Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat. Den Wedding können nur die wenige seiner Bewohnerinnen und Bewohner als Geburtsort angeben, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. Wieder andere Berliner sind hier auch nur geboren, weil sich viele Krankenhäuser im Wedding befinden, und haben nie im Stadtteil gewohnt. Der Zugezogenenatlas 2016 weist für den Wedding aus, dass über die Hälfte seiner Bewohner nicht in Berlin geboren ist – nur rund um den Schillerpark lag die Quote der Ur-Berliner etwas höher.So verwundert es nicht, dass auch die meisten der Redaktionsmitglieder beim Weddingweiser nicht aus der Region Berlin-Brandenburg stammen. In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben. Heute: Unsere Autorin mit drei Heimaten.
Drei Heimaten
Die Antwort auf die Frage, wo meine Heimat sei, ist nicht so einfach. Ich habe nämlich gleich drei. Denn Heimat ist für mich vielmehr ein Gefühl. Geboren bin ich in Piła, einem kleinen Ort in Polen, 100 km nördlich von Posen. Hier lebt der Großteil meiner Familie, den ich regelmäßig besuche. Aufgewachsen bin ich jedoch in Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dort bin zur Schule gegangen und dort wohnen meine Eltern mit meinen Geschwistern sowie viele meiner Freunde. Nach dem Abitur bin ich für mein Studium schließlich weggezogen. Nun lebe ich schon seit drei Jahren in Berlin. Im Wedding, um genau zu sein. Hier habe ich meine erste eigene Wohnung bezogen, hier arbeite ich und hier habe ich Freunde fürs Leben gefunden. Die drei Orte scheinen auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben. Doch wenn das so ist, warum kann ich dann heute überzeugt sagen, dass sowohl Piła als auch Euskirchen und – vor allem – der Wedding meine Heimat ist? Um die Frage zu beantworten, möchte ich euch auf eine kleine Reise mitnehmen und zeigen, dass die Orte, unter vielen Gesichtspunkten, doch sehr ähnlich sind.
Meine erste Heimat Euskirchen
Meine Eltern pendelten schon seit der Wende wöchentlich zwischen Deutschland und Polen. Denn nach dem Fall der Mauer war für viele Polen besonders das damalige Westdeutschland das Land, in dem Milch und Honig flössen, erzählt meine Mutter. Es habe sich trotz des ständigen Pendelns finanziell gelohnt, in Deutschland zu arbeiten und in Polen zu leben, fährt sie fort. Als meine Mutter jedoch mit mir schwanger wurde, sei von vornherein klar gewesen, dass das Pendeln ein Ende nehmen müsse, sagt sie. Meine Eltern mussten sich zwischen dem Schlaraffenland und ihrer Heimat entschieden. So zogen wir unmittelbar nach meiner Geburt 1998 nach Deutschland. Euskirchen, eine mittelgroße Stadt im Rheinland, zwischen Köln und Bonn wurde zu meinem Zuhause. Um ehrlich zu sein, weiß ich die Schönheit der Stadt erst seit meinem Auszug zu schätzen. Euskirchen liegt am nördlichen Rand der Eifel. Weniger als zwanzig Minuten Autofahrt entfernt befindet sich das Gebirge mit seinen wunderschönen National- und Naturparks. Durch Euskirchen fließt die Erft, ein Fluss, der in den Rhein mündet und welcher der Stadt ein einzigartiges Bild verleiht. Mitten im Stadtzentrum befindet sich der ‚Alte Markt‘. Er verziert die heutige Fußgängerzone mit vielen bunten Häusern und kleinen Cafés.
