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Berlin – Ukraine:
Eine Reise gegen die Ohnmacht – Teil 4

Der in Berlin Wedding lebende Fotograf Tilman Vogler berichtet von seinen Beobachtungen an der ukrainischen Grenze. Im heutigen Teil erzählt er vom Leben in einem kleinen Dorf, gelangt zur natürlichen Grenze und spricht mit Menschen an einem weiteren Grenzübergang.
8. März 2022

Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Serie nach­le­sen.

Tag 6 – Freitag, 04.03.2022

Ich befin­de mich in Dubi­en­ka, einem klei­nen Dorf, das direkt an die Ukrai­ne grenzt. Ich bin am spä­ten Vor­mit­tag los­ge­fah­ren, direkt Rich­tung Osten, teil­wei­se über Schlag­loch­pis­ten, durch gott­ver­las­se­ne Gegen­den. Dör­fer, wo nie­mand auf der Stra­ße ist, und nur Hun­de bel­len oder beim Vor­bei­fah­ren am Zaun mit­ren­nen. Hier und da inter­es­san­te Holz­häu­ser, bunt gestri­chen, grün, rot, gelb. Immer mal wie­der auch zer­fal­le­ne Gehöf­te oder nicht fer­tig­ge­stell­te Gemäu­er. Oft füh­le ich mich an Bran­den­burg erin­nert. Es ist hier sicher etwas hüge­li­ger und gibt weni­ger gepflas­ter­te Allen und san­di­ge Wege, als in man­chen Gegen­den um Ber­lin anzu­tref­fen sind. Aber die Land­schaf­ten ähneln sich sehr.

Links: Bir­ken an einer Land­stra­ße. Rechts: Häu­ser in Dubienka.

Mei­ne Füße sind kalt und ich bin froh, dass ich wie­der eines die­ser klei­nen Lebens­mit­tel­ge­schäf­te gefun­den habe. Die Ket­te heißt Lewia­tan und fin­det sich in jedem zwei­ten Dorf. Ich muss an den Phi­lo­soph Tho­mas Hob­bes den­ken und sei­ne Schrift aus dem 17. Jahr­hun­dert. Der Mensch sei dem Men­schen ein Wolf und der chao­ti­sche Natur­zu­stand (Krieg aller gegen alle) müs­se durch eine alles kon­trol­lie­ren­de und ggf. bestra­fen­de Instanz im Staat been­det wer­den: der Levia­than. Pas­sen­der kann ein immer wie­der auf­tau­chen­der Begriff wirk­lich nicht sein in die­ser Zeit, in der wir uns mit einem viel zu mäch­ti­gen, durch­ge­dreh­ten Des­pot kon­fron­tiert sehen.

Im Laden herrscht eine Stim­mung, wie sie eben für gewöhn­lich in einem Laden herrscht. Per Über­set­zung-App gebe ich zu ver­ste­hen, dass mir ein hei­ßes Getränk wirk­lich gut tun wür­de. Im Sor­ti­ment gibt’s das nicht, aber die drei Damen hin­ter der The­ke ver­ste­hen mein Anlie­gen. Sel­ten schmeckt Instant-Kaf­fee so gut. Ein Geschenk von ihnen, eben­so wie die Packung Kekse.

Links: Der klei­ne Lewia­tan in Dubi­en­ka. Rechts: Typi­sche Stra­ßen­kreu­zung auf dem Land.

Ich las­se mich in Rich­tung Süden trei­ben, ent­lang des eben erwähn­ten Flus­ses Bug, der für vie­le Kilo­me­ter die natür­li­che Gren­ze zwi­schen Polen und der Ukrai­ne bil­det. Mit­ten im Nie­mands­land pas­sie­re ich eine Poli­zei­strei­fe. Direkt foto­gra­fie­ren las­sen wol­len sie sich nicht, also tue ich es unbe­merkt etwas aus der Fer­ne. Ich habe mich schon gefragt: kom­men hier nicht auch Flücht­lin­ge abseits der Über­gän­ge über die Gren­ze? Was ist mit männ­li­chen Staats­bür­gern zwi­schen 18 und 60 Jah­ren, denen es ver­bo­ten ist zu flüch­ten? Viel­leicht wer­de ich es noch her­aus­fin­den, aber hier ist es ruhig.

Ein paar Minu­ten wei­ter sehe ich auf der Kar­te, dass der Fluss nur etwa 100m von der Stra­ße ent­fernt liegt. Ich bie­ge links auf einen san­di­gen Feld­weg ab und hal­te an des­sen Ende an. Ich klet­te­re eine Böschung hin­un­ter und da ist sie: die Gren­ze. Die­ses komi­sche Kon­strukt. Ich schaue in die Ukrai­ne. Der Him­mel sieht gleich aus. Das Gras. Die Bäu­me. Das Was­ser. Der Gedan­ke, dass sich das Land auf der ande­ren Sei­te in die­sem Moment im Krieg befin­det, erscheint absurd.

Blick in die Ukrai­ne über den Grenz­fluss Bug.

