In unserer Beitragsserie „Wedding ist…“ beschreiben Weddinger ihr Lebensgefühl über das Leben im Kiez. Diesmal geht es um die Familientauglichkeit des Kiezlebens zwischen Müll und Shishacafés.
Typisch: kaum rückt die Einschulung näher, ziehen die Familien weg. Als wären die Grundschulen im Wedding die Inkarnation des Bösen. Nein, wir werden bleiben!
Das waren in den letzten 14 Jahren meine Gedanken. Jetzt bin ich selbst an diesem Lebenspunkt angekommen und merke, dass mich doch spießige Gedanken über den eigenen Lebensentwurf beschleichen. Viele Grundschulen in der Umgebung setzen ihren Schwerpunkt richtigerweise auf die sprachliche Förderung und Integration. Doch zum Glück braucht mein Kind das nicht, eine gute Durchmischung der Schüler mit dem Fokus auf moderne pädagogische Ziele wären mehr willkommen. Das ist hier leider nicht so einfach, die Schulsuche wird zum Spießrutenlauf. Hinzu kommt, dass mich zunehmend der Müll auf den Straßen nervt. Und auch die wiederholten Razzien im Kiez stören mich auf einmal. Was ist nur los mit mir?
Möchte ich vielleicht doch, dass mein Kind in einer heilen Welt fernab der Realität aufwächst?
Szenenwechsel. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag. Unsere Radtour führt uns an der Panke entlang durch die schöne Parkstraße in Pankow. Wohneingentum in sanierter Altbauvilla, Nobelkarosse in der Einfahrt, Ökospielzeug im Vorgarten, alles ist kinderfreundlich… Was für ein Kontrast zu unserem Kiez, nur wenige Minuten mit dem Rad entfernt. Und da ist sie wieder, die Träumerei vom Leben in der heilen Welt, dem behüteten Kokon fernab vom wilden Wedding.
Doch dann im Schloßpark kommt die Erkenntnis: Nein, ich bleibe in meinem Wedding!
Warum? Ich fühle mich unwohl. Ständig das Gefühl, angeguckt, bewertet und gar verurteilt zu werden. Ein Beispiel: Mein einjähriges Kind tapst vor Freude glucksend über eine Wiese, wir spielen fangen und machen Quatsch. Einige beobachten uns, doch überraschenderweise beinahe argwöhnisch, kein einziges Lächeln. In der Schlange für einen Kaffee (Latte-Macchiato natürlich), möchte das Kind klettern, die Stufe zur Kuchenvitrine selbst erkunden. Auch hier nur strenge Mienen, die zu sagen scheinen: das Kind gehört hier nicht hin. Hallo?
Wieder auf der Wiese werden wir von der Mutter eines Kleinkindes angefahren, unser genauso kleines Kind würde ihres beim Ballspielen stören! Ja, was ist denn hier los?
Zurück zu meinem Wedding: Szenen aus unserem Alltag im Kiez:
Unser älteres Kind fällt mit dem Laufrad hin. Wir sind noch 50 Meter entfernt, unsere Tochter hat sich wehgetan und weint laut. Genau vor einem Shishacafé, wo Tag & Nacht starke Jungs vor ihren getunten Autos stehen. Drei von ihnen, imposante Erscheinungen mit bösem Blick, schauen sofort rüber. Aber was passiert? Der Erste rennt in den Laden und holt Caprisonne. Der Zweite hebt völlig selbstverständlich meine Tochter auf und der Letzte das Rad. Bis wir da sind, ist der Sturz vergessen, die Tränen weggewischt und alles wieder gut. Kurzes Nicken zum Gruß, der Blick wieder grimmig. Etwas weiter erhält mein Kind dann noch einen Lutscher vom türkischen Friseur, wie jedes Mal, wenn wir dort vorbeilaufen.
Geschichten wie diese erlebe ich jede Woche. Kein Fahrstuhl, kein Restaurant, keine Warteschlange, wo nicht wildfremde Männer mit meinen Kindern scherzen. Manche von ihnen sprechen nicht mal deutsch, doch für die Kinder ist das egal. Ein Lächeln, ein Späßchen oder einfach nur eine helfende Hand überwindet eben alles. Ich spüre den Kontrast zu unserem Besuch im kinderreichen Nachbarbezirk: Eltern zu sein heißt nicht, kinderfreundlich zu sein. Entscheidend ist wohl eher die Kultur und vielleicht sogar die Familiengröße, in der man selber aufwächst. Hier hat sich der Wedding vermutlich noch etwas Menschlichkeit bewahrt.
Mein Wedding, du bist so kinderfreundlich. Ich mag dich trotz des Mülls und der Razzien. Und die passende Grundschule finden wir auch!
Wir freuen uns über eure Beiträge zur Serie „Wedding ist…“ an [email protected]
Text: Juliane und Samuel Orsenne, Bilder: Samuel Orsenne
Über die Autorin: Juliane Orsenne wohnt seit 2005 im Wedding. Seit sie Kinder hat, lernt sie ihren Kiez nochmal neu kennen und lieben.
Liebe Orsennes,
vielen Dank für den schönen andern Blick. Ich wohne selbst seit 2012 am Gesundbrunnen und habe inzwischen Kids in demnächst „Schulwahlalter“ Der Artikel gibt nochmal einen schönen anderen Blick auf den kinderfreundlichen Wedding. Die Spielplatz/Kita-Dichte bei uns ist auch einfach krass! (Im Positiven)
Ich kann das nur so bestätigen, meine Kinder sind inzwischen erwachsen und im Wedding aufgewachsen. Natürlich sehen sie auch mal was Unschönes, sind aber “streetwise”, können sich in unbekannten Situationen schnellstens zurechtfinden und sind hilfsbereit und tolerant. Nicht zu verachten ist ja auch der Auslauf durch die zwei großen Parks, Schwimmbäder und Kinos. Sie sind in die Anna Lindh Schule gegangen und waren bestens für das Gymnasium gerüstet. Kinder können sich hier durchaus ohne Elterntaxi unkompliziert verabreden (ja, sie spielen dann manchmal mit Plastik und ja, das Essen ist nicht immer ökologisch und moralisch einwandfrei), aber sie wachsen wirklich gesellig auf.