Wenn ihr Besuch vom Dorf oder aus der Kleinstadt bekommt, könnt ihr euch mit denen natürlich den Potsdamer Platz (gähn), das Europa-Center (schnarch) oder den Fernsehturm (langweilig) anschauen. Oder: Zeigt ihnen gefälligst was anderes! Denn der wahre Reiz der Großstadt und der echte Nervenkitzel der Metropolis liegen woanders: nämlich im Wedding.
Ob Barcelona, Amsterdam oder Stockholm. In jeder Metropole gibt es Dinge, worüber der durch Reizüberflutung abgestumpfte Großstädter oder der durch immer ähnlicher werdende Städtereisendestinationen gelangweilte Tourist kaum noch nachdenkt. Trotzdem ist jede Stadt anders, hat ihr eigenes Herz und manchmal auch eine Schnauze. Damit unterscheidet sich Berlin tatsächlich ganz beiläufig, ohne dass irgendjemand auch nur ein Wort darüber verliert, erheblich von Böblingen, München oder Delmenhorst. Ein paar Beispiele gefällig?
Der Wohlklang eines Martinshorns
Im Wedding gehört arabische Musik wie Tatü-Tata zum gewohnten Sound, und Blaulicht erhellt unser Straßenbild Tag und Nacht. Ein Tag ohne einen zünftigen Polizeieinsatz ist kein richtiger Tag. Wir Weddinger schauen kurz hin, zucken mit den Achseln und gehen einfach weiter.
Jalousien nie heruntergelassen
Einkaufen rund um die Uhr? Wenn die meisten Supermärkte gegen 22 Uhr schließen, also recht früh, sind anderswo die Bürgersteige schon seit Stunden hochgeklappt. Der Weddinger an sich lächelt darüber milde und kauft beim Späti seines Vertrauens ein, wenn’s sein muss, auch um Mitternacht. In die Kneipe gehen könnten wir ja sowieso zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im Magendoktor oder im Soldiner Eck werden die Jalousien sowieso nie heruntergelassen, 7 Tage die Woche, 24 Stunden. Das Gleiche gilt auch für den sagenhaften Madenautomaten in der Tegeler Straße, weil dem Angler ja mitten in der Nacht die Maden ausgehen könnten.
Essen wie die halbe Welt
Wer mag, kann sich bei uns auch die Geschmacksnerven durch besonders scharfe Currywurst in „Curry & Chili“ ruinieren. Dann schmeckt der Döner, den es im Wedding natürlich an jeder Ecke gibt, auch nicht schlechter. Obwohl, Döner… wir essen inzwischen sowieso gerne querbeet: indisch, koreanisch, libanesisch. Wenn bei uns schon Menschen aus aller Welt wohnen, kaufen wir gerne auch in exotisch duftenden Geschäften von asiatisch bis afrikanisch und lassen uns von Köchen aus der ganzen Welt bekochen.
Kunst ist an der Hauswand
Mit einem exklusiven Kunstmuseum, in dem man mit Audioguide bewaffnet andächtig vor Gemälden verweilt, werden keine Touristen in den Wedding gelockt. Denn Kunst gibt’s bei uns an jeder Hauswand. Ob man es nun Graffiti, Street Art oder Schmiererei nennt: das Wandbild der Gebrüder Boateng an der Badstraße Ecke Pankstraße ist eine Ikone für den Kiez geworden. Ebenso wie der Pharao an der nicht weniger typischen Ecke Seestraße/Müllerstraße, der für einen Optiker wirbt.
Wo ihr fast unter die Räder kommt
Am Schluss noch ein bisschen mehr Nervenkitzel gefällig? Dann empfehlen wir einen Besuch auf dem Parkdeck des Einkaufscenters Clou hart an der Grenze zum Wedding. Hier kann man einfach nur beten, dass die Flugzeuge im Anflug auf Tegel die Landebahn noch erreichen und nicht am Gebäude hängenbleiben.
So aufregend das alles für Provinzler sein mag: im Wedding lernt man schnell, das Großstadtfeeling als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Diese Beiläufigkeit ist die wahre Coolness des gelernten Metropolenbewohners!
Das Boateng-Bild ist übrigens auch Werbung. Für Nike.
Schöner Artikel mit viel Drive und gekonnter Selbststilisierung. Was mich stört ist das „wir“. Wer ist denn „wir“? Im Wedding gibt es viele Gruppen und alle erleben es anders. Die Späti-Bar-Blaulicht-Begeisterung kann ich verstehen, ging mir am Anfang genau so. Das Leben scheint abenteuerlich, weil es in einer abenteuerlichen Umgebung stattfindet. Dabei tut man nichts anderes als zuschauen und gewähren lassen.
Ich zeige Attraktionen in der Art ja gerne – aber meine Erfahrung ist, dass es echte Kleinstadtverwandtschaft/bekanntschaft eher verwirrt und überfordert. Die ganze Dosis Großstadt ist dann zuviel.