Mich über­kommt ein Unwohl­sein und ich gehe zügig zurück zu mei­nem Fahr­zeug. Wie­der eini­ge Kilo­me­ter wei­ter bemer­ke ich ein Auto mit Ber­li­ner Kenn­zei­chen am Stra­ßen­rand. Ich hal­te an, fra­ge den Mann, ob alles in Ord­nung ist. Sein Han­dy­netz funk­tio­niert schein­bar nicht. Er sucht nach einem Ort, des­sen Namen ihm eine Ver­wand­te aus der Ukrai­ne per Nach­richt geschickt hat und von wo er sie abho­len will. Ich schaue auf mei­ner Off­line-Kar­te nach. Da ich in die glei­che Rich­tung fah­ren muss, folgt er mir nun.

Und dann sehe ich plötz­lich Auto­schlan­gen in der Fer­ne. Ich kom­me näher und mir kommt die­se komi­sche Asso­zia­ti­on in den Kopf: es sieht aus wie ein Zir­kus, der die­sen Ort besucht. Men­schen ste­hen neben ihren Autos und vor Zel­ten, an denen, wie schon am Grenz­über­gang in Doro­husk, Essen und Geträn­ke ser­viert, Hilfs­gü­ter ver­teilt wer­den. Ich par­ke und neben mir lehnt Pav­la, 30, an der Leit­plan­ke. Er spricht per­fek­tes Eng­lisch, ist mit sei­ner Frau im Auto gekom­men. Sie ist nun allei­ne über die Gren­ze gefah­ren, um Fami­li­en­mit­glie­der raus­zu­ho­len. Er war­tet vie­le Stun­den auf der pol­ni­schen Sei­te, denn ein­mal in der Ukrai­ne wäre es ihm ver­bo­ten wie­der auszureisen.

Oben links: Pav­la.
Oben rechts: Helfer*innen am Stra­ßen­rand.
Unten links: Autos und Zel­te aus der Fer­ne gese­hen.
Unten rechts: Ein­gang zum Zelt.

In einem Hilfs­zelt tref­fe ich auf Janusz. Er hat vie­le Jah­re in Mann­heim gelebt und spricht Deutsch. Janusz ist einer der Koor­di­na­to­ren der dut­zen­den Frei­wil­li­gen, die unter ande­rem über die loka­le Kir­chen­ge­mein­de hier am Grenz­über­gang Zosin aktiv sind. Neben der Sofort­hil­fe für ankom­men­de Flücht­lin­ge ver­pa­cken sie auch Pake­te für die Armee in der Ukrai­ne: Kon­ser­ven, Schlaf­sä­cke, dicke Decken, Power­banks, Äxte zum Holz­ha­ken. Vor eini­gen Tagen wur­de das gro­ße Zelt etwa 200m von der Gren­ze weg­ver­legt, weil sie – in sei­nen Wor­ten aus­ge­drückt – Angst davor haben, dass Putin hier doch mal eine Rake­te hin­schi­cken könnte.

Ich sit­ze eine Wei­le im Zelt, trin­ke einen Kaf­fee, esse etwas fri­schen Toma­ten-Gur­ke-Zwie­bel-Salat und dazu – Über­ra­schung – eine gegrill­te Wurst. Mei­ne ansons­ten ziem­li­che Zurück­hal­tung beim The­ma Fleisch­kon­sum hat in die­sen Tagen kei­ne Chan­ce. Um mich her­um sind Hel­fen­de und vie­le Frau­en mit Kin­dern. Vie­le essen, ande­re sit­zen ein­fach nur da, ein Kind weint. Einer Mut­ter mit ihren zwei Kin­dern sieht man den Stress förm­lich an. Janusz zeigt mit einem gewis­sen Stolz auf eine Ecke im Zelt, wo sie mit Pla­nen eine impro­vi­sier­te Mut­ter-Klein­kind-Ecke abge­trennt haben.

Oben: Janusz.
Mit­te: Helfer*innen sor­tie­ren Klei­dung; im Hin­ter­grund die Mut­ter-Klein­kind-Ecke.
Unten links: Mut­ter und Kind schau­en auf eine gedruck­te Land­kar­te, die im Zelt viel­fach aus­lie­gen.
Unten rechts: Zelt von außen bei Dunkelheit.

Die Däm­me­rung setzt lang­sam ein. Das Licht im Zelt geht alle paar Minu­ten kurz aus. Janusz erklärt, dass der Gene­ra­tor ein biss­chen Pro­ble­me macht. Die Gemein­de stellt sich noch quer, was den Anschluss an die Haupt­strom­lei­tung angeht. Bis dahin: ste­ti­ges Dröhnen.

Als ich davon erzäh­le, dass ich mich bald um ein Hotel für die Nacht küm­mern muss, greift er zum Han­dy. Nach fünf Minu­ten hat er einen Schlaf­platz bei einer befreun­de­ten Fami­lie für mich orga­ni­siert. „Es gibt hier so vie­le Men­schen, die Bet­ten anbie­ten. Ich garan­tie­re dir: du nimmst nie­man­den einen Platz weg!“, beru­higt er mich. Was soll ich da noch sagen?

Fort­set­zung

Bild­re­dak­ti­on: Lia­ne Geßner

Auf die­ser Sei­te haben wir ein paar Infor­ma­tio­nen zusam­men­ge­stellt, wie man von Ber­lin und Wed­ding aus hel­fen kann. Die Sei­te wird nach und nach befüllt.

Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Serie nach­le­sen.

Tilman Vogler

Tilman Vogler lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin Wedding. Mit einem Hintergrund in Politikwissenschaften interessiert er sich für gesellschaftspolitische und persönliche Themen - am liebsten in Form von tagebuchartigen Fotoessays und Dokumentarfotografie.

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