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Jüdisches Leben im Wedding:
Buchtipp: Aus dem Nichts zurückgeholt

8. Juli 2023

Die Sho­ah hat Men­schen ver­nich­tet. Ist mit ihnen auch das Wis­sen um jüdi­sches Leben in Deutsch­land ver­nich­tet wor­den? Dr. Cars­ten Schmidt will, dass die­se Fra­ge mit Nein beant­wor­tet wird. Er möch­te die Treff­punk­te und die Insti­tu­tio­nen jüdi­scher Kul­tur ins öffent­li­che Gedächt­nis zurück­zu­brin­gen. Dafür hat er das Buch “Bit­ters­weet” geschrie­ben. Es zeigt, wo die Lücken im Stra­ßen­bild des Wed­dings und des Gesund­brun­nens sind.

Ver­mut­lich ist es ein Kli­schee, aber es erscheint als eine typisch jüdi­sche Hal­tung, im größ­ten anzu­neh­men­den Ver­bre­chen ein Fun­ken Glück aus­ma­chen zu wol­len. Dr. Cars­ten Schmidt for­mu­liert es so: “Die Geschich­te der jüdi­schen Bür­ger im Ber­li­ner Wed­ding hat­te weder einen leich­ten Anfang noch ein Hap­py End, aber schö­ne Momen­te, an die es sich lohnt zu erin­nern”. Damit ist auch erklärt, war­um die Wahl für den Titel auf Bit­ters­weet fiel. Der Unter­ti­tel umreißt den Inhalt des Buches: “Jüdi­sches Leben im Roten Wed­ding 1871 – 1933”. Es geht also nicht um die Jah­re des NS-Zeit, es geht um die Jah­re davor, als jüdi­sches Leben zum All­tag gehör­te. Und damit geht es in dem Buch um die Beschrei­bung des­sen, was heu­te nicht mehr gegen­wär­tig ist.

Buch­au­tor Dr. Cars­ten Schmidt auf der Wie­sen­burg. Foto: And­rei Schnell

Was die Recher­che nach Erin­ne­rungs­stü­cken schwer macht, das ist die Armut des Wed­dings, die hier vor einem Jahr­hun­dert herrsch­te. Juden leb­ten hier wie die ande­ren Arbei­ter und Tage­löh­ner des Wed­dings am Ran­de der Gesell­schaft. Per­sön­li­che Nach­läs­se mit Brie­fen, Fotos und Tage­bü­chern feh­len. Die sozia­le Schicht, die sol­che Tra­di­tio­nen pfleg­te, leb­te nicht im Armen­be­zirk Ber­lins. “Daher sind ihr Spu­ren fast aus­ge­löscht”, schreibt Dr. Cars­ten Schmidt. Auch Ansichts­kar­ten und Zei­tungs­fo­tos sind anders als bei christ­li­chen Vor­zei­ge­bau­ten wie der Dan­kes­kir­che am Wed­ding­platz rar. Den­noch ist es Dr. Cars­ten Schmidt gelun­gen, die jüdi­sche Gemein­schaft und ihre Orte in fünf Kapi­teln zu beschrei­ben. Er stützt sich auf jüdi­sche Zei­tun­gen, die damals erschie­nen sind und heu­te digi­ta­li­siert und online ver­füg­bar sind. Die fünf Kapi­tel in Bit­ters­weet beschäf­ti­gen sich mit Kauf­leu­ten, mit sozia­len Ein­rich­tun­gen wie dem jüdi­schen Kran­ken­haus, der Welt der Schu­le, den Rab­bi­nern und der Armen­für­sor­ge. Das sind für Dr. Cars­ten Schmidt Anknüp­fungs­punk­te, aus denen er ein Netz knüpft, mit dem er (bei­na­he) aus dem Nichts Ein­bli­cke in den jüdi­schen All­tag einfängt.

jüdisches Krankenhaus
Das Kran­ken­haus ist eines der letz­ten Zeug­nis­se jüdi­schen Lebens am Wed­ding. Foto: And­rei Schnell

Der Wed­ding war nie ein Hot­spot jüdi­schen Lebens in Ber­lin. Das bele­gen his­to­ri­sche Bevöl­ke­rungs­sta­tis­ti­ken. Der Ber­li­ner Nor­den war wenig attrak­tiv, hier leb­ten im 19. Jahr­hun­dert anders als in den Städ­ten Char­lot­ten­burg und Schö­ne­berg nur weni­ge Juden. Doch dann erwies sich die Rand­la­ge über­ra­schen­der­wei­se als för­der­lich, denn hier waren Boden­prei­se nied­rig. Damit wur­den Neu­bau­ten von Kran­ken­haus bis Alters­heim und Syn­ago­ge möglich.

