Wer heute in der Kösliner Straße in der Nähe des Nettelbeckplatzes spazieren geht, fühlt sich an westdeutsche Vorstädte aus den 1950er Jahren erinnert. Denn hier gibt es weder die für Berlin typische Hinterhofbebauung noch das vertraute multikulturelle Erscheinungsbild des Wedding. Das erstaunt, da es sich bei der Kösliner Straße um jene Teil des Bezirkes handelt, der eng mit der Geschichte der Arbeiterbewegung verbunden ist. Vor allem steht die Kösliner Straße für das unangemessene Vorgehen der Polizei dem „Blutmai“ im Mai 1929.
Dass heute dort eine Art Vorstadtidylle herrscht, liegt weniger am Zweiten Weltkrieg. Die Ursachen finden sich in der der radikalen Stadtzerstörung des Weddings in den Nachkriegsjahren. Damals setzten die Planer auf eine nach Funktionen getrennte Stadt. Hier sollte gewohnt, dort gearbeitet, an anderen Stellen die Freizeit verbracht werden. Für einen neuen Grünzug entlang der Panke wurden Straßen gesperrt, zur Sackgasse, verschwanden gänzlich aus dem Stadtbild. Damit zerstörten die Planer der Wirtschaftswunderzeit gleichsam das historisch gewachsene Zentrum des Weddings, das sich einstmals zwischen Nettelbeckplatz und dem Gesundbrunnen befand. Der Name der verlängerten Kösliner Straße, die Weddingstraße, deutet das noch immer an. Die umliegenden Kieze wie der an der Kösliner Straße wandelten sich von einer verdichteten Innenstadt hin zu randstädtischen Siedlungsgebieten. Was beim südlichen Teil der Kölsiner Straße den Eindruck einer Siedlung entstehen lässt, ist, dass die Wohnhäuser nicht mehr entlang der Straße errichtet worden sind. Die Wohnzeilen stehen hier rechtwinklig zur Straßenkante. Das bedeute die Aufgabe der für Berlin typischen kleinteiligen Eigentümer- und vor allem der durchmischten Nutzerstruktur. Dazu mussten Grundstücke vorher von einem Eigentümer erworben und zusammengelegt werde.
Der Kalte Krieg mit der Abrissbirne
Was der Kösliner Straße allerdings auch zum Verhängnis wurde, war, dass die West-Berliner und die westdeutsche Politik im Wohnungsbau ein Mittel oder besser ein Medium in der Auseinandersetzung des Kalten Krieges sahen. Die Flächensanierung, das heißt der Abriss von Mietskasernen und die Errichtung von Neubauten, wurde propagandistisch zur geopolitischen Aufgabe stilisiert „Wer die Frage des Wohnungsbaues in Berlin nicht löst, wird mit Sowjetrussland nicht fertig“ hieß die Devise.
Um in dem Wettlauf mit dem Aufbauprogram der DDR mitzuhalten, wurden auf West-Berliner Seite Planungsunterlagen verwandt, die bereits in den 1920er Jahren, aber auch zwischen 1933 und 1945 entstanden sind. So setzte sich der Architekt Erich Frank ab 1952 für seine Sanierungspläne ein, die er bereits in der Zeit des Nationalsozialismus gezeichnet hatte. Er rechtfertigt in den 1950er Jahren seine Abriss- und Neubaupläne aus der Zeit des Nationalsozialismus damit, dass die Gegend um die Kösliner Straße schon in der Weimarer Zeit ein sozialpolitischer „Unruheherd“ gewesen sei.
Auch wenn die Sanierung der Kösliner Straße später von anderen Planern und Architekten umgesetzt wurde, das Argument blieb dasselbe: die Beseitigung eines Unruheherdes. Die gleiche Ansicht vertraten Mitglieder von Ausschüssen des Deutschen Bundestages, sie sahen im Sozialen Wohnungsbau im Wedding die notwendige Beseitigung von Slums. Walter Nicklitz, der die Sanierung im Wedding leitete, ging noch weiter. Er sah in den „überalterten und verslumten Wohngebieten“ im Wedding wie der Kösliner Straße „eine Gefahr für den sozialen Frieden“ und eine „Keimzelle der Zersetzung“ insbesondere „im Blickwinkel des aggressiven Bolschewismus in Berlin“. Deutlicher konnte an dieser Stelle der politisch motivierte Abriss der Häuser und damit der Wunsch nach der Beseitigung der Geschichte der Arbeiterbewegung durch die SPD nicht dargestellt werden.
So bleibt auch der Gedenkstein an der Wiesenstraßenbrücke, der sich auf die Ereignisse von 1929 bezieht, absolut unkonkret. Er verweist nur auf 19 Menschen, die bei Straßenkämpfen zu Tode gekommen sein.
Vorbild für das Brunnenviertel
Die Bebauung der Kösliner Straße in Zeilenbauweise hatte über die Beseitigung der Geschichte hinaus noch eine weitere Funktion. Sie wurde bereits vor ihrer Vollendung als Musterbeispiel der West-Berliner Baupolitik auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel präsentiert. Vor allem aber galt das erste Sanierungsgebiet im Wedding als gelungenes Vorbild für die später an vielen Stellen im Wedding vollzogene Abrisssanierung. So war die Kösliner Straße Beispiel gebend für das Brunnenviertel, in dem später ohne Not 17.000 Wohneinheiten und damit der Wohnraum von etwa 40.000 Menschen dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Autor/Fotos: Eberhard Elfert
Weitere Infos zum Thema in: Johann Friedrich Geis, Das Berliner Mietshaus 1945–1989, Berlin 1989
[…] des Wedding, die auf den Hobrecht-Plan aus dem Jahr 1862 zurückgehen. Heute geht man an der Kösliner Straße achtlos vorbei, aber dieser ellenbogenförmige Weg steht für das, was den Ruf des “Roten […]