Die Shoah hat Menschen vernichtet. Ist mit ihnen auch das Wissen um jüdisches Leben in Deutschland vernichtet worden? Dr. Carsten Schmidt will, dass diese Frage mit Nein beantwortet wird. Er möchte die Treffpunkte und die Institutionen jüdischer Kultur ins öffentliche Gedächtnis zurückzubringen. Dafür hat er das Buch “Bittersweet” geschrieben. Es zeigt, wo die Lücken im Straßenbild des Weddings und des Gesundbrunnens sind.
Vermutlich ist es ein Klischee, aber es erscheint als eine typisch jüdische Haltung, im größten anzunehmenden Verbrechen ein Funken Glück ausmachen zu wollen. Dr. Carsten Schmidt formuliert es so: “Die Geschichte der jüdischen Bürger im Berliner Wedding hatte weder einen leichten Anfang noch ein Happy End, aber schöne Momente, an die es sich lohnt zu erinnern”. Damit ist auch erklärt, warum die Wahl für den Titel auf Bittersweet fiel. Der Untertitel umreißt den Inhalt des Buches: “Jüdisches Leben im Roten Wedding 1871 – 1933”. Es geht also nicht um die Jahre des NS-Zeit, es geht um die Jahre davor, als jüdisches Leben zum Alltag gehörte. Und damit geht es in dem Buch um die Beschreibung dessen, was heute nicht mehr gegenwärtig ist.
Was die Recherche nach Erinnerungsstücken schwer macht, das ist die Armut des Weddings, die hier vor einem Jahrhundert herrschte. Juden lebten hier wie die anderen Arbeiter und Tagelöhner des Weddings am Rande der Gesellschaft. Persönliche Nachlässe mit Briefen, Fotos und Tagebüchern fehlen. Die soziale Schicht, die solche Traditionen pflegte, lebte nicht im Armenbezirk Berlins. “Daher sind ihr Spuren fast ausgelöscht”, schreibt Dr. Carsten Schmidt. Auch Ansichtskarten und Zeitungsfotos sind anders als bei christlichen Vorzeigebauten wie der Dankeskirche am Weddingplatz rar. Dennoch ist es Dr. Carsten Schmidt gelungen, die jüdische Gemeinschaft und ihre Orte in fünf Kapiteln zu beschreiben. Er stützt sich auf jüdische Zeitungen, die damals erschienen sind und heute digitalisiert und online verfügbar sind. Die fünf Kapitel in Bittersweet beschäftigen sich mit Kaufleuten, mit sozialen Einrichtungen wie dem jüdischen Krankenhaus, der Welt der Schule, den Rabbinern und der Armenfürsorge. Das sind für Dr. Carsten Schmidt Anknüpfungspunkte, aus denen er ein Netz knüpft, mit dem er (beinahe) aus dem Nichts Einblicke in den jüdischen Alltag einfängt.
Der Wedding war nie ein Hotspot jüdischen Lebens in Berlin. Das belegen historische Bevölkerungsstatistiken. Der Berliner Norden war wenig attraktiv, hier lebten im 19. Jahrhundert anders als in den Städten Charlottenburg und Schöneberg nur wenige Juden. Doch dann erwies sich die Randlage überraschenderweise als förderlich, denn hier waren Bodenpreise niedrig. Damit wurden Neubauten von Krankenhaus bis Altersheim und Synagoge möglich.
Übrig geblieben sind von diesen Gebäuden im Wedding und Gesundbrunnen nur wenige. Eines davon ist das Obdachlosenasyl Wiesenburg, auch wenn diese kein jüdischer Bau ist. Aber die jüdische Gemeinde hat die Wiesenburg zu Beginn der 1920er Jahre von der Stadt Berlin gemietet, um Vertriebene aus Osteuropa unterzubringen. Schlafkarten beweisen dies. Andere bauliche Zeugnisse, wie das jüdische Altersheim, sind erst vor kurzem so saniert worden, dass ihre Geschichte unkenntlich ist.
160 Seiten über Fehlstellen
Dr. Carsten Schmidt zeigt dem Leser das, was nicht mehr zu sehen ist. Und das auf eine lesefreundliche Art. Der Autor schreibt für ein breites Publikum, trotz der Materialfülle wendet sich das Buch nicht an Auskenner.
Es sind 160 Seiten, für die Dr. Carsten Schmidt Material gefunden hat. Andere historische Darstellungen sind umfangreicher, doch die Dichte an Informationen ist in Bittersweet hoch. Nicht viele Historiker dürften so detailliert zum jüdischen Leben im Wedding und Gesundbrunnen geforscht haben.
Insgesamt übernimmt das Buch eine Funktion, die vergleichbar mit einer Hypnose ist. Wer es durchliest, sieht den Wedding und Gesundbrunnen plötzlich so, wie er die Ortsteile schon immer hätte sehen können. Wenn da nicht dieser Schleier gewesen wäre, den das Buch fortschiebt. Denn natürlich weiß jeder, dass es Spuren jüdischen Lebens geben müsste; doch im Allltag wundert man sich selten, sie nicht zu sehen. Bittersweet zeigt, wo hinzuschauen ist.
Tipp: Bittersweet und das Buch “Am Wedding haben sie gelebt” ergänzen einander hervorragend. Das eine nähert sich mit dem Blick des Historikers, das andere ist eine Sammlung von Lebensgeschichten.
Carsten Schmidt
Regelmäßigen Lesern des Weddingweisers ist Dr. Carsten Schmidt als Autor bekannt. Viele Texte, auf denen Bittersweet aufbaut, erschienen zuerst auf diesem Blog. Studiert hat Dr. Carsten Schmidt Kunstgeschichte, BWL und Geschichte an der FU und der TU. In seiner Doktorarbeit hat er sich mit New York und seiner “Architektur als Gesellschaftsauftrag und Aushandlungsprozess” beschäftigt (erschienen 2014). Mit Bittersweet widmet er sich nun wieder seinem historischen Interesse, nachdem er bislang in anderen Bereichen berufstätig war und ist. Für zukünftige Bücher zum jüdischen Leben im Wedding hat er bereits einige Ideen. Aber erst einmal ist er mit dem Erscheinen von Bittersweet beschäftigt.
Buch frisch aus der Druckerei
“Bittersweet. Jüdisches Leben im Roten Wedding 1871 – 1933” kostet 18 Euro. Der Verkauf im Verlag Hentrich Hentrich startet gerade. Ihr könnt den lokalen Buchhändler Belle-Et-Triste in der Amsterdamer Straßen unterstützen und das Buch dort ab Dienstag kaufen.
Hier findet man Carsten Schmidts bisherige Artikel bei uns über das Jüdische Leben im Wedding.