In Sachen Verkehrswende tut sich was, wenn auch nur in homöopathischen Dosen. Dringend benötigte Radwege entstehen nun auch an einigen Stellen im Wedding, rot-weiße Poller-Reihen versperren die Durchfahrt in sogenannten Kiezblocks und die immer weniger werdenden Parkplätze am Straßenrand kosten für Kiezfremde auch noch Parkgebühren.
Foto: Samuel Orsenne
Dass das nicht jedem gefällt, liegt angesichts jahrzehntelanger Bevorzugung des Automobils auf der Hand. “Bullerbü”, eine vermeintlich rückständige Kinderwelt, wird von den Gegnern als negativ besetztes Schlagwort aus der Mottenkiste geholt. “Die wollen aus Berlin