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Familienschicksale während der NS-Zeit:
Zwangsräume im Nordbahnviertel?

4. August 2024
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Das Nordbahnviertel gehörte bis 1938 zu Pankow und dann zum Wedding (Gesundbrunnen). Während in den 1920er Jahren an der Wollankstraße der Friedhof der franz. Kirchengemeinde eine gewisse Trennung markierte, ist heute der Übergang von der Prinzenallee zur Wollankstraße fließend. Was spielte sich in den 1930er Jahren im Nordbahnviertel an jüdischem Leben ab? Welche Familien, Kinder und Senioren wohnten hier? Wo konnten sie zu Beginn der NS-Zeit noch Gemeinschaft erleben? Wer wurde aus dem Viertel deportiert? Wer überlebte die Shoah? Kommen Sie mit ins Nordbahnviertel und in die 1930er Jahre. Auf wenigen Quadratmetern gibt es bislang unbekannte Biographien zu entdecken.

Nordbahnviertel: Schmidtstraße mit Blick zur Sternstraße, um 1905, (Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin).

Ein kleiner Kiez mit Charme und Stil

Das Nordbahnviertel lag weder im Zentrum von Pankow noch vom Gesundbrunnen. Seine Randlage erfuhr durch die elektrische Straßenbahn und den Bahnhof Pankow-Nordbahn (heute Wollankstraße) eine gewisse Aufwertung. Um 1890 entstanden Wohnhäuser mit üppigen Stuckfassaden, malerischen Erkern, breiten Balkonen, kleinen Türmchen und hübschen Vorgärten. Die Innenhöfe waren größer als bei den üblichen Berliner Mietskasernen.

Es war eine gepflegte Wohngegend, die aus den sich kreuzenden Straßen Sternstraße und Schmidtstraße (heute Kattegatstraße) sowie der Nordbahnstraße, Wilhelm-Kuhr Straße, Gottschalkstraße und einem kurzen Abschnitt der Wollankstraße bestand. Der Plan von 1928 zeigte noch unbebaute Grundstücke entlang der Wilhelm-Kuhr Straße und an der Gottschalkstraße.

Ein wichtiges Gebäude des Viertels war die 1899 eröffnete 4. Volksschule an der Schmidtstraße - heute Andersen-Grundschule. Auch der Erfinder der Thermoskanne, Reinhold Burger, wohnte von 1927-1954 in dem Viertel. Die jüdische Familie Flügeltaub führte eine Meierei-Großhandlung mit Milchladen (Schmidtstraße 10) und der jüdische Dekorationsmaler Georg Goldberg wohnte im Haus Schmidtstraße 23. Entlang der Wollankstraße gab es auch jüdische Geschäfte wie beispielsweise den Laden von Eduard Süsskind. Er verkaufte in der Wollankstraße 98 Weine und Liköre, hatte mehrere Geschäfte in ganz Berlin und schaltete in den 1930er Jahren in Jüdischen Tageszeitungen Werbeanzeigen.

Karte vom Nordbahnviertel 1928 mit den jüdischen Bewohnern laut Jüdischem Adressbuch Berlin, (Grafik: Timo Hartmann).

Straßen, Häuser, Wohnungen, Biographien

Es ist ein bisschen wie mit der Stecknadel im Heuhaufen, wenn es um die jüdischen Bewohner des Viertels geht. Zunächst lassen sich einige Namen im Jüdischen Adressbuch 1929-32 finden - als erste Orientierung in die Karte von 1928 eingezeichnet.

Aus wenigen Namen kleine Biographien zu machen, das gelang gemeinsam mit Kiezforscher Miklas Weber und unserer intensiven Recherche in den zahlreichen Online-Datenbanken, mit Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden sowie den historischen Tageszeitungen. So kamen überraschend viele weitere Namen und Schicksale zum Vorschein. In der Nordbahnstraße und in der damals kaum bebauten Wilhelm-Kuhr Straße gab es um 1930 keine jüdischen Bewohner - später in der Nordbahnstraße 8 Adolf Dobrowetzki - geflüchtet mit seiner Familie nach Shanghai - und in der Nordbahnstraße 13 das Ehepaar Else und Alfred Joseph. In welchen weiteren Häusern lebten jüdische Familien?

