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Die Linie quer durch den Wedding:
100 Jahre Müllerstraßen-U-Bahn

Die U6 unter der Müllerstraße ist seit genau 100 Jahren die für den Wedding wichtigste Bahnverbindung. Mit ihren sechs auf Weddinger Gebiet liegenden Bahnhöfen bindet sie Tausende Weddinger zuverlässig und meist störungsfrei an den Nahverkehr an. Wann ist sie entstanden, warum wurde sie so gebaut und wie sieht die Zukunft dieser Linie aus?

Als ich ein­mal war­tend im U‑Bahnhof Reh­ber­ge auf die Bil­der an der Hin­ter­gleis­wand schau­te, sprach mich ein älte­rer Mann an. „Sehn Se, der Bau­ar­bei­ter da unten links uff dem Bild, dit war meen Vad­der!“, sag­te er. Selbst hei­ße er Kurt. Das Schwarz­weiß­bild, groß­for­ma­tig von der BVG auf die Kacheln gezo­gen, zeigt die U‑Bahn-Bau­ar­bei­ten in der Mül­lerstra­ße im Jahr 1953 auf Höhe der Kon­go-/Tür­ken­stra­ße. Obwohl auf dem Bild die Mül­lerstra­ße auf­ge­ris­sen und die Bau­gru­be gera­de mit Sand ver­füllt wird – der Vater des Man­nes in der U‑Bahn ist gera­de mit sei­ner Schau­fel zugan­ge – fährt die Stra­ßen­bahn noch.

Bewegte Geschichte einer Linie

Bekannt­lich ist der ers­te Abschnitt schon vor dem Ers­ten Welt­krieg begon­nen wor­den. Anders als bei den ers­ten pri­vat gebau­ten Lini­en soll­te die Nord-Süd-U-Bahn die ers­te städ­ti­sche U‑Bahn wer­den. 191314 war der Roh­bau bis Leo­pold­platz fer­tig, doch der Krieg mach­te die Fer­tig­stel­lung unmög­lich. Erst nach den Wir­ren der ers­ten Nach­kriegs­zeit, im Jahr 1921, wur­den dann die Bau­ar­bei­ten wie­der­auf­ge­nom­men. Am 8. März 1923 konn­te dann der Abschnitt bis zur End­sta­ti­on U‑Bahnhof See­stra­ße eröff­net wer­den, in des­sen Nähe sich auch die Haupt­werk­statt befin­det. Die Bezeich­nung die­ser Linie war “C”. Schon im Juli 1929 begann auf Initia­ti­ve des dama­li­gen Ver­kehrs­stadt­rats Ernst Reu­ter der Wei­ter­bau in der Mül­lerstra­ße, die­ser muss­te aber auf­grund der ein­ge­tre­te­nen Finanz­kri­se 1930 abge­bro­chen wer­den. Bis dahin war zwi­schen der Kon­go-/Tür­ken­stra­ße und Ota­wi-/Schö­ning­stra­ße ein fer­ti­ger Roh­bau­tun­nel von rund 400 Meter Län­ge ent­stan­den. Rund 300 Meter waren bis zur Liver­poo­ler Stra­ße abge­rammt, aber bau­lich noch nicht begon­nen. Geplant war die Ver­län­ge­rung bis zum heu­ti­gen Kurt-Schu­ma­cher-Platz, wobei es einen Zwi­schen­halt am heu­ti­gen Bahn­hof Reh­ber­ge hät­te geben sol­len. Nach dem Abbruch der Bau­ar­bei­ten wur­de der ursprüng­li­che Stra­ßen­zu­stand wie­der hergestellt. 

Wiederaufgegriffene Planung

Nach dem Krieg war es erneut Ernst Reu­ter, inzwi­schen Regie­ren­der Bür­ger­meis­ter, der den Wei­ter­bau die­ser Stre­cke vor­schlug. 1953 beschloss man tat­säch­lich das vor­han­de­ne Tun­nel­stück wei­ter­zu­bau­en – als ers­te Neu­bau­stre­cke nach dem Krieg. Die Pla­nung der nun bis Tegel ange­dach­ten Stre­cke muss­te ver­än­dert wer­den, denn die inzwi­schen dich­te­re Bebau­ung rund um den heu­ti­gen Bahn­hof Afri­ka­ni­sche Stra­ße erfor­der­te eine Zwischenstation. 

