Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Serie nachlesen.
Tag 6 – Freitag, 04.03.2022
Ich befinde mich in Dubienka, einem kleinen Dorf, das direkt an die Ukraine grenzt. Ich bin am späten Vormittag losgefahren, direkt Richtung Osten, teilweise über Schlaglochpisten, durch gottverlassene Gegenden. Dörfer, wo niemand auf der Straße ist, und nur Hunde bellen oder beim Vorbeifahren am Zaun mitrennen. Hier und da interessante Holzhäuser, bunt gestrichen, grün, rot, gelb. Immer mal wieder auch zerfallene Gehöfte oder nicht fertiggestellte Gemäuer. Oft fühle ich mich an Brandenburg erinnert. Es ist hier sicher etwas hügeliger und gibt weniger gepflasterte Allen und sandige Wege, als in manchen Gegenden um Berlin anzutreffen sind. Aber die Landschaften ähneln sich sehr.
Links: Birken an einer Landstraße. Rechts: Häuser in Dubienka.
Meine Füße sind kalt und ich bin froh, dass ich wieder eines dieser kleinen Lebensmittelgeschäfte gefunden habe. Die Kette heißt Lewiatan und findet sich in jedem zweiten Dorf. Ich muss an den Philosoph Thomas Hobbes denken und seine Schrift aus dem 17. Jahrhundert. Der Mensch sei dem Menschen ein Wolf und der chaotische Naturzustand (Krieg aller gegen alle) müsse durch eine alles kontrollierende und ggf. bestrafende Instanz im Staat beendet werden: der Leviathan. Passender kann ein immer wieder auftauchender Begriff wirklich nicht sein in dieser Zeit, in der wir uns mit einem viel zu mächtigen, durchgedrehten Despot konfrontiert sehen.
Im Laden herrscht eine Stimmung, wie sie eben für gewöhnlich in einem Laden herrscht. Per Übersetzung-App gebe ich zu verstehen, dass mir ein heißes Getränk wirklich gut tun würde. Im Sortiment gibt’s das nicht, aber die drei Damen hinter der Theke verstehen mein Anliegen. Selten schmeckt Instant-Kaffee so gut. Ein Geschenk von ihnen, ebenso wie die Packung Kekse.
Links: Der kleine Lewiatan in Dubienka. Rechts: Typische Straßenkreuzung auf dem Land.
Ich lasse mich in Richtung Süden treiben, entlang des eben erwähnten Flusses Bug, der für viele Kilometer die natürliche Grenze zwischen Polen und der Ukraine bildet. Mitten im Niemandsland passiere ich eine Polizeistreife. Direkt fotografieren lassen wollen sie sich nicht, also tue ich es unbemerkt etwas aus der Ferne. Ich habe mich schon gefragt: kommen hier nicht auch Flüchtlinge abseits der Übergänge über die Grenze? Was ist mit männlichen Staatsbürgern zwischen 18 und 60 Jahren, denen es verboten ist zu flüchten? Vielleicht werde ich es noch herausfinden, aber hier ist es ruhig.
Ein paar Minuten weiter sehe ich auf der Karte, dass der Fluss nur etwa 100m von der Straße entfernt liegt. Ich biege links auf einen sandigen Feldweg ab und halte an dessen Ende an. Ich klettere eine Böschung hinunter und da ist sie: die Grenze. Dieses komische Konstrukt. Ich schaue in die Ukraine. Der Himmel sieht gleich aus. Das Gras. Die Bäume. Das Wasser. Der Gedanke, dass sich das Land auf der anderen Seite in diesem Moment im Krieg befindet, erscheint absurd.
Blick in die Ukraine über den Grenzfluss Bug.