Die zentral gelegene Schmidtstraße - heute Kattegatstraße

In der Schmidtstraße wohnte das Ehepaar Julius und Elsbeth Kloss, geb. Loewensohn (man findet auch folgende Schreibweisen: Kloß, Klosz). Er, geboren am 30. September 1888 in Schönrohr Ostpreußen, war Kaufmann und Inhaber der Firma American Brace-House. Seine Frau Else war fünf Jahre älter, geboren am 25. Oktober 1883. Beide stammten aus jüdischen Familien und heirateten am 5. Mai 1911 in Berlin. Sie bekamen am 30. Juni 1912 einen Sohn, den sie Akiba nannten. Vermutlich zog die kleine Familie um 1924 in das Haus Schmidtstraße 3. Es bestand zur Straße aus einem Vorderhaus und dem Seitenflügel sowie ein Gartenhaus, das weiter hinten stand. Über Julius Kloss berichteten die Berliner Tageszeitungen 1928 und 1929, dass sein Unternehmen American Brace-House im Konkursverfahren abgewickelt wurde. Wie ging es für die Kloss weiter? Sie emigrieren in die Niederlande, vermutlich 1933/34, wo ihre letzte Adresse eine Wohnung in Amsterdam, Korsjespoortsteeg 11, war. Beide wurden in Auschwitz am 21. Januar 1943 ermordet. Der Sohn Akiba überlebte den Holocaust und lebte dann in einer Stadt in der Nähe von Tel Aviv.

Nordbahnviertel: Blick in die Schmidtstraße, um 1930, (Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin).

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, Schmidtstraße 22 - heute Kattegatstraße 9, wohnte laut Jüdischem Adressbuch 1931/32 der Architekt Max Meyer. Es handelt sich um eines der größeren Häuser des Viertels mit Vorderhaus und zwei Seitenflügeln, die U-förmig den Hof umschließen. Zunächst waren die Schwiegereltern von Max Meyer Eigentümer des Hauses, bevor er es um 1912 übernahm - ab 1928 war die Sparkasse Kreis Niederbarnim Eigentümerin. Max Meyer, geboren am 3. November 1875, heiratete am 15. August 1907 Ida geb. Heimann. Sie hatte aus der ersten Ehe mit Karl Fackenheim zwei Kinder - Manfred und Dorothea; Manfred arbeitete von 1934-1943 für die Jüdische Gemeinde Berlin, zuletzt für die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, wohnte um 1939 im Haus, wurde am 19. Mai 1943 deportiert, überlebte den Holocaust und emigrierte in die USA, Chicago - und bekam mit Max Meyer 1914 eine Tochter. Vermutlich wohnte die Familie Meyer mit allen drei Kindern im Haus Schmidtstraße 22. Zum beruflichen Werk von Max Meyer kann konstatiert werden, dass er vermutlich der Architekt der buddhistischen Villa in Berlin-Frohnau (1924-26), der gleich daneben entstandenen Reihenhaussiedlung am Zerndorfer Weg sowie zeitweise Geschäftsführer der Grundeigentumsgesellschaft Prinzenallee 54-56 war. Der Name Meyer kommt im Adressbuch bis 1938 vor - was mit Max und Ida Meyer passierte, konnte bislang nicht geklärt werden. Sind sie 1938 noch nach Chile ausgewandert?

