Mastodon

Neuer Kinosaal im Wedding:
Willkommen in Transtopia

12. März 2023

Die Ber­li­na­le ist vor­bei. Aber das Kino Sine­ma Tran­sto­pia im Wed­ding hat geöff­net. Seit Anfang des Jah­res gibt es die­ses neue Kino in direk­ter Nähe zur S‑Bahnstation Wed­ding, im Hin­ter­hof der Lin­dower Stra­ße 2022. Hier befin­det sich ein ehe­mals gewerb­lich genutz­tes Remi­sen­ge­bäu­de aus Back­stein, was neben dem Kino­saal als sol­chem auch einen Vor­raum zum Ver­wei­len beher­bergt. Ein eben­so gro­ßer Außen­be­reich befin­det sich hin­ter dem Kino und kann in Zukunft auch bespielt werden.

Der Name „Sine­ma Tran­sto­pia“ weist sowohl mit dem tür­ki­schen Wort für Kino als auch mit dem Begriff der Tran­sto­pie dar­auf hin, dass hier ein Ort besteht und wach­sen soll, an dem „grenz­über­schrei­ten­de Bin­dun­gen und Ver­bin­dun­gen zusam­men­lau­fen, neu inter­pre­tiert wer­den und sich im All­tags­kon­text ver­dich­ten“ (Erol Yıldız).

Somit sagt der Name des Kinos bereits eini­ges über die Schwer­punkt­set­zung des Pro­gram­mes aus; Trans­na­tio­na­le, (post-)migrantische und post­ko­lo­nia­le Per­spek­ti­ven wer­den ein­ge­nom­men. Mit Seh­ge­wohn­hei­ten, die auf Euro­zen­tris­mus und der Repro­duk­ti­on des­sen im Film fußen, wird gebro­chen. Der trans­na­tio­na­len Gesell­schaft, in der wir leben, soll Tri­but gezollt wer­den, indem wir uns an einer Erin­ne­rungs­kul­tur pro­bie­ren, die nicht mehr natio­nal oder inter­na­tio­nal, son­dern trans­na­tio­nal funk­tio­niert. Hier­für ist es ziel­füh­rend, Stim­men Gehör zu ver­lei­hen und Bli­cke ein­zu­neh­men, die bis­her wenig Text, Ton und Bild zur Ver­fü­gung hatten.

Das Sine­ma möch­te ein Zei­chen für Fil­me set­zen, die von bestehen­den (natio­na­len) Film­för­der­lo­gi­ken nicht erfasst wer­den und deren Archi­vie­rung, Restau­ra­ti­on und Vor­füh­rung somit ungleich schwe­rer ist. Deut­sche Film­för­de­rung bezieht sich der­zeit aus­schließ­lich auf Fil­me, deren Regisseur*innen die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit besit­zen, oder die auf deut­scher Spra­che erschie­nen sind. Die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung ist somit an ein natio­na­les Bild eines Kul­tur­rau­mes geknüpft, es geht auf bestehen­de Trans­na­tio­na­li­tä­ten nicht ein.

Das Sine­ma Tran­sto­pia hat es sich zur Auf­ga­be gemacht, einen Ort zu schaf­fen, an dem Raum für das Zei­gen von häu­fig müh­sam restau­rier­tem Film­ma­te­ri­al von Autor*innen ist, die sich über Gren­zen ver­schie­de­ner Kul­tur­wel­ten und Gesell­schafts­räu­men hin­weg bewe­gen. Das Begrei­fen von Flui­di­tät in Bezug auf Iden­ti­tä­ten und Zuge­hö­rig­kei­ten ist ein Grund­stein für die Bil­dung eines umfas­sen­de­ren Ver­ständ­nis­ses der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart und der Zukunft unse­rer Gesellschaft.

In die­sem Kon­text ver­steht sich das Sine­ma als Safe Space, als Schutz- und Aus­tausch­raum, viel­leicht nicht nur für Men­schen, son­dern auch für Fil­me, die aus diver­sen Grün­den an ande­ren Orten und zu ande­ren Zei­ten nicht gezeigt wur­den oder nicht gezeigt wer­den konnten.

Die Asso­zia­ti­on, dass ein wenig Uto­pie mit der Vor­stel­lung die­ses Ortes Tran­sto­pia ein­her­geht, mag dem Namen etwas Reiz­vol­les geben und den Hin­ter­hof in der Lin­dower Stra­ße, den Raum Kino mit Bedeu­tung, Eska­pis­mus und den Vor­stel­lun­gen von einer bes­se­ren Welt aufladen.