Ferner zeichnet sich Euskirchen durch Weltoffenheit aus. Die Stadt ist sehr multikulturell. Im Laufe der Jahre bildeten sich viele Communities und tolle Restaurants aus den verschiedensten Ländern der Welt. Ich kenne nahezu jede Ecke der Stadt, schließlich verbrachte ich hier fast mein ganzes Leben. Es erscheint also einleuchtend, dass Euskirchen auf jeden Fall zu meinen drei Heimaten gehört. Aber um genau zu erklären, warum das so ist, muss ich etwas ausholen:
Bei uns zu Hause wurde nur polnisch gesprochen, es lief immer polnisches Fernsehen, meine Mutter hat – mit Ausnahme von Spaghetti Bolognese – nur polnisch gekocht. Ich bin auch mit katholischen Werten groß geworden, was für Polen eben üblich ist. So besuchten wir jeden Sonntag eine polnische Messe und danach ein polnisches Café oder Restaurant. Bis zur Grundschule hatte ich nur polnische Freunde, die Kinder der Freunde meiner Eltern waren. „Dadurch fühlen wir uns bis heute wohl in Euskirchen“, erzählt meine Mutter. Die polnische Community der Stadt sei vor allem zu Beginn wichtig gewesen, um erstmal anzukommen, sagt sie. Als ich schließlich in die Grundschule kam und eigene Freunde fand, lernte ich auch die deutsche, insbesondere die rheinländische, Kultur so richtig kennen. Mich begeistert der Fastelovend (Karneval, oder wie die Berliner*innen sagen, Fasching). Ich war sogar einige Jahre Mitglied eines Karnevalsvereins. Ich mag Kölsch, Mettbrötchen, bin Fan des 1. FC Köln. Hin und wieder rutscht mir, sogar in Berlin, die ein oder andere kölsche Redewendung raus. Lange Zeit war ich zwiegespalten, ob ich mich nun eher deutsch oder eher polnisch fühle. Damals habe ich nicht verstanden, dass ich keinen Spagat zwischen den Kulturen machen muss.
Meine zweite Heimat Piła
Piła, zu deutsch Schneidemühl, gehörte nach dem Wiener Kongress zu Preußen. Durch die Eröffnung der preußischen Ostbahn 1851 erlebte die Stadt einen Aufschwung. Denn hier verzweigte sich die aus Berlin kommende Hauptstrecke nach Königsberg über Thorn und Dirschau bei Danzig. Dank der zentralen Lage im nordostdeutschen Schienennetz wurde in Schneidemühl später ein Bahnausbesserungswerk eröffnet. Die Stadt gewann im Laufe der Zeit an Wichtigkeit. Es siedelten sich hier zahlreiche Industriebetriebe an. Schließlich wurde Schneidemühl zur Hauptstadt der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen und sollte zum Zentrum der deutsch gebliebenen Gebiete werden. Nach Kriegsende erhielt Polen die Stadt wieder mit der Ortsbezeichnung Piła. Bis heute leben in Piła ungefähr 800 Deutsche, die zur Deutsch-Sozial-Kulturellen Gesellschaft zusammengeschlossen sind. An der Stelle sei vielleicht noch kurz zu erwähnen, dass aus dem damaligen Schneidemühl auch viele große deutsche Persönlichkeiten stammen. Unter anderem Carl Friedrich Goerdeler, der Oberbürgermeister von Leipzig, welcher seinerzeit auch als Widerstandskämpfer galt oder die deutsche Schauspielerin Regina Jeske.
Meine Eltern und ich waren sehr oft in Polen. Als sehr katholische Familie selbstverständlich jedes Jahr über Weihnachten und Ostern, aber auch in anderen Ferien haben meine Eltern auf einen Urlaub im Süden verzichtet, um die Familie zu besuchen. Mir war das eigentlich immer ganz recht, denn als Kind spielte ich mit meinen Cousinen und Cousins auf dem Bauernhof meiner Großeltern, es gab immer was Neues zu entdecken und uns wurde nie langweilig. Später als Jugendliche gingen wir zusammen aus und so konnte ich auch dort Freundschaften knüpfen, die bis heute halten. So kam es also, dass ich jede Ferien, oft auch ohne meine Eltern, dort war. Ich erinnere mich, als Kind immer geweint zu haben, wenn ich zurück nach Deutschland musste. Auch als Jugendliche war ich immer wieder traurig, Piła zu verlassen. Zurück in Deutschland vermisste ich meine Familie und meine Freunde in Polen. Besonders der Geruch nach dem frisch gebackenen Hefezopf meiner Oma und Getreidekaffee, der sich jeden Morgen im ganzen Haus ausbreitete, fehlte mir. Bis heute überrennt mich die Nostalgie, wenn ich irgendwo diese Gerüche wahrnehme. Zum Glück bin ich jetzt rund 550 Kilometer näher an meiner polnischen Heimatstadt als früher.