Im Sommer 1938 zog Eva Langnas in das Haus - Schmidtstraße 22 (Kattegatstraße 9). Sie wohnte hier bis 1942, wurde am 17. August 1942 - mit 85 Jahren - nach Theresienstadt deportiert und dort zehn Tage später für Tod erklärt. Ihre Leiche vergrub man in einem Massengrab. Ebenfalls wohnte im Haus Schmidtstraße 22 (Kattegatstraße 9) die jüdische Familie Bernard und Else Zilversmit, geb. Knopfmacher. Nachdem er am 19. Dezember 1939 im Jüdischen Krankenhaus im Wedding verstorben war, nahm seine Frau Else - verwandt mit Eva Langnas - jüdische Untermieter auf: im Juni 1940 Alfons Manasse mit Ehefrau Ruth(geb. Zilversmit) und den beiden Töchtern Ingrid und Gittel, die ein Zimmer bewohnten, sowie Leo Levy, der ebenfalls in einem Zimmer wohnte. Zuvor wohnte die Familie Manasse in der Eulerstraße 25 bei Isaac - ebenfalls zur Untermiete. Neben Eva Langnas wurden aus dem Haus die Familie Manasse im Alter von 40 (Vater), 37 (Mutter), 12 (Tochter) und 4 (Tochter) Jahren und ebenfalls Else Zilversmit am 9. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert. Ihre Wohnung wurde am 29. Mai 1943 geräumt. Darüber hinaus wohnten im Haus Schmidtstraße 22 (Kattegatstraße 9) Familien in sogenannten Mischehen: Paul und Eva Schneider sowie die Familie Matros: Wilhelm, Helene und der 1927 geborene Sohn Manfred - vorher wohnhaft in der Wollankstraße 100. Ob es sich bei den Wohnungen im Haus Kattegatstraße 9 um Zwangsräume (veraltete Bezeichnung: Judenhaus*) handelte, diese Vermutung liegt nahe.

Anzeige in der Central-Vereins Zeitung für das Geschäft von Eduard Süsskind in der Wollankstraße 98, erschienen 1937.

Eine weitere jüdische Biographie ist mit dem Haus Schmidtstraße 7 (heute Kattegatstraße 18) verbunden. In dem prächtigen Eckgebäude wohnte ab 1929 David Rosiner (*5. Mai 1899, + 14. Februar 1971) für drei Jahre, denn im Adressbuch von 1933 tauchte der Name unter dieser Adresse nicht mehr auf - 1934 in der Lothringer Straße 41. Herr Rosiner war im Bereich Möbel tätig. Es gab in ganz Berlin inkl. Pankow zu Beginn der 1930er Jahre nur einen Rosiner, somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich um den 1934 von Berlin nach Palästina ausgewanderten David Rosiner handelte. Er war verheiratet mit Rachel (Ruchel) Regina geb. Shipper. Beide hatten eine gemeinsame Tochter: Charlotte Irma Rosiner, sowie ein weiteres Kind. David und Rachel Rosiner sind dem Holocaust entkommen und lebten viele Jahre in Tel Aviv.

Die kurze Sternstraße

Die lange Schmidtstraße wird von der kurzen Sternstraße gekreuzt, die genau auf den Bahnhof zugeht. In der Hausnummer 5 (heute Hausnummer 12) wohnte laut Jüdischen Adressbuch Martin Kain. Über ihn kann man nur vermuten, dass er der Bruder von Ludwig Kain (*1900, +1945) war. Hingegen ist eindeutig die jüdische Familie Katz mit dem Haus Sternstraße 5 verbunden. Isidor und Rosa Katz, geb. Herrmann, lebten hier seit ca. 1920. Sie war Eigentümerin des Hauses, betrieb mit ihrem Mann eine Lederhandlung und starb am 9. Juli 1932. Er wohnte noch bis mindestens 1939 in dem Haus und zog dann - vermutlich unfreiwillig - ins Jüdische Altersheim in die Iranische Straße. Isidor Katz wurde mit 73 Jahren, am 23. Juni 1942 nach Theresienstadt deportiert, anschließend am 19. September 1942 nach Treblinka und überlebte das KZ nicht. Ihr Sohn Martin Max Katz wohnte ebenfalls im Haus - mit seiner Frau Hilda Katz, geb. Deutschkron. Sie musste bei Siemens & Halske im Wernerwerk Zwangsarbeit leisten. Auch der ältere Bruder Josef Katz wohnte laut Berliner Adressbuch in den 1930er Jahren in dem Haus, war von Beruf Installateur und mit Elisabeth Biedermann verheiratet - geheiratet hatten sie am 10. März 1936. Am 15. Juni 1938 wurde er im Rahmen der Aktion ASR (Arbeitsscheu Reich*) verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald transportiert, wo er bis zum 6. August 1938 war. Er überlebte die NS-Verfolgung sowie den Zweiten Weltkrieg und verbrachte seine letzten Lebenstage im Jüdischen Altersheim Wedding. Sein Bruder Martin Max Katz wiederum gab vor seiner Deportation in der Vermögenserklärung an, dass mit ihm in der Wohnung zwei jüdische Untermieter - einer war Matthias Futter (Matthias Futter *16. Oktober 1887 Berlin, +8. Mai 1945 Auschwitz) - wohnen. Darüber hinaus betrug sein Barvermögen ca. 6.000 Mark und er hatte Wertpapiere im Wert von 10.000 Mark. Im Abstand von wenigen Tagen wurde zunächst seine Frau Hilda am 2. März 1943, dann er am 12. März 1943 nach Auschwitz deportiert - einige Dokumente geben für beide als Deportationsdatum den 12. März 1943 an. Ob sich Martin und Hilda Katz im Konzentrationslager nochmal begegnet sind, ist unklar. Beide überlebten das KZ nicht. Die Wohnung von Martin Max und Hilde Katz wurde am 26. August 1943 geräumt und erhielt zum 1. September 1943 Dr. Horst Herms. Er plante hier im ersten Stock links die Einrichtung einer Arztwohnung. Im Kostenvoranschlag für den Umbau wurde der Zustand der Wohnung als “Stark eingewohnte Judenwohnung” bezeichnet.