Die Sta­ti­on Reh­ber­ge liegt nicht ide­al, denn sie hat einen recht lan­gen Abstand von mehr als einem Kilo­me­ter zum nächs­ten Bahn­hof See­stra­ße. Der Bahn­hof wäre auf Höhe der Bar­fus-/Trans­vaal­stra­ße bes­ser plat­ziert gewe­sen, doch man woll­te das vor­han­de­ne Tun­nel­stück nicht dafür abrei­ßen, son­dern wei­ter­nut­zen können. 

Das Aus für die Straßenbahn

Der Haken: Mit der U‑Bahnverlängerung, die schon 1956 bis Kurt-Schu­ma­cher-Platz und 1958 bis Tegel ans Netz ging, wur­de auch das Ende der Stra­ßen­bahn auf der Mül­lerstra­ße ein­ge­läu­tet. Zwei Tram­li­ni­en hat­ten einst die Fahr­gäs­te am U‑Bahnhof See­stra­ße auf­ge­nom­men und nach Tegel, Tegel­ort bzw. Hei­li­gen­see trans­por­tiert. Doch die Betriebs­hö­fe Mül­lerstra­ße und Tegel schlos­sen am 1.6.1958, der Nor­den West-Ber­lins wur­de fast ganz stra­ßen­bahn­frei. Es gab nur noch eine Linie, die 23, die aus Moa­bit kom­mend auf der Föh­rer Stra­ße – Augus­ten­bur­ger Platz – Trift­stra­ße – Tege­ler Stra­ße – Fenn­stra­ße – Wed­ding­platz – Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße – Net­tel­beck­platz – Pank­stra­ße – Prin­zen­al­lee – Wollank­stra­ße bis zum S‑Bf. Wollank­stra­ße fuhr. Für sie war erst 1960 Schluss. Auf der See­stra­ße und der Oslo­er Stra­ße fuhr noch die Halb­ring­li­nie 3, die 1964 ein­ge­stellt wur­de. Und mit der Wie­der­kehr der Stra­ßen­bahn auf die­ser Stra­ße soll­te es noch bis 1995 dauern!

Es war letzt­lich der U‑Bahn-Aus­bau nach Tegel, der den Nie­der­gang der West-Ber­li­ner Stra­ßen­bahn bis zu ihrem end­gül­ti­gen Ende 1967 ange­sto­ßen hatte. 

Die Linie 6 entsteht

Eine wich­ti­ge Ände­rung trat 1961 ein, als für die Kreu­zung der neu­en U‑Bahn-Linie G (heu­te die U9) der Mit­tel­bahn­steig der bis dahin unbe­deu­ten­den Sta­ti­on Leo­pold­platz abge­ris­sen wur­de. Statt des­sen wur­den neue Sei­ten­bahn­stei­ge gebaut, von denen Trep­pen zur tie­fer­lie­gen­den neu­en U‑Bahn füh­ren. So prä­sen­tiert sich die Umstei­ge­sta­ti­on noch heu­te. Der Bahn­hof selbst ver­lor damit sei­ne ursprüng­li­che Gestal­tung aus den 1920er-Jahren. 

1966 wur­de das Ber­li­ner U‑Bahn-Netz neu struk­tu­riert. Die Linie C wur­de zur Linie 6 und hat­te kei­nen Abzweig mehr nach Neu­kölln. Die­ser wur­de von der neu­en Linie 7 über­nom­men. Im glei­chen Jahr wur­de auch die Ver­län­ge­rung der Linie 6 nach Alt-Mari­en­dorf fer­tig. Seit­her hat sich an der Lini­en­füh­rung Alt-Tegel – Alt-Mari­en­dorf nichts geän­dert. Die Sanie­rung des Nord­ab­schnitts von Kurt-Schu­ma­cher-Platz bis Alt-Tegel seit Novem­ber 2022 kommt aller­dings einem Qua­si-Neu­bau des Damm­ab­schnitts gleich. 

Die vie­len Bau­ar­bei­ten zei­gen: Obwohl die U6 seit 1966 nicht mehr ver­län­gert wur­de, ist die Haupt­schlag­ader des Wed­ding doch immer in Bewegung. 