Meine dritte Heimat Wedding
Das Einzige, was ich über den Wedding wusste, bevor ich hierherzog war, dass die Boateng-Brüder und der Rapper Massiv (der selbst zugezogen ist) aus der Gegend kommen. Zugegebenermaßen habe ich mir den Wedding nicht selbst als Wohnort ausgesucht. Ich stand lediglich vor der Entscheidung, in eine Wohnung, in irgendeine Vorstadt wie Tegel zu ziehen oder eben in die Badstraße. Die Frage stellte sich also gar nicht und so bezog ich zum 1. Oktober 2017 meine erste eigene Einzimmerwohnung im Wedding.
Ich erinnere mich, anfangs etwas überfordert gewesen zu sein. Ich war es nicht gewohnt, so viele Menschen um jede Tages- und Nachtzeit auf den Straßen zu sehen. Denn sowohl Euskirchen als auch Piła sind eher kleinere Orte und können bei der Einwohnerzahl mit dem Wedding nicht mithalten. Als ich anfing, den Wedding weiter kennenzulernen, Bars, Cafés und Restaurants zu erkunden, wurde mir klar, dass der Wedding Euskirchen eigentlich ziemlich ähnlich ist. Denn der Wedding ist auch sehr bunt, man findet auch hier Menschen aus vielen, unterschiedlichen Ländern der Welt. Alle sind offen und freundlich, genauso wie die Menschen in Euskirchen. Je mehr ich den Wedding kennenlernte, desto deutlicher wurde auch die Ähnlichkeit zu meiner polnischen Heimatstadt. Ich entdeckte die vielen polnischen Läden und war über die Größe der polnischen Community verblüfft. Bis heute kaufe die Produkte für meine Pierogi oder meinen Bigos in den kleinen polnischen Supermärkten. Manchmal unterhalte ich mich mit den Verkäufer*innen und merke, dass für sie der Wedding ebenfalls zur Heimat geworden ist. Jeder Besuch in einem polnischen Laden, mit dem unverwechselbarem Geruch, nach einer Mischung aus Dill, Petersilie und Fleisch, erinnert mich an meine polnische Heimat.
Dann war da noch die Sache mit dem Dialekt. Ich erinnere mich an einen Besuch in einer Bäckerei in der Nähe des Gesundbrunnens. Die Verkäuferin war eine Urberlinerin, Urweddingerin wie sich nach weiteren Besuchen rausstellte. Ich bestellte zwei Brötchen und einen Berliner, sie schaute mich entsetzt an und meinte nur: „Samma, du meinst wohl zwei Schrippen und einen Pfannkuchen, wa?“. Damals war ich verwirrt, aber wenn ich heute darüber nachdenke, war die Reaktion, der eines Rheinländers in Köln gar nicht so unähnlich. Ein kölscher Bäcker wäre auch verwirrt, wenn jemand eine ‘Schrippe’ bestellen würde. Jetzt habe ich verstande, dass vor allem die Dialekte etwas sind, was Euskirchen und den Wedding verbindet. Sie sind zwar sehr unterschiedlich, aber durch den jeweils eigenen Dialekt fühlen wir uns in unseren Orten heimisch oder eben fremd, wenn wir ihn nicht verstehen. Auf den Weddinger Straßen höre ich zwar selten Kölsch, aber dafür um so öfter Polnisch. Jedes Mal, wenn ich an einer polnisch sprechenden Person vorbeilaufe, überrennt mich ein Wohlgefühl, ein Heimatgefühl eben. Je länger ich im Wedding wohne, desto stärker wird dieses Gefühl.