Nordbahnviertel: Wollankstraße 31, um 1915, (Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin).

Die ruhige Gottschalkstraße

Im Haus Gottschalkstraße 6 wohnten Adolf und Alice Ucko, geb. Behrendt. Er kam aus einer jüdischen Familie und sie war evangelischer Religion, heirateten am 15. Mai 1918 und lebten in eher bescheidenen Verhältnissen. Er verdiente sein Geld als Hilfsarbeiter. Adolf Ucko starb am 19. März 1935. Seine Frau blieb in dem Viertel wohnhaft - laut Adressbuch bis 1937 in einer Wohnung in der Gottschalkstraße 5. Anschließend verliert sich die Spur von Alice Ucko.

An der belebten Wollankstraße

Die Wollankstraße ist die Hauptverkehrsstraße, die über die Prinzenallee den Gesundbrunnen mit Pankow verbindet. Beschränkt man die Suche nach jüdischen Bewohnern nur auf den Abschnitt des Nordbahnviertels, dann findet man das Ehepaar Otto und Rose (Rosalie) Moreike, geb. Lewitz. In der Hausnummer 31 wohnte das Ehepaar - es war eine sogenannte Mischehe. Wie sie die NS-Zeit genau überlebt haben, darüber gibt es keine Auskunft. Nach dem Zweiten Weltkrieg beantragte Rosalie Moreike eine Ausreise in die USA. In dem Antrag vom 15. Dezember 1947 gab sie an, Witwe zu sein und über keine finanziellen Mittel zu verfügen. Die Ausreise gelang ihr nicht. Sie bekam eine kleine Rente, wohnte im Jüdischen Altersheim im Wedding und starb am 6. November 1953 im Jüdischen Krankenhaus. Und im Haus Wollankstraße 27 wohnte das Ehepaar Kalman und Luise Kleinmann, geb. Kleiber. Im Jahr 1939 sollen sie an dieser Adresse gelebt haben. Der weitere Lebensweg ist bislang unklar.

Mesusa*: 1985 im Bauschutt bei Bauarbeiten auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Lehrlingsheimes in Berlin-Pankow gefunden. Bildnachweis: Mesusa, Deutschland ca. 1886 – 1915, Stahl geprägt bronziert, Pergament, Tinte, Farbe, 8 × 1,3 × 0,5 cm; Jüdisches Museum, Inv. Nr. KGM 95/500, Foto: Roman März.

