Schon im Herbst 2016 planten etliche Stadtaktivisten ein Kiezhaus im Wedding. Die Erwerbsloseninitiative Basta, die Gruppe “Hände weg vom Wedding” und das interkulturellen Gartenprojekt “Im Garten” verfolgten zielstrebig und gemeinsam das Vorhaben, ein neues Nachbarschaftshaus zu gründen. Seit September 2018 gibt es dieses nun in der Afrikanischen Straße: Ein Gespräch im und über das Kiezhaus Agnes Reinhold.
Vor allem auch das Abwehren der Mietenpolitik und der Modernisierungen standen im Fokus und das Unterstützen der Bewohner in der Nachbarschaft bei diesen Zuständen vor Ort und bei den lokalen Initiativen. Man fand die historische Person Agnes Reinhold, die durch ihre politischen Aktivitäten im Berlin des 19. Jahrhunderts besonderen persönlichen Einsatz zeigte. Sie war politisch aktiv, und sie verbreitete anarchistische Zeitungen und Flugblätter. “Sie leistete damit einen frühen Beitrag dazu, die entwürdigenden Lebensumstände der Arbeiterinnen und Arbeiter anzuprangern und zur politischen Aktion aufzurufen”, so steht es in einer Broschüre der Gustav-Landauer-Denkmalinitiative, die das Leben von Reinhold erst kürzlich aufgearbeitet hat.“ (nd 21.12.2017)
Eröffnet wurde das Kiezhaus dann im September 2018, mit Hilfe von Anträgen bei Stiftungen zur Anschubfinazierung, mit vielen kleinen Spenden und mit Fördermitgliedschaften.
Ich führte ein Gespräch mit Tino und Franzi, die für die Öffentlichkeitsarbeit des Kiezhauses zuständig sind. Tino ist seit dem Jahr 2013 in der „Hände weg vom Wedding“-Stadtteilinitiative, die damals den Mieterprotest in der Koloniestraße organisiert und auch in der Buttmannstraße einen Treffpunkt genutzt hatte, aber keinen festen Ort hatte.
Darüber hinaus gab und gibt es, so Tino, auch politische Gründe, gesicherte Räume zu nutzen, sich unabhängig von Vermietern, Wohnungsbauunternehmen und Bezirksämtern zu halten. Gerade bei Protesten oder Hausbesetzungen gegen Mietenpolitik könne das wichtig sein, z.B. mit Räumungsbeschlüssen nach der sog. Berliner Linie (1981), die binnen 24 Stunden nach einer Hausbesetzung und wegen Strafanträgen der Hausbesitzer vollstreckbar sind (taz 5.6.2018). Man wollte unabhängig sein, um eben auch unabhängig Kritik üben zu können.
Also war die leitende Idee, sich Räume anzueignen und für die Nachbarschaftsarbeit zur Verfügung zu stellen. Die Initiative wirkte etwa drei Jahre lang an den Ideen, der Suche und der Finanzierung, bis der gegründete Verein beschloss, ein Kiezhaus als soziales Zentrum zu eröffnen. Damit war es möglich, eine solidarische Infrastruktur für die Leute im Kiez, die sich wehren und vernetzen wollen, anzubieten.
Das Kiezhaus ist parteiunabhängig und hat einen Rat, in dem über Projekte und Aktivitäten ebenso wie über die technischen Belange der Räume beschlossen wird. So gibt es einmal im Jahr ein Treffen, an dem der Laden renoviert wird, und es gibt Initiativen, über deren Raumnutzung und Mitwirkung gemeinsam entschieden wird, um die sozialen und politischen Angebote praktikabel zu halten.
Es wird ein Rahmen der Vertrauensbildung gegeben, um auch neue und wachsende Interessen einzubinden. Das ist ein eminenter Vorteil der Nachbarschaftsarbeit unmittelbar im Kiez, da aktuelle Trends und Entwicklungen sofort aufgreifbar werden.
Man ist vernetzt mit vielen Initiativen, z.B. auch mit NARUD e.V. und der Registerstelle Berlin-Mitte, der Meldestelle für Diskriminierung und rechte Gewalt. Auf dem Tag der Zivilcourage am 19. September auf dem Weddinger Leopoldplatz gab es dazu Information und Aktionen.
