Im kommenden Jahr feiern wir hundertjähriges Jubiläum. Die zentrale Teilstrecke der heutigen U6 eröffnete im Jahr 1923 als “Nord-Süd-U-Bahn”. Am 30. Januar nahm zunächst der Abschnitt zwischen den heutigen Bahnhöfen Naturkundemuseum und Hallesches Tor den Betrieb auf und wenige Wochen später, am 8. März, auch die nördliche Verlängerung bis zur Seestraße. Sozusagen als Geburtstagsgeschenk soll der U‑Bahnhof Seestraße bis zum nächsten Jahr barrierefrei ausgebaut werden und einen neuen Eingang an der Amsterdamer Straße erhalten.
Störungen wie der Schienenersatzverkehr im Januar müssen in Kauf genommen werden. Bis Anfang April werden zudem die U‑Bahn-Züge am Bahnhof Seestraße nur noch in Nord-Süd-Richtung (also in Richtung Mariendorf) halten. Auf der Gegenseite in Richtung Tegel dagegen werden sie durchfahren, weil hier wegen der Bauarbeiten der Bahnsteig gesperrt ist.
Und auch in den kommenden Jahren muss man sich auf weitere Störungen gefasst machen. Dann wird der U‑Bahn-Tunnel abgedichtet, weshalb die westliche Richtungsfahrbahn der Müllerstraße über längere Zeiträume hinweg gesperrt werden muss. An der Chausseestraße kann man beobachten, wie sich diese Arbeiten langsam von Süd nach Nord voranschieben. Das große Zelt mit der Baugrube befindet sich derzeit etwa auf Höhe der Liesenstraße am Pankegrünzug, kurz bevor aus der Chaussee- die Müllerstraße wird.
Zwischen den ersten Überlegungen zum Bau einer Berliner Nord-Süd-U-Bahn im Jahr 1901 und der Eröffnung der Strecke vergingen am Anfang des letzten Jahrhunderts etwa 22 Jahre. Also nur etwas weniger als in unseren Tagen zwischen den ersten Überlegungen zur Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof in den frühen 1990er Jahren und der Eröffnung des Streckenabschnitts im Dezember 2020. Wobei vor hundert Jahren insgesamt 6,6 Kilometer, in den letzten 30 Jahren aber nur 4 Kilometer U‑Bahn entstanden, beide Male musste die Spree unterquert werden. Die Technik war damals zudem natürlich noch auf einem ganz anderen Stand als heute. Und in den letzten Jahrzehnten unterbrach auch kein Weltkrieg, keine Revolution und kein faktischer Staatsbankrott mit Hyper-Inflation die Bauphase. Eine Pandemie gab es damals auch: Die Spanische Grippe forderte zwischen 1918 und 1920 im Deutschen Reich etwa viermal so viele Todesopfer wie Corona bisher in der Bundesrepublik Deutschland. In unseren Geschichtsbüchern wird dieser Umstand angesichts der Wucht der anderen Ereignisse dieser Jahre aber allenfalls als Fußnote vermerkt.
Die Zeiten ändern sich eben. Größtenteils zum Glück, aber einiges lief früher doch irgendwie besser: Heutzutage, so könnte man leicht überspitzt zusammenfassen, dauert einschließlich der Planungsphase die Abdichtung der Berliner U‑Bahn-Tunnel etwa genau so lange wie vor 100 Jahren Planung und Bau derselben.
Die U6 war jedenfalls im Jahr 1917 im Bau und der U‑Bahnhof Leopoldplatz im Rohbau schon fertig, als die Arbeiten wegen des Weltkriegs unterbrochen werden mussten. Es standen schlichtweg keine Arbeitskräfte mehr zur Verfügung, jeder wehrfähige Mann in Deutschland war an der Front eingesetzt. Im Jahr 1920 gab es Überlegungen, den Bau völlig einzustellen, die Stadt entschied aber anders – auch, weil jeder bezahlte Arbeitsplatz damals dringend erforderlich war, um die Not von Familien zu mindern. Das Geld musste der Staat freilich drucken, es entwickelte sich eine Hyperinflation. Ein Ticket der dritten Klasse kostete während des ersten Weltkriegs 15, am Ende des Jahres 1920 schon 85 Pfennige. Zwei Jahre später, Dezember 1922, war der Preis bei 40 Mark angekommen, im Februar 1923 bei 130 Mark und im November bei 56 Milliarden Mark. Danach wurde die Rentenmark eingeführt, ein Ticket dritter Klasse kostete wieder 15 Pfennige.
Noch in den 1920er Jahren wurde die Linie C, wie sie damals genannt wurde, nach Süden verlängert, zunächst zur “Belle-Alliance-Straße” (dem heutigen U‑Bhf. Mehringgdamm) und von da aus in zwei Abzweigungen nach Neukölln (heute U7) und nach Tempelhof. Auch nach Norden war eine Erweiterung zum heutigen Kurt-Schumacher-Platz geplant und sogar schon im Bau. Die Arbeiten wurden aber in der Krise 1930 abgebrochen, was dazu beitrug, die Massenarbeitslosigkeit zu verstärken und Hitlers Aufstieg letztlich zu begünstigen. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Norderweiterung der Linie C nach Tegel eines der ersten U‑Bahn-Projekte des Westberliner Senats.
Autor: Christof Schaffelder
Dieser Artikel erschien zuerst in der Sanierungszeitschrift “Ecke Müllerstraße”, Ausgabe Feb/März 2022