Mein Mietvertrag war damals leider auf ein Jahr befristet, sodass ich mich relativ schnell wieder auf Wohnungssuche begeben musste. Im Laufe des Jahres habe ich natürlich auch andere Teile Berlins kennenlernen können. Vom Prenzlauer Berg über Friedrichshain und Kreuzberg bis nach Steglitz und Lichtenberg, überall waren meine Kommilitonen verteilt. Obwohl jeder Stadtteil besonders und einzigartig ist, war mir klar, dass ich im Wedding bleiben möchte. Es ist ein Gefühl des Willkommenseins, das ich hier erlebe. Im Wedding habe ich meine polnischen Stammläden, mein Stammcafé, meine Stammbar und meinen Stammfalafelmann gefunden, sowie viele meiner Freunde. Außerdem bietet mir der Wedding viele weitere positive Nebeneffekte. So sind die Mieten hier immer noch günstiger als in anderen Stadtteilen. Auch die geographische Lage des Weddings ist perfekt für mich. Ich studiere an der Technischen Universität, mein Campus befindet sich zum einen am Zoologischen Garten und zum anderen am Volkspark Humboldthain. Ein Campus ist für mich in fünfzehn Minuten zu Fuß erreichbar und den anderen erreiche ich in nur neun Minuten mit der U‑Bahnlinie 9. Will ich mal über das Wochenende meine Eltern in Euskirchen besuchen , kann ich direkt am Bahnhof Gesundbrunnen in einen ICE steigen und vier Stunden später in Köln aussteigen. Wenn ich mal nach Polen fahren möchte, gibt es zahlreiche Menschen aus dem Wedding, die wöchentlich mit dem Auto nach Pila pendeln, sodass ich in drei Stunden bei meiner Familie sein kann.
Ich bleibe hier
So entschied ich mich nach der Beendigung meines Mietvertrags im Wedding zu bleiben und zog nur eine Querstraße weiter. Ich würde es immer wieder so machen, denn der Wedding ist für mich die perfekte Verbindung zwischen Piła und Euskirchen. Obwohl es hier kein echtes Gebirge gibt und obwohl ein Hefezopf und ein Getreidekaffee hier ganz anders schmeckt als bei meiner Oma in Polen, gibt es dennoch viel mehr Parallelen zwischen den Orten, als man vermuten würde. So kann ich heute sagen, dass der Wedding nach nur drei Jahren zu meiner Heimat geworden ist, in der ich hoffe bleiben zu können.
Liebe Oliwia,
Ich,Bernd schreibe dir,weil du mir vielleicht helfen kannst. Ich bin mittlerweile Rentner (65) und auf der Suche nach meinen Wurzeln. Meine Mutter ist auch in Schneidemühl geboren. An ihrem 10. Geburtstag mußte sie mit ihrer Mutter am 26.1.1945 vor den sowjetischen Truppen fliehen. Dies geschah mit der Bahn über Großkreuz nach Berlin und von da nach
Nordfriesland zu enfernten Verwandten in Niebüll. Nun meine Frage:“Weißt du,oder deine Eltern, wo die Bäckerei in Schneidemühl im Jahr 1945 stand?“ Diese Bäckerei wurde von den Eltern meiner Mutter, also meinen Großeltern mit Namen Blachowski betrieben. Alle, die ich fragen könnte,sind leider schon verstorben und ich möchte gerne einmal noch
Sehen,wo meine Mama aufgewachsen ist. Sie hat oft von den Sommerferien am Strand von Kolberg erzählt.
Entschuldige bitte, wenn dieses Ersuchen nicht ganz hierher gehört. Über eine Antwort wäre ich sehr dankbar.