Der theoretische Rahmen für all diese Kreativitäten und Aktivitäten ist die Kritik an Auswüchsen der Arbeitswelt und der Gewalt in der Gesellschaft.
Alles in allem also eine weite und gewichtige Plattform für die solidarische Rahmensetzung lokaler Interessen und kritischer Arbeit an den Lebensfeldern, wobei das Kiezhaus Agnes Reinhold keine politische Organisation ist, sondern eine politische Rahmenverwaltung leistet, die Themen setzt und über die Rätestruktur leitende Vorgaben macht.
Es soll eine Politisierung ermöglicht werden. Die Projekte übernehmen die Verantwortung für ihre Arbeit und es ist nicht gemeint, die Sozialarbeit zu kopieren, sondern solidarische Prozesse zu befördern.
Es geht um gesellschaftliche Organisierung und dabei um Delegiertenprinzipien, bei denen die Basis, die hier kommuniziert, nicht vergessen wird, und es geht um die konkrete Häuserebene, die die weitsichtige Perspektive der Verbesserungen an den Lebensverhältnissen nicht aus den Augen verliert. Dies geht Hand in Hand mit der Kritik des Kiezhauses an den Stadtteilvertretungen und den QM, die die Ergebnisse ihrer Arbeit oft genug nur auf das Bezirksamt und dessen Regelungskompetenzen hin kanalisieren.
So kann man sagen, dass das Kiezhaus darauf bedacht ist, mit der politischen Organisierung wachsenden Druck für gesellschaftliche Fragen zu ermöglichen und dafür seinen Beitrag zu leisten. Letztendlich ist eine Stärkung der Selbstvertretung beabsichtigt, die ohne ein übergestülptes Sozialarbeiterkonzept, aufgebaut werden soll.
Und dazu gibt es diesen schönen sonnigen Laden an der Afrikanischen Straße 74 nahe dem Eingang zum Park Rehberge (Bus 221, Otawistr.), in dem man sich zu vielen Anlässen und auch ohne den Anspruch, eine Gruppe zu gründen oder integrierte Vereinsarbeit zu leisten, kennenlernen kann.
Das Kiezhaus ist ein Multi-Themen-Ort, der viele solidarisch unter einem Dach zusammenbringt. Die SoLaWi , die Kiezküche, die die Nachbarn zum gemeinsamen Kochen und Essen einlädt, das Feministische Netzwerk im Wedding und die Offene feministische Kontaktstelle, die freitags um 11 Uhr im Kiezhaus Beratung anbietet, der AKS Berlin, ein Zusammenschluss von Arbeitenden in der Sozialarbeit, die BAGA (Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht), der Mietenwahnsinn Nord, das Oficina Prekaria Berlin, also die Beratung um alle lebensrelevanten Fragen von Ausländern. Daneben werden laufend die Anfragen aus den Nachbarschaften beantwortet, derzeit viele zum Mietrecht und zu den steigenden Energiekosten.
Zudem gibt es außerordentliche Events, so das durchaus pompöse Treffen Gaza Benefiz Dinner am 24. September 22, bei dem bis zu 20 Gäste gegen eine Spende ein Drei-Gänge-Weltmenü, kreiert von Cooking for Peace gemeinsam genießen.
Und am 8. Oktober 2022 veranstaltet unverwertbar.org unter dem Motto „Preise runter!“ eine Demo ab 13 Uhr.
In der Mache sind weiterhin ein Cafe für Alleinerziehende und eine Abholstelle für Babybekleidung, angedacht ist ein Elterncafé, zudem wird eine politische Bibliothek aufgebaut.
Einmal im Jahr gibt es einen Tag der offenen Tür, zu dem jedes Projekt einen Slot erhält und sich den Besuchern vorstellt. Der eben veranstaltete Tag des offenen Kiezhauses war gerade am 3. September: Man sollte sich diesen orientierenden Tag als WeddingerIn und als Parkviertel-Bewohner diesen Termin für 2023 bereits vormerken.
Gespräch, Text und Fotos © Renate Straetling
Kiezhaus Agnes Reinhold, Afrikanische Straße 74
Mail: info[ät]kiezhaus.org (OpenPGP für verschlüsselten Mailverkehr)
Mobil: +49 151 55811505 (Do. 11–14 Uhr) Gerne auch Sprachnachrichten!
Telegram-Infokanal: t.me/Kiezhaus6