noch konkreter für einzelne Stadtteile des Berliner Wedding aus der amtlichen Statistik:
Was kann man gegen die bestehende Altersarmut tun? Wie kann man sie für die Betroffenen und die Umgebung lindern und lebbar machen?
Es braucht Familien und Soziales Kapital vor Ort und die finanzielle Ausstattung dafür durch die Kommunen, so hat es der Siebente Altersbericht der Bundesregierung schon im Jahr 2017 empfohlen.
Die Angebote der karitativen und sozialen Einrichtungen, der Mehrgenerationenhäuser, der Kirchen und der Begegnungsstätten und der regelmäßigen Essensausgaben der (Berliner) Tafeln, viele Leistungen der Pflegeversicherungen, sind nötig, um diese Defizite der Altersrenten, der Sozialhilfe und mangelnder Selbsthilfe auszugleichen für alte Menschen, die kaum noch Alternativen und noch weniger Chancen auf Zuverdienst zum Aufbessern ihrer Renten haben.
Wie Artisten bis an ihr Lebensende müssen die armen Alten, und ohne Trost und Aussicht auf Besserung mit dem „Stets-zu-wenig“ trotz steigender Alters- und Gesundheitsbedarfe jonglieren.
Ich möchte dranbleiben an diesem Thema, und ich werde nach konkreteren und präziseren Daten und Erfahrungsberichten suchen. Man glaubt gar nicht, wie das Leben in Armut so spielt und was einem Menschen trotz aller Abhilfen dabei alles widerfahren kann!
In den Stadtteilen feiern die BerlinerInnen mittlerweile etliche große Jubiläen ihrer Sozialkulturorte und der Räume der Selbsthilfe, wie beispielsweise die Weddinger Fabrik Osloer Straße, die vor 40 Jahren gegründet wurde, und es liegt an den Bewohnern Berlins, mit enorm viel persönlichem, engagiertem und gemeinsamen Einsatz Abhilfe bei Not, hinsichtlich Beratung und für Kontakte und Austausch geschaffen zu haben.
Text und Foto © Renate Straetling
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Liebe Frau Straetling, vielen Dank für diesen spannenden Beitrag, der den Fokus auf ein sehr wichtiges Problem legt. Wir wissen, dass sehr viele Rentnerinnen so geringe Einkommen haben, dass ihnen Grundsicherung eigentlich zustehen würde, aber diese nicht in Anspruch nehmen. An der Hochschule Jena forschen wir zu Zeit zu diesem Thema und sind auf der Suche nach Gesprächspartnern, die uns u.a. berichten, wie man mit geringen Einkommen den Alltag meistern kann. Wenn sich unter Ihren Leserinnen und Lesern Interessierte finden, die mit uns ins Gespräch kommen wollen, würden wir uns freuen. Informationen zu unserer Studie und Kontaktdaten findet man auf unterer Projektseite: https://www.sw.eah-jena.de/fachbereich/personen/lehrende/felix-wilke/projekte/
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