Übrig geblie­ben sind von die­sen Gebäu­den im Wed­ding und Gesund­brun­nen nur weni­ge. Eines davon ist das Obdach­lo­sen­asyl Wie­sen­burg, auch wenn die­se kein jüdi­scher Bau ist. Aber die jüdi­sche Gemein­de hat die Wie­sen­burg zu Beginn der 1920er Jah­re von der Stadt Ber­lin gemie­tet, um Ver­trie­be­ne aus Ost­eu­ro­pa unter­zu­brin­gen. Schlaf­kar­ten bewei­sen dies. Ande­re bau­li­che Zeug­nis­se, wie das jüdi­sche Alters­heim, sind erst vor kur­zem so saniert wor­den, dass ihre Geschich­te unkennt­lich ist.

160 Seiten über Fehlstellen

Dr. Cars­ten Schmidt zeigt dem Leser das, was nicht mehr zu sehen ist. Und das auf eine lese­freund­li­che Art. Der Autor schreibt für ein brei­tes Publi­kum, trotz der Mate­ri­al­fül­le wen­det sich das Buch nicht an Auskenner.

Es sind 160 Sei­ten, für die Dr. Cars­ten Schmidt Mate­ri­al gefun­den hat. Ande­re his­to­ri­sche Dar­stel­lun­gen sind umfang­rei­cher, doch die Dich­te an Infor­ma­tio­nen ist in Bit­ters­weet hoch. Nicht vie­le His­to­ri­ker dürf­ten so detail­liert zum jüdi­schen Leben im Wed­ding und Gesund­brun­nen geforscht haben.

Ins­ge­samt über­nimmt das Buch eine Funk­ti­on, die ver­gleich­bar mit einer Hyp­no­se ist. Wer es durch­liest, sieht den Wed­ding und Gesund­brun­nen plötz­lich so, wie er die Orts­tei­le schon immer hät­te sehen kön­nen. Wenn da nicht die­ser Schlei­er gewe­sen wäre, den das Buch fort­schiebt. Denn natür­lich weiß jeder, dass es Spu­ren jüdi­schen Lebens geben müss­te; doch im Alll­tag wun­dert man sich sel­ten, sie nicht zu sehen. Bit­ters­weet zeigt, wo hin­zu­schau­en ist.

Tipp: Bit­ters­weet und das Buch “Am Wed­ding haben sie gelebt” ergän­zen ein­an­der her­vor­ra­gend. Das eine nähert sich mit dem Blick des His­to­ri­kers, das ande­re ist eine Samm­lung von Lebensgeschichten.

Carsten Schmidt

Regel­mä­ßi­gen Lesern des Wed­ding­wei­sers ist Dr. Cars­ten Schmidt als Autor bekannt. Vie­le Tex­te, auf denen Bit­ters­weet auf­baut, erschie­nen zuerst auf die­sem Blog. Stu­diert hat Dr. Cars­ten Schmidt Kunst­ge­schich­te, BWL und Geschich­te an der FU und der TU. In sei­ner Dok­tor­ar­beit hat er sich mit New York und sei­ner “Archi­tek­tur als Gesell­schafts­auf­trag und Aus­hand­lungs­pro­zess” beschäf­tigt (erschie­nen 2014). Mit Bit­ters­weet wid­met er sich nun wie­der sei­nem his­to­ri­schen Inter­es­se, nach­dem er bis­lang in ande­ren Berei­chen berufs­tä­tig war und ist. Für zukünf­ti­ge Bücher zum jüdi­schen Leben im Wed­ding hat er bereits eini­ge Ideen. Aber erst ein­mal ist er mit dem Erschei­nen von Bit­ters­weet beschäftigt.

Buch frisch aus der Druckerei

“Bit­ters­weet. Jüdi­sches Leben im Roten Wed­ding 1871 – 1933” kos­tet 18 Euro. Der Ver­kauf im Ver­lag Hentrich Hentrich star­tet gera­de. Ihr könnt den loka­len Buch­händ­ler Bel­le-Et-Tris­te in der Ams­ter­da­mer Stra­ßen unter­stüt­zen und das Buch dort ab Diens­tag kaufen.

Hier fin­det man Cars­ten Schmidts bis­he­ri­ge Arti­kel bei uns über das Jüdi­sche Leben im Wedding.

Cover des Buches. Gra­fik: Verlag

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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