Ziel des Pro­gram­mes ist es, ein empa­thi­sches Ver­ste­hen und ein sehen­des Ler­nen anzuregen.

Fil­me, die in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind oder kei­nen kom­mer­zi­el­len oder för­der­spe­zi­fi­schen Kri­te­ri­en ent­spre­chen, aber auch Fil­me, die auf Grund ihrer poli­ti­schen Bri­sanz bis­her sehr weni­ge Vor­füh­run­gen erlebt haben, sol­len im Sine­ma Tran­sto­pia end­lich auf ein Publi­kum treffen.

Wich­ti­ge Zeit­do­ku­men­te kön­nen dabei behilf­lich sein, unse­ren Blick zu erweitern.

Das Pro­gramm des Sine­mas ist viel­fäl­tig; im Rah­men von Film­rei­hen, die von Kurator*innen beglei­tet wer­den und jeweils aus sechs bis acht Fil­men bestehen, wer­den ver­schie­de­ne inhalt­li­che Schwer­punk­te gelegt und ent­spre­chen­de com­mu­ni­ties erreicht.

Das Sine­ma macht es sich zur Auf­ga­be, Fil­me zu kon­tex­tua­li­sie­ren; Gesprä­che zum Film mit den Kurator*innen und ande­ren Filmexpert*innen gehö­ren des­we­gen zur fast täg­li­chen Abend­ge­stal­tung dazu.

Im fort­lau­fen­den For­mat „Com­mon Visi­ons Ber­lin“ möch­te das Sine­ma Tran­sto­pia auch eine Tür in Rich­tung Nach­bar­schaft auf­sto­ßen; in die­sem For­mat wird es ein bis zwei Mal im Monat die Mög­lich­keit geben, Fil­me mit spe­zi­fi­schen (auch akti­vis­ti­schen) Anlie­gen zu zei­gen. Denk­bar sind bei­spiels­wei­se The­men­aben­de in Koope­ra­ti­on mit Ver­ei­nen, die sich mit aktu­el­len und gesell­schaft­lich rele­van­ten The­men auseinandersetzen.

Das bi’bak, der Trä­ger des Sine­ma Tran­sto­pia, exis­tiert seit 2014 und ist ein gemein­nüt­zi­ger Ver­ein. Zu Beginn wur­den die Fil­me in den Räum­lich­kei­ten von bi’bak in der Prin­zen­al­lee 59 gezeigt, ein eige­nes Kino gab es damals noch nicht. Mit Beginn des Jah­res 2018 mach­ten sich Mal­ve Lipp­mann und Can Sun­gu, die künst­le­ri­sche Lei­tung des Sine­mas, auf die Suche nach geeig­ne­ten Räum­lich­kei­ten für ein Kino. Im Som­mer 2020 konn­ten sie dann das Kino­ex­pe­ri­ment Sine­ma Tran­sto­pia im Haus der Sta­tis­tik am Alex­an­der­platz (aka Alles-Anders-Platz) eröff­nen. Mit der Sanie­rung des Haus der Sta­tis­tik ende­te auch die Zeit der „Pio­nier­nut­zung“ in Mit­te, die Raum­su­che ging wei­ter. Sie wur­de von Riva­li­tä­ten um Nut­zungs­flä­chen in sich ver­dich­ten­den Stadt­räu­men beglei­tet. Kul­tu­rel­le Nut­zun­gen sind in die­sem Kon­text ambi­va­len­te Wesen, zum einen kon­kur­rie­ren sie mit Gewer­be­be­trie­ben um die glei­chen Flä­chen und Objek­te, wobei klas­si­sche Gewer­be­be­trie­be häu­fig über eine grö­ße­re Ein­kom­mens­si­cher­heit und gene­rell über einen grö­ße­ren finan­zi­el­len Spiel­raum ver­fü­gen und sich somit in der Lage befin­den, höhe­re Mie­ten zah­len zu kön­nen, die für Kul­tur­schaf­fen­de nicht trag­bar wären. Zum ande­ren wirkt sich Kul­tur immer auch auf die Attrak­ti­vi­tät von Quar­tie­ren aus und kann somit Ent­wick­lun­gen wie Erhö­hun­gen von Mie­ten in der Umge­bung selbst mit­be­för­dern. Kein Kino wäre ja aber auch kei­ne Lösung.