Erziehung, Bildung & Religion: Jüdisches Leben an der Peripherie

Wer im Nordbahnviertel wohnte, der hatte zwei nahezu identisch weit entfernt gelegene jüdische Religionsvereine zur Auswahl: nach gut 1.300 m an der Prinzenallee 87 Ahawas Achim oder an der Mühlenstraße Agudath Achim. Schauen wir nach Pankow, dann hatten bereits in den 1890er Jahren die hier neu etablierten sozialen Einrichtungen eine gewisse Bekanntheit innerhalb der Jüdischen Gemeinde Berlins erlangt. Dazu gehörten das Lehrlingsheim (gegr. 1892), Mädchenheim (gegr. 1894) und Waisenhaus (gegr. 1882). Das Waisenhaus entstand ursprünglich für aus Russland vertriebene jüdische Jungen. Im Lehrlingsheim sollten jüdische Jungen an handwerkliche Berufe herangeführt werden und im Mädchenheim erhielten die Mädchen eine Ausbildung für dienstliche Stellungen, um anschließend in einem Haushalt zu arbeiten. Und es gründete sich 1895 der Religionsverein - auch bezeichnet als Religionsgenossenschaft - Agudath Achim, welcher stets mit dem Lehrlingsheim verbunden war. Er bot eine religiöse Erziehung der Jugend und stand den jüdischen Bewohnern von Pankow offen.

Jüdisches Waisenhaus in Pankow, Berliner Straße, zw. 1920-1940, (Quelle: Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/53/011, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein).

Über das Jüdische Lehrlingsheim in Pankow konnte man im Berliner Tageblatt vom 25. Februar 1892 folgendes lesen: “Die Gesellschaft zur Verbreitung des Handwerks und des Ackerbaus unter den Juden in Preußen, welche seit 1813 besteht, hat neuerdings ein Lehrlingsheim in Pankow, Mühlenstraße, errichtet, in welchem die Pflegebefohlenen auch nach vollbrachter Tagesarbeit beaufsichtigt werden. Gegenwärtig sind 8 Lehrlinge dort untergebracht. Die Einrichtung ist eine sehr löbliche und sollte anderweitig nachgeahmt werden. Gerade den vielen aussichtlos herumbummelnden Lehrlingen wird das hauptstädtische Straßenpflaster besonders gefährlich.” Bereits zwei Jahre später diskutierten die Mitglieder der Gesellschaft eine Vergrößerung des Hauses. Am 17. Mai 1896 wurde der Neubau in der Mühlenstraße 20 feierlich durch Rabbiner Maybaum eingeweiht. In dem 3-geschossigen Neubau lagen die Küche und Verwaltungsräume im Untergeschoss, im Erdgeschoss der Speisesaal, Sitzungssaal und die Wohnung des Direktors. In den beiden oberen Etagen die Arbeits- und Schlafräume sowie ein Betsaal. Es war eine Erziehungseinrichtung, die auch auf den Glauben der jungen Menschen wirken sollte - finanziert durch zahlreiche Spender wie beispielsweise Johanna Levy und Moritz Manheimer. Die Lehrlinge sollten stets beaufsichtigt werden und sich in der Freizeit im eigenen Garten oder auf dem Turnplatz aufhalten. Um 1902 gab es mehr Bewerbungen als freie Plätze: 60 % der Bewerber mussten abgelehnt werden. Man berichtete in den jüdischen Tageszeitungen von angesehenen Stellen ehemaliger Abgänger in London, bei Siemens & Halske oder auch auf einem Schiff der Hamburg-Amerika-Linie. Darauf war man stolz. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre konnte die Einrichtung auf 235 Absolventen zurückblicken - Schneider, Mechaniker und Schlosser gehörten zu den meisten Berufen. Auch das Jüdische Waisenhaus war eine Einrichtung, die innerhalb weniger Jahre eine wichtige soziale Funktion hatte und 1913 einen imposanten Neubau samt neuer Synagoge erhielt (siehe Foto zuvor).

Schlafsaal im Jüdischen Waisenhaus Pankow, Berlin-Pankow, 1938-1940, (Quelle: Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2008/311/53/003, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein).

