Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4 der Serie nachlesen.
Tag 7 – Samstag, 05.03.2022
Gestern Abend fuhren wir in der Dunkelheit gute 20 Minuten zu einer befreundeten Familie von Janusz. Sie waren früher einmal Nachbarn und Joanna und Piotr sagten sofort ja, als er sie nach einer Schlafmöglichkeit für mich fragte.
Die beiden sind um die 50, haben zwei Kinder, die Tochter studiert in Warschau, der Sohn wohnt Zuhause. Sie wirken schon im ersten Moment total sympathisch und zeigen mir den Weg in mein Zimmer. Nach einer Dusche bitten sie mich zum Abendessen. Diese Gastfreundschaft und das Gefühl von Zuhause ist ein willkommener Kontrast zur anonymen Hotelatmosphäre der vergangenen Tage. Wir verständigen uns per Übersetzungs-App, was selten perfekt funktioniert, aber doch eine unheimliche Bereicherung ist. Sonst wäre so gut wie keine Kommunikation möglich.
Blick ins Wohnzimmer mit Nachrichten in Dauerschleife.
Den kompletten Samstag verbringe ich am Computer, schreibe, bearbeite Fotos. Es hat sich ganz schön was aufgestaut. Neben mir im Wohnzimmer laufen vom Morgen bis in den Abend Nachrichten. Auch hier ist der Alltag momentan von nichts anderem bestimmt als der Situation im Nachbarland. Joanna und Piotr verspüren auch Angst. „Was ist schon eine Grenze für Leute wie Putin?“, sagen sie.
Mir wird hier sehr deutlich, wie betroffen viele Menschen in Polen von dem Krieg sind. Vielleicht ist das auch ein Erklärungsgrund für die unbeschreibliche Welle der Solidarität in dieser, im Vergleich zu anderen Flüchtlingskrisen: Wir könnten als nächstes dran sein. Die aktuelle Politik der polnischen Regierung spiegelt dies ebenfalls wider. Insbesondere, aber nicht nur, im Osten des Landes, zählt sicher außerdem dazu, dass die Menschen sich als Nachbarn mit einer verbindenden Geschichte begreifen. Viele kennen Ukrainer*innen, haben vielleicht sogar Verwandte oder Bekannte „auf der anderen Seite“.
Zwei Mal die gleiche Stelle, aus leicht unterschiedlicher Perspektive aufgenommen. Irgendwo im Wald nahe der Grenze. (Fotos vom 06.03.2022)
Manchmal frage ich mich aber schon, was da jetzt aktuell geschieht. Ich erinnere mich an die schrecklichen Bilder vor einigen Monaten von der polnisch-belarussischen Grenze. Abgesehen von der Tatsache, dass Lukaschenko ein „politisches Spiel“ mit den Menschen trieb, kam es auch in Polen zu hässlichen Szenen und Flüchtlinge wurden teilweise auf inakzeptable Weise behandelt. Wurden beispielsweise zurück zur Grenze transportiert und allein gelassen. Und ja, es gab und gibt auch vonseiten der polnischen Zivilgesellschaft viele, die sich für die Flüchtlinge einsetzten und einsetzen. Aber spielten nicht doch Hautfarbe und Religion eine relevantere Rolle als nur eine „starke Antwort“ auf das Verhalten des Diktators Lukaschenko?
Geparkte Autos und Abfälle am Grenzübergang Dołhobyczów-Uhrynów. (Foto vom 06.03.2022)
Ich persönlich finde es höchst problematisch, zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen zu unterscheiden. Ist uns eigentlich klar, was in den nächsten Jahrzehnten passieren wird, wenn ganze Küstenregionen auf der Welt durch den Klimawandel unbewohnbar werden? Es versteht sich, dass nicht ein Land jeden flüchtenden Menschen aufnehmen kann. Eine Entgegnung, die mir in Deutschland häufig begegnet. Aber was oben Beschriebenes angeht sowie auch die seit Jahren herrschende Politik der EU an ihren anderen Außengrenzen – es ist schon eine Frage wert, wonach wir eigentlich wie urteilen.
Medien-Team am Grenzübergang Hrebenne. (Foto vom 06.03.2022)
In Tagen wie diesen und auch mit der Corona-Pandemie hat sich für mich gezeigt, zu was für Veränderungen eine Gesellschaft fähig ist, die zuvor als undenkbar galten – und auch was eine Gesellschaft willig ist zu finanzieren. Es ist in jedem Fall unglaublich wertvoll, wenn Menschen jetzt helfen. Auch wenn sie vielleicht in anderen Krisen, möglicherweise aufgrund von Vorurteilen, nicht geholfen haben. Eine gute Entwicklung wäre doch, wenn mehr Menschen auch ihre eigenen Motive reflektieren und Berührungsängste abgebaut werden.
Oben links: Landschaft in Westpolen im Morgenlicht. (Foto vom 28.02.2022)
Oben rechts: Staubiger Weg bei Łódź. (Foto vom 01.03.2022)
Unten links: Landstraße bei Rejowiec. (Foto vom 02.03.2022)
Unten rechts: Der Grenzfluss Bug. (Foto vom 06.03.2022)
Mich selber an die Nase fassend will ich an dieser Stelle erwähnen, dass es meine erste längere Reise in unser Nachbarland ist. So einige Dinge sind mir klar geworden, die mich unbewusst lange Zeit meines Lebens begleitet haben. Darunter sind Stereotypen, die ich als im Westen Deutschlands aufgewachsenes Kind über Polen und Osteuropa schon in der Schulzeit mitbekommen habe. Und die Erkenntnis, dass meine Wahrnehmung sehr durch eine eher auf Negatives konzentrierte Berichterstattung über Themen, die meist absolut berichtenswert sind, geprägt ist. Aber das ist eben nicht alles hier in Polen.
Zurück in die Grenzregion unweit von der Kleinstadt Hrubieszów, wo ich mich befinde: meine Gastfamilie bot mir schon am gestrigen Abend an, noch eine weitere Nacht bei ihnen zu verbringen. So hatte ich Gelegenheit ein bisschen Kleidung zu waschen und werde mich morgen gut gesättigt und mit einem Glas hausgemachtem Honig als Geschenk im Gepäck wieder auf den Weg machen.
Links: Hausgemachter Honig. Mitte: Joanna und Piotr. Rechts: Büsche in ihrem Garten. (Fotos vom 06.03.2022)
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4 der Serie nachlesen.