Das Sine­ma als Insel des Spar­ten­films in Bezug auf tran­sto­pi­sches Kino sucht sei­nes­glei­chen in Ber­lin. Die­se Son­der­stel­lung wird vom Ber­li­ner Senat bei­spiels­wei­se mit dem Haupt­stadt­kul­tur­fonds unter­stützt. Pro­ble­ma­tisch an den För­der­struk­tu­ren ist jedoch, dass es kei­ne spe­zi­fi­sche För­der­struk­tur für kul­tu­rel­les Kino gibt. Für klei­ne kul­tu­rel­le Kinos wie das Sine­ma Tran­sto­pia ist eine Kul­tur­för­de­rung jedoch unab­ding­bar, da der so wich­ti­ge Auf­trag, Fil­me mit ande­ren Blick­win­keln der Öffent­lich­keit zur Ver­fü­gung zu stel­len, sich als aus­schließ­lich kom­mer­zi­el­les Modell nicht rech­net. Ein wei­te­rer Nach­teil von Pro­jekt­för­de­run­gen ist zudem, dass sie häu­fig kei­ne lang­fris­ti­gen Per­spek­ti­ven bieten.

Mit dem Sine­ma Tran­sto­pia ent­steht ein neu­er sozia­ler Dis­kurs­raum im Wed­ding. Ein Ort für Aus­tausch und Soli­da­ri­tät kann hier wach­sen und in die diver­se Nach­bar­schaft hin­ein­wir­ken. Neben „Com­mon Visi­ons“ soll auch eine Nach­bar­schafts­film­rei­he, auf Tür­kisch „Komşu“-Kino, eta­bliert wer­den. Damit wird das Anlie­gen ver­folgt, das Wir­ken nicht nur in eine Rich­tung zu beschrän­ken, son­dern auch der Nach­bar­schaft ein­zu­räu­men, ins Sine­ma hin­ein­wir­ken zu kön­nen. Die Idee ist, dass Fil­me oder Film­rei­hen von Com­mu­ni­ties vor­ge­schla­gen wer­den und die­se dann ins Pro­gramm auf­ge­nom­men wer­den. Die Viel­falt des Stadt­teils Wed­ding und der diver­sen kul­tu­rel­len Fäden, die hier zusam­men­lau­fen, kön­nen dann anhand des Pro­gramms des Nach­bar­schafts­ki­nos sicht­bar werden.

Der Wed­ding spiel­te bei der Suche nach Räum­lich­kei­ten für das Sine­ma Tran­sto­pia eine wich­ti­ge Rol­le, da das bi’bak hier schon immer zu Hau­se ist und somit auch Aus­gangs­punkt für das Sine­ma war. Inso­fern freu­en wir uns, dass der Tiger in den Wed­ding gekom­men ist und wir ein neu­es Kino in der Nähe des Net­tel­beck­plat­zes begrü­ßen dürfen.

Ein guter Zeit­punkt für ein bal­di­ges Ken­nen­ler­nen des Kinos ist der 19. März. An die­sem Tag wird ein Nach­bar­schafts- und Soli­da­ri­täts­event ab 14:00 Uhr mit Ver­kös­ti­gung und mit einem Scree­ning von „Lie­be, D‑Mark und Tod“ statt­fin­den, es wer­den Spen­den für die Opfer der Erd­be­ben in der Tür­kei und in Syri­en gesammelt.

Gut zu wissen:

Das Sine­ma Tran­sto­pia hat in der Regel Film­vor­füh­run­gen von Dienstag/Mittwoch bis Sams­tag. Sonn­tags und mon­tags fin­den regu­lär kei­ne Ver­an­stal­tun­gen statt.

Ort: Lin­dower Stra­ße 20–22, Haus C. Die Kino­ti­ckets kos­ten im Nor­mal­fall sie­ben Euro und kön­nen sowohl online als auch vor Ort erstan­den wer­den. Heiß­ge­trän­ke gibt es auf Spen­den­ba­sis. Der Tre­sen­be­trieb und Ticket­ver­kauf beginnt immer eine Stun­de vor der Vor­füh­rung. Das Pro­gramm star­tet meis­tens um 20.00 Uhr.

Der Text ist auf Grund­la­ge eines Gesprächs mit Mal­ve Lipp­mann entstanden.

Text: Anna-Lui­se Göt­ze, Fotos: Mar­vin Girgib

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

MastodonWeddingweiser auf Mastodon
@[email protected]

Wedding, der Newsletter. 1 x pro Woche



Unterstützen

nachoben

Auch interessant?