Die Berlinale ist vorbei. Aber das Kino Sinema Transtopia im Wedding hat geöffnet. Seit Anfang des Jahres gibt es dieses neue Kino in direkter Nähe zur S‑Bahnstation Wedding, im Hinterhof der Lindower Straße 20⁄22. Hier befindet sich ein ehemals gewerblich genutztes Remisengebäude aus Backstein, was neben dem Kinosaal als solchem auch einen Vorraum zum Verweilen beherbergt. Ein ebenso großer Außenbereich befindet sich hinter dem Kino und kann in Zukunft auch bespielt werden.
Der Name „Sinema Transtopia“ weist sowohl mit dem türkischen Wort für Kino als auch mit dem Begriff der Transtopie darauf hin, dass hier ein Ort besteht und wachsen soll, an dem „grenzüberschreitende Bindungen und Verbindungen zusammenlaufen, neu interpretiert werden und sich im Alltagskontext verdichten“ (Erol Yıldız).
Somit sagt der Name des Kinos bereits einiges über die Schwerpunktsetzung des Programmes aus; Transnationale, (post-)migrantische und postkoloniale Perspektiven werden eingenommen. Mit Sehgewohnheiten, die auf Eurozentrismus und der Reproduktion dessen im Film fußen, wird gebrochen. Der transnationalen Gesellschaft, in der wir leben, soll Tribut gezollt werden, indem wir uns an einer Erinnerungskultur probieren, die nicht mehr national oder international, sondern transnational funktioniert. Hierfür ist es zielführend, Stimmen Gehör zu verleihen und Blicke einzunehmen, die bisher wenig Text, Ton und Bild zur Verfügung hatten.
Das Sinema möchte ein Zeichen für Filme setzen, die von bestehenden (nationalen) Filmförderlogiken nicht erfasst werden und deren Archivierung, Restauration und Vorführung somit ungleich schwerer ist. Deutsche Filmförderung bezieht sich derzeit ausschließlich auf Filme, deren Regisseur*innen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, oder die auf deutscher Sprache erschienen sind. Die finanzielle Unterstützung ist somit an ein nationales Bild eines Kulturraumes geknüpft, es geht auf bestehende Transnationalitäten nicht ein.
Das Sinema Transtopia hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Ort zu schaffen, an dem Raum für das Zeigen von häufig mühsam restauriertem Filmmaterial von Autor*innen ist, die sich über Grenzen verschiedener Kulturwelten und Gesellschaftsräumen hinweg bewegen. Das Begreifen von Fluidität in Bezug auf Identitäten und Zugehörigkeiten ist ein Grundstein für die Bildung eines umfassenderen Verständnisses der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft unserer Gesellschaft.
In diesem Kontext versteht sich das Sinema als Safe Space, als Schutz- und Austauschraum, vielleicht nicht nur für Menschen, sondern auch für Filme, die aus diversen Gründen an anderen Orten und zu anderen Zeiten nicht gezeigt wurden oder nicht gezeigt werden konnten.
Die Assoziation, dass ein wenig Utopie mit der Vorstellung dieses Ortes Transtopia einhergeht, mag dem Namen etwas Reizvolles geben und den Hinterhof in der Lindower Straße, den Raum Kino mit Bedeutung, Eskapismus und den Vorstellungen von einer besseren Welt aufladen.
Ziel des Programmes ist es, ein empathisches Verstehen und ein sehendes Lernen anzuregen.
Filme, die in Vergessenheit geraten sind oder keinen kommerziellen oder förderspezifischen Kriterien entsprechen, aber auch Filme, die auf Grund ihrer politischen Brisanz bisher sehr wenige Vorführungen erlebt haben, sollen im Sinema Transtopia endlich auf ein Publikum treffen.
Wichtige Zeitdokumente können dabei behilflich sein, unseren Blick zu erweitern.
Das Programm des Sinemas ist vielfältig; im Rahmen von Filmreihen, die von Kurator*innen begleitet werden und jeweils aus sechs bis acht Filmen bestehen, werden verschiedene inhaltliche Schwerpunkte gelegt und entsprechende communities erreicht.
Das Sinema macht es sich zur Aufgabe, Filme zu kontextualisieren; Gespräche zum Film mit den Kurator*innen und anderen Filmexpert*innen gehören deswegen zur fast täglichen Abendgestaltung dazu.
Im fortlaufenden Format „Common Visions Berlin“ möchte das Sinema Transtopia auch eine Tür in Richtung Nachbarschaft aufstoßen; in diesem Format wird es ein bis zwei Mal im Monat die Möglichkeit geben, Filme mit spezifischen (auch aktivistischen) Anliegen zu zeigen. Denkbar sind beispielsweise Themenabende in Kooperation mit Vereinen, die sich mit aktuellen und gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzen.