In den 1920er und frühen 1930er Jahren fanden die Gottesdienste des Pankower Religionsvereins Agudath Achim am Freitag und Samstag im Betsaal des Lehrlingsheims statt - bis Juli 1935. An der Adresse Mühlenstraße 77 (zuvor Jüd. Mädchenheim) entstand für den Verein eine neue Synagoge nach den Plänen des Baumeisters Beer. Davon gleich mehr. Der Religionsverein hatte Mitte der 1920er Jahre 110 Mitglieder. Vorsitzender, Schriftführer, Schatzmeister und Beisitzende wohnten in Pankow. Von 1929 bis 1937 wirkte Rabbiner Isi Broch - er wohnte in der Wollankstraße 3. Während dieser Zeit bekam seine Frau Ella, geb. Rosenbaum, einen Sohn. Neben regelmäßigen Gottesdiensten gab Rabbiner Broch Lehrvorträge und Gastdozenten sprachen zu gesellschaftlichen Themen. Er kümmerte sich auch um Hebräisch-Unterricht. Etwas länger als Rabbiner Broch war Kantor Josef Helischkowski in Pankow für Agudath Achim tätig - von 1920-1935. Er wohnte im Haus Parkstraße 13 a. Zu Rosch ha-Schana 1935 (Neujahrsfest) siedelte der Verein in die neue Synagoge in der Mühlenstraße 77 über. Die Einweihung der Synagoge fand am 25. September 1935 statt. Die Central-Verein Zeitung berichtete über die neue Synagoge in ihrer Ausgabe vom 10. Oktober 1935 folgendes: “In dem jetzigen Gebäude, das lange Zeit unbenutzt war, war vor Jahren ein Waisenhaus untergebracht. Nach dem Entwurf des bekannten Gemeindebaumeisters Beer wurde das Haus in eine schlichte, ohne jeden äußeren Prunk und darum um so wirkungsvollere Synagoge umgewandelt.” Und weiter schreibt der C-V-Journalist: “Möge sich dieses neue Gotteshaus hier am nördlichen Rand der Reichshauptstadt zum Mittelpunkt eines vertieften religiösen Gemeinschaftslebens gestalten.” In der Synagoge fanden regelmäßig Gottesdienste statt. Nach Rabbiner Broch war Rabbiner Dr. Ohrenstein für Agudath Achim in Pankow tätig. Somit gab es auch jenseits der pulsierenden Innenstadt ein jüdisches Religions- und Gemeinschaftsleben in Pankow. Ob die jüdischen Bewohner des Nordbahnviertels daran teilnahmen, konnte bislang nicht nachgewiesen werden.

Pankow Mühlenstraße, auf der rechten Seite steht das Jüdische Lehrlingsheim (kurz vor den Bahngleisen), um 1913, (Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke, Berlin).
Bewohner des Nordbahnviertels die von der Verfolgung des NS-Regims direkt/unmittelbar betroffen waren (E:Eigentümer, B:Bewohner), Grafik: Timo Hartmann.

Einladung zur Erforschung und zum gemeinsamen Gedenken

Im Nordbahnviertel, das einst zu Pankow und seit 1938 zum Gesundbrunnen gehört, findet man eine bislang wenig beachtete jüdische Geschichte. Alleine die hier betrachtete Periode von 1930-1945 bringt überraschend viele Familienschicksale hervor. Es gibt Ehepaare bei denen beide aus einer jüdischen Familie stammten und sogenannte Mischehen. Alle Generationen waren von Ausgrenzung, Flucht und Deportation betroffen. Vermutlich gab es in den Häusern Kattegatstraße 9 und Sternstraße 5 (heute Hnr. 12) Zwangsräume, um jüdische Bürgerinnen besser zu kontrollieren. In Pankow entstand 1935 eine der wenigen neuen Synagogen während der NS-Zeit. Es gab unterschiedliche Gottesdienste und jüdische Geschäfte.

Im Nordbahnviertel sind viele Lebenslinien noch unbekannt. Wäre das nicht ein interessantes Projekt für Schülerinnen? Anschließend können Stolpersteine beantragt und verlegt werden. Nur so wird Geschichte lebendig. Den Auftakt zu einer Neuentdeckung könnte die bereits erfolgte Stolpersteinverlegung im Mai 2024 für Eva Langnas markieren.

