Mitte Januar feierte Hedwig Heberlein, Heimbewohnerin des Lazarus-Haus-Berlin im Brunnenviertel ihren 108. Geburtstag. Zum Gratulieren kamen Tochter, Heimbewohner, Pflegepersonal – und die Zaungäste. Reportage eines Zaungastes über einen offiziellen Besuch einer privaten Feier.
Der möglicherweise ältesten Berlinerin sollte um 15 Uhr gratuliert werden. Ich bin schon um 14.30 Uhr vor Ort. Offiziell wurde ich von einer Pressemitteilung des Bezirksamts eingeladen und vom Lazarus-Haus-Berlin. Ich treffe auf eine Mutter und ihre Tochter, die in einem kleinen Raum die kommenden Dinge erwarteten. Die Mutter gelöst, die Tochter leicht aufgeregt. Immerhin hat sich der Bürgermeister angekündigt. Das Wort Tochter darf nicht in die Irre führen, sie ist bereits selbst 81 Jahre alt und wird aufgrund ihres Alters in vier Jahren selbst Besuch vom Bürgermeister bekommen. Wenn sie es denn wünscht.
Noch sind beide allein – mit sich beschäftigt. Und ich bin der Zaungast. Ich beobachte eine zufällig ausgewählte Familie. Der Zufall hat die Familie Heberlein ausgesucht, eine Hochbetagte in ihrer Mitte zu haben.
Die 108-jährige Frau hört schlecht und sieht schlecht. Es ist zu vermuten, dass nicht sie es war, die entschieden hat, dass Reporter zu ihrem Geburtstag kommen sollen – Reporter von der B.Z., der Berliner Zeitung und eben ich. Sie empfängt mich sehr freundlich. Auf eine mitfühlende Art, wie es nur die ältere Generation gelernt hat: “Ach, Sie haben ja so kalte Hände”.
Die Jubilarin sitzt still in der Ecke, der Geburtstag findet an ihr vorbei statt. So wie es in vielen Familien schnell der Fall ist, wenn die Alten schlecht hören. Am Tisch fliegt das Familiengespräch über sie hinweg. Ein typischer Geburtstag also.
Andere Heimbewohner kommen gratulieren. Offenbar ohne Einladung des Bezirksamtes. Sie haben gemerkt, dass etwas besonderes auf dem Flur los ist. Die Jubilarin freut sich. Auch lächelt sie, als sie Holzfiguren in den Händen hält. Eine Pflegerin hat sie ihr schelmisch gegeben, “gleich lacht sie”. Wenn das Gehör und das Augenlicht nachlässt, dann wird der Tastsinn wichtiger. “Die kenne ich”, sagt die 108-jährige und strahlt. Überhaupt lächelt sie mehrere Male an diesem Tag – mit anderen Menschen zusammen und manchmal auch für sich. Und immer wieder begrüßt sie Neuankömmlinge mit ihrer warmen Stimme: “Sie haben ja so kalte Hände”.
Was ich über sie erfahre, weiß ich nicht von ihr, sondern von ihrer Tochter. Sie erzählt mir das Leben ihrer Mutter. Lebensstationen wie Heirat, Aufgabe des Berufs, Geburt der Kinder, Umzüge. Das Leben einer Frau, die in Pommern geboren wurde, nach Berlin zog, nach 1941 von Westpreußen auf einen Gutshof zu den Trakehnern zog oder wieder zurück nach Berlin kam. Ich schreibe dies in meinem Block mit, während die Berufsfotografen ein Foto stellen.
Ich gehe mit gemischten Gefühlen. Es ist eine merkwürdige Art Geburtstag zu feiern, bei der mehr offizielle Gäste anwesend sind als private. Aber es war ein Tag, an dem Hedwig Heberlein viel gelächelt hat.
Text und Foto: Andrei Schnell
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