Das bi’bak, der Träger des Sinema Transtopia, existiert seit 2014 und ist ein gemeinnütziger Verein. Zu Beginn wurden die Filme in den Räumlichkeiten von bi’bak in der Prinzenallee 59 gezeigt, ein eigenes Kino gab es damals noch nicht. Mit Beginn des Jahres 2018 machten sich Malve Lippmann und Can Sungu, die künstlerische Leitung des Sinemas, auf die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für ein Kino. Im Sommer 2020 konnten sie dann das Kinoexperiment Sinema Transtopia im Haus der Statistik am Alexanderplatz (aka Alles-Anders-Platz) eröffnen. Mit der Sanierung des Haus der Statistik endete auch die Zeit der „Pioniernutzung“ in Mitte, die Raumsuche ging weiter. Sie wurde von Rivalitäten um Nutzungsflächen in sich verdichtenden Stadträumen begleitet. Kulturelle Nutzungen sind in diesem Kontext ambivalente Wesen, zum einen konkurrieren sie mit Gewerbebetrieben um die gleichen Flächen und Objekte, wobei klassische Gewerbebetriebe häufig über eine größere Einkommenssicherheit und generell über einen größeren finanziellen Spielraum verfügen und sich somit in der Lage befinden, höhere Mieten zahlen zu können, die für Kulturschaffende nicht tragbar wären. Zum anderen wirkt sich Kultur immer auch auf die Attraktivität von Quartieren aus und kann somit Entwicklungen wie Erhöhungen von Mieten in der Umgebung selbst mitbefördern. Kein Kino wäre ja aber auch keine Lösung.
Das Sinema als Insel des Spartenfilms in Bezug auf transtopisches Kino sucht seinesgleichen in Berlin. Diese Sonderstellung wird vom Berliner Senat beispielsweise mit dem Hauptstadtkulturfonds unterstützt. Problematisch an den Förderstrukturen ist jedoch, dass es keine spezifische Förderstruktur für kulturelles Kino gibt. Für kleine kulturelle Kinos wie das Sinema Transtopia ist eine Kulturförderung jedoch unabdingbar, da der so wichtige Auftrag, Filme mit anderen Blickwinkeln der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sich als ausschließlich kommerzielles Modell nicht rechnet. Ein weiterer Nachteil von Projektförderungen ist zudem, dass sie häufig keine langfristigen Perspektiven bieten.
Mit dem Sinema Transtopia entsteht ein neuer sozialer Diskursraum im Wedding. Ein Ort für Austausch und Solidarität kann hier wachsen und in die diverse Nachbarschaft hineinwirken. Neben „Common Visions“ soll auch eine Nachbarschaftsfilmreihe, auf Türkisch „Komşu“-Kino, etabliert werden. Damit wird das Anliegen verfolgt, das Wirken nicht nur in eine Richtung zu beschränken, sondern auch der Nachbarschaft einzuräumen, ins Sinema hineinwirken zu können. Die Idee ist, dass Filme oder Filmreihen von Communities vorgeschlagen werden und diese dann ins Programm aufgenommen werden. Die Vielfalt des Stadtteils Wedding und der diversen kulturellen Fäden, die hier zusammenlaufen, können dann anhand des Programms des Nachbarschaftskinos sichtbar werden.
Der Wedding spielte bei der Suche nach Räumlichkeiten für das Sinema Transtopia eine wichtige Rolle, da das bi’bak hier schon immer zu Hause ist und somit auch Ausgangspunkt für das Sinema war. Insofern freuen wir uns, dass der Tiger in den Wedding gekommen ist und wir ein neues Kino in der Nähe des Nettelbeckplatzes begrüßen dürfen.
Ein guter Zeitpunkt für ein baldiges Kennenlernen des Kinos ist der 19. März. An diesem Tag wird ein Nachbarschafts- und Solidaritätsevent ab 14:00 Uhr mit Verköstigung und mit einem Screening von „Liebe, D‑Mark und Tod“ stattfinden, es werden Spenden für die Opfer der Erdbeben in der Türkei und in Syrien gesammelt.
Gut zu wissen:
Das Sinema Transtopia hat in der Regel Filmvorführungen von Dienstag/Mittwoch bis Samstag. Sonntags und montags finden regulär keine Veranstaltungen statt.
Ort: Lindower Straße 20–22, Haus C. Die Kinotickets kosten im Normalfall sieben Euro und können sowohl online als auch vor Ort erstanden werden. Heißgetränke gibt es auf Spendenbasis. Der Tresenbetrieb und Ticketverkauf beginnt immer eine Stunde vor der Vorführung. Das Programm startet meistens um 20.00 Uhr.
Der Text ist auf Grundlage eines Gesprächs mit Malve Lippmann entstanden.
Text: Anna-Luise Götze, Fotos: Marvin Girgib