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Dieser Beitrag entstand gemeinsam mit Miklas Weber: Kiezforscher zur NS-Verfolgung in Berlin Tempelhof und Mariendorf sowie beteiligt an der Forschung und Aufarbeitung zur Gruppe Eva Mamlok (Widerstandsgeschichten).

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*Judenhaus / Judenwohnung: Ab 1939 wurde die jüdische Bevölkerung in sog. Judenhäusern bzw. Judenwohnungen konzentriert, um sie leichter kontrollieren und später deportieren zu können. Sie wurden gezwungen, unter unerträglichen Bedingungen auf engstem Raum zu leben.

*Arbeitsscheu Reich: Diese Aktion beinhaltete die Verhaftung und Verschleppung von „Asozialen“ und ging auf den „Grundlegenden Erlaß über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ des Reichsinnenministeriums vom 14. Dezember 1937 zurück. Im April und im Juni 1938 wurden bei zwei Verhaftungswellen mehr als 10.000 Männer in Konzentrationslager inhaftiert - auch bezeichnet als Juni-Aktion. Bei der Juni-Aktion wurden mit rund 2.300 Personen überproportional viele Juden inhaftiert: KZ Dachau 211 Häftlinge, KZ Buchenwald 1.256 Häftlinge und KZ Sachsenhausen 824 Häftlinge. Vergleichbare Massenverhaftungen wiederholten sich nicht; jedoch wurden bis 1945 kontinuierlich „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ in die Konzentrationslager eingewiesen.

*Mesusa: Mesusa befindet sich am rechten Türpfosten. Sie hat ihren Ursprung im fünften Buch Mose, im „Schma Israel“, einem der jüdischen Hauptgebete. Viele Juden betrachten die Mesusa als eine Art Talisman, der Unheil von ihrer Wohnung fernhält. Betritt man das Haus, die Wohnung oder ein Zimmer, dann berührt man mit der rechten Hand die Mesusa und führt die Finger anschließend zum Mund, ein angedeuteter Kuss der Schriftkapsel.

Literaturhinweis:

Lammel, Inge (Hrsg.): Jüdische Lebenswege: Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen, Berlin 2007. In diesem Buch sind Zwangsräume an folgenden Adressen erwähnt: 1. Wohnungen: Binzstraße 44, Elsa-Brandström-Straße 1, Grabbeallee 27, Vinetastraße 64, Sternstraße 12, Schönholzer Straße 6a; 2. Häuser: Mühlenstraße 77, Parkstraße 20, Platanenstraße 114.

---------> Einen Überblick über die Entstehung jüdischen Lebens im Arbeiterbezirk Wedding gibt das Buch des Autors: "Bittersweet: Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871-1933", erschienen bei Hentrich & Hentrich.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

6 Comments

  1. Ich bin ergriffen von diesem ausgezeichnet recheriertem Artikel. Bis gerade eben hatte ich kein Wissen über das reiche, jüdische Leben in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Lediglich über das jüdische Waisenhaus in der Berliner Straße in Pankow, hat man nach der Wende etwas in Erfahrung bringen können. Vielen Danke Herr Schmidt. Vielleicht sollte man hier die Initiative ergreifen und ebenfalls goldene Pflastersteine verlegen!

    • Vielen Dank für Deinen Kommentar. Stolpersteine wären eine gute Möglichkeit, um die Geschichte sichtbar zu machen. Alternativ könnte eine Infotafel mit Hinweisen aufgestellt werden. Beide Maßnahmen müssten von einer Initiative oder dem Bezirk anstoßen werden. Vielleicht finden sich interessierte Mitstreiter. Beste Grüße, Carsten Schmidt