Mich überkommt ein Unwohlsein und ich gehe zügig zurück zu meinem Fahrzeug. Wieder einige Kilometer weiter bemerke ich ein Auto mit Berliner Kennzeichen am Straßenrand. Ich halte an, frage den Mann, ob alles in Ordnung ist. Sein Handynetz funktioniert scheinbar nicht. Er sucht nach einem Ort, dessen Namen ihm eine Verwandte aus der Ukraine per Nachricht geschickt hat und von wo er sie abholen will. Ich schaue auf meiner Offline-Karte nach. Da ich in die gleiche Richtung fahren muss, folgt er mir nun.
Und dann sehe ich plötzlich Autoschlangen in der Ferne. Ich komme näher und mir kommt diese komische Assoziation in den Kopf: es sieht aus wie ein Zirkus, der diesen Ort besucht. Menschen stehen neben ihren Autos und vor Zelten, an denen, wie schon am Grenzübergang in Dorohusk, Essen und Getränke serviert, Hilfsgüter verteilt werden. Ich parke und neben mir lehnt Pavla, 30, an der Leitplanke. Er spricht perfektes Englisch, ist mit seiner Frau im Auto gekommen. Sie ist nun alleine über die Grenze gefahren, um Familienmitglieder rauszuholen. Er wartet viele Stunden auf der polnischen Seite, denn einmal in der Ukraine wäre es ihm verboten wieder auszureisen.
Oben links: Pavla.
Oben rechts: Helfer*innen am Straßenrand.
Unten links: Autos und Zelte aus der Ferne gesehen.
Unten rechts: Eingang zum Zelt.
In einem Hilfszelt treffe ich auf Janusz. Er hat viele Jahre in Mannheim gelebt und spricht Deutsch. Janusz ist einer der Koordinatoren der dutzenden Freiwilligen, die unter anderem über die lokale Kirchengemeinde hier am Grenzübergang Zosin aktiv sind. Neben der Soforthilfe für ankommende Flüchtlinge verpacken sie auch Pakete für die Armee in der Ukraine: Konserven, Schlafsäcke, dicke Decken, Powerbanks, Äxte zum Holzhaken. Vor einigen Tagen wurde das große Zelt etwa 200m von der Grenze wegverlegt, weil sie – in seinen Worten ausgedrückt – Angst davor haben, dass Putin hier doch mal eine Rakete hinschicken könnte.
Ich sitze eine Weile im Zelt, trinke einen Kaffee, esse etwas frischen Tomaten-Gurke-Zwiebel-Salat und dazu – Überraschung – eine gegrillte Wurst. Meine ansonsten ziemliche Zurückhaltung beim Thema Fleischkonsum hat in diesen Tagen keine Chance. Um mich herum sind Helfende und viele Frauen mit Kindern. Viele essen, andere sitzen einfach nur da, ein Kind weint. Einer Mutter mit ihren zwei Kindern sieht man den Stress förmlich an. Janusz zeigt mit einem gewissen Stolz auf eine Ecke im Zelt, wo sie mit Planen eine improvisierte Mutter-Kleinkind-Ecke abgetrennt haben.
Oben: Janusz.
Mitte: Helfer*innen sortieren Kleidung; im Hintergrund die Mutter-Kleinkind-Ecke.
Unten links: Mutter und Kind schauen auf eine gedruckte Landkarte, die im Zelt vielfach ausliegen.
Unten rechts: Zelt von außen bei Dunkelheit.
Die Dämmerung setzt langsam ein. Das Licht im Zelt geht alle paar Minuten kurz aus. Janusz erklärt, dass der Generator ein bisschen Probleme macht. Die Gemeinde stellt sich noch quer, was den Anschluss an die Hauptstromleitung angeht. Bis dahin: stetiges Dröhnen.
Als ich davon erzähle, dass ich mich bald um ein Hotel für die Nacht kümmern muss, greift er zum Handy. Nach fünf Minuten hat er einen Schlafplatz bei einer befreundeten Familie für mich organisiert. „Es gibt hier so viele Menschen, die Betten anbieten. Ich garantiere dir: du nimmst niemanden einen Platz weg!“, beruhigt er mich. Was soll ich da noch sagen?
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
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