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

7 Comments Leave a Reply

  1. Vie­len Dank für die­sen span­nen­den Arti­kel. Vor eini­ger Zeit gabs in den Borsig­hal­len eine inter­es­san­te Aus­stel­lung u.a. über die frü­he­re Stra­ßen­bahn auf der Mül­lerstra­ße, die durch den Wed­ding gen Nor­den fuhr.
    Rein­hard, ich dan­ke Ihrem Groß­va­ter für sei­ne Arbeit. Ich habe immer gern auf den beque­men Pols­ter­sit­zen geses­sen. Lei­der spart die BVG heut­zu­ta­ge, wo sie nur kann. Im Bus gibts seit Jah­ren nur noch stein­har­te Scha­len­sit­ze. Und bald lei­der auch in den U‑Bahnen! Attrak­ti­ver wird der Nah­ver­kehr dadurch nicht.
    Das passt gut zum Kom­men­tar von WB: Man bekommt tat­säch­lich das Gefühl, frü­her lief vie­les bes­ser. Es ist auch beein­dru­ckend, wie vie­le Häu­ser in der 50ern hoch­ge­zo­gen wurden.

    • Hal­lo Kerstin

      Den Dank neh­me ich ger­ne an :))
      Mein Vater aller­dings hat mir aus die­sem Kunst­le­der eine Cow­boy­wes­te , einen Revol­ver­gurt und die­se Chaps (sind leder­ne Bein­klei­der für Cow­boys) gemacht, damit konn­te ich dann zum Fasching gehen.… wäre heu­te wohl kul­tu­rel­le Aneignung :)))))

      Grü­ße

  2. Von der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße bis zur Koch­stra­ße, ging es von 1961 bis 1989 “ohne Halt” unter Ost-Ber­lin durch, Aus­nah­me war der U‑Bhf Fried­rich­stra­ße, als Grenzübergang.
    Die 29 Jah­re als Geis­ter­bahn­hö­fe durch­fah­ren­den Sta­tio­nen, konn­ten erst Mit­te der 90er Jah­re, durch Abbruch alter Zugän­ge, für die heu­te auf der U6 fah­ren­den 6‑Wa­gen-Züge ver­län­gert wer­den. Heu­te hat die U6 einen neu­en Kreu­zungs­bahn­hof, Unter den Lin­den, an der zur der erwei­ter­ten U5 umge­stie­gen wer­den kann. Auch hier ein Grund mehr, zu sagen: “Mensch Ber­lin, wie has­te dir verändert!”

  3. Sehr inter­es­sant! Erin­nert mich an mei­ne Kin­der­zeit in den 60er Jah­ren, als hier auch noch Vor­kriegs­zü­ge wie die „Tun­nel­eu­le“ mit ihren ova­len Front­fens­tern und ihrer präch­ti­gen Innen­aus­stat­tung, d. h. ech­ter Holz­tä­fe­lung, Mes­sing­stan­gen sowie run­den Decken­leuch­ten aus ver­schnör­kel­tem Glas fuh­ren. Und inzwi­schen sind auch schon ihre Nach­fol­ger, die damals als sehr rasant emp­fun­de­nen neu­en „Dora“-Züge, zumin­dest auf dem Alten­teil gelandet!

  4. Hal­lo
    Zuerst… ich lie­be die­se sol­che Artikel !!
    Zwei­tens…. icke kann zwar nich sajen das meen Vad­der bei de BVG gebud­delt hat, aba dafür hat meen Jroß­vad­der dafür jesorgt das de Fahr­jäs­te bequem jesess´n ham bei de Bus­fahrt… der war näm­lich Tisch­ler und Pols­te­rer … lang ist es her
    Und zu guter Letzt ist es eigent­lich nicht die BVG , son­dern eher der Senat…. den der ist für den Bau und Aus­füh­rung der Arbei­ten zustän­dig .So war es jeden­falls als ich am Wei­ter­bau der U‑Bahn nach Span­dau und Para­cel­sus­bad mit gear­bei­tet habe .Ande­rer­seits hat­ten die Jungs von der EM6 schon so ihren eige­nen Arbeits­ryth­mus ‚genau­so wie die Inge­nieu­re vom Werk­statt­geb. Gleis3eck…. auf jeden­fall waren es gute Zei­ten für die BVG zuarbeiten
    Son­ni­gen Sonntag

  5. Dan­ke für die umfang­rei­che Beschrei­bung. Wenn man sich ver­ge­gen­wär­tigt, was damals in weni­gen Jah­ren ent­stan­den ist und dann sieht, dass es die BVG heu­te in ähn­li­cher Zeit nicht ein­mal schafft einen hal­ben U‑Bahnhof See­str zu sanie­ren, wird einem offen­sicht­lich, was mit dem ÖPNV nicht stimmt. Das ist wirk­lich trau­rig, denn der Wed­ding und Ber­lin hät­ten bes­se­res ver­dient und je attrak­ti­ver die U‑Bahn unter der Mül­lerstra­ße ist, des­to attrak­ti­ver wird auch die Mül­lerstra­ße insgesamt.

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