  2. Sehr geehrter Herr Dr. Schmidt, ganz ausgezeichnet Ihre Bemühungen, das einstige jüdische Leben in Wedding vor dem Vergessen zu bewahren. Die Austilgung jüdischer Kultur, die einst Berlin entscheidend prägte, ein Aderlaß, den die Stadt bis heute nicht überwinden konnte. Gestatten Sie mir, gleichfalls Angehöriger der Historikerzunft und M.A.-Absolvent am Friedrich-Meinecke-Institut, vermutlich um einiges früher als Sie selbst, eine kurze generelle Anmerkung zur unausgesprochen im Raum stehenden Frage, was wußten, was konnten die Zeitgenossen vom Holocaust wissen? Mir erinnerlich, seinerzeit auch Gegenstand eines Seminars mit dem von mir geschätzten Prof. Arnulf Baring. Die Existenz von KLs im Reichsgebiet, auch als „Schutzhaftlager“ bezeichnet, dürfte jedem Zeitungsleser bekannt gewesen sein. Einrichtungen für „degenerative Elemente des eigenen Volkskörpers“ (NS-Terminologien zum besseren Verständnis), „hart aber gerecht“. Bekannte Zielsetzung: Disziplinierung und Besserung politischer Gegner, Arbeitsscheuer und Gewohnheitskrimineller durch harte Arbeit. Einschlägige Fotoserien ließen sich dem populären „Illustrierten Beobachter“ entnehmen. Völlig anders verhielt es sich dagegen bei den Vernichtungsaktionen gegen jüdische Bürger und andere so titulierte „Fremdvölkische“ und „Feinde des deutschen Volkes“. Deportationen, Räumungen von Wohnungen, Abtransport des Hausrats für alle sichtbar unter Beteiligung von Orpo, Sipo und diversen Bürokratien. Zur Legitimierung griff hier die Legende: „Umsiedlung“, Juden i.d.R. familiär deportiert, ins rückwärtige Heeresgebiet des Ostraumes zum Arbeitseinsatz, offizielle Zielsetzung den „parasitären Gegnern des deutschen Volkes“ erstmals produktive Arbeit abzugewinnen. Nicht Arbeitsfähige, alte Menschen, Prominente und zunächst auch Träger von Kriegsauszeichnungen wurden, durchaus glaubhaft, nach Theresienstadt evakuiert („Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“), aus der sie im Zuge fortschreitender Endlösungspläne letztlich doch nach Treblinka, Majdanek, Belzec, Sobibor, Chelmno oder Auschwitz transportiert wurden, um dort, räumlich abgelegen, ihr Ende zu finden. Am ehesten noch wurden Wehrmachtssoldaten Zeugen oder gar Mittäter an den Schandtaten der Einsatzgruppen der Sipo und des SD im Bereich der Berück. Was sie davon ihren Familien berichteten, bleibt unklar. Mit anderen Worten: Die Existenz der Kls im Sinne von Schutzhaftlagern war durchaus kein Geheimnis, während man zum Genozid der Legende vom Arbeitseinsatz im Osten Glauben schenken konnte oder auch nicht. Quantifizierungen dürften vermutlich Spekulationen bleiben.
    Ihr Buch, Herr Dr. Schmidt, habe ich mir zwischenzeitlich gekauft und bereits mit Interesse gelesen.
    Mit bestem Gruß

    • Sehr geehrter Herr Rogge, vielen Dank für den Kommentar und die Ausführungen zur Frage: Was wussten die Zeitgenossen vom Holocaust. Mir hat die Recherche zu diesem Thema einmal mehr gezeigt, dass es wichtig ist sich immer wieder mit den gleichen Orten zu beschäftigen. Es gibt bereits ein sehr umfassendes Buch über die jüdische Geschichte von Pankow. Jedoch bringen neue Quellen stets neue Erkenntnisse - wie dieser Beitrag zeigen dürfte. Und das Thema Zwangsräume sollte noch viel intensiver erforscht werden. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag, herzlichst Carsten Schmidt

  3. Danke für diesen informativen Beitrag!
    Der Wedding begleitet mich seit meiner Kindheit. Meine Oma und andere Verwandte wohnten dort.
    (Kolonie -und Wollankstrasse).
    Einige von denen wohnen dort immer noch.
    Ich selbst auch eine Zeit lang.
    Jetzt lebe ich in Pankow und ich versuche mich immer zu erinnern, wie es damals war. Ich finde euren Blog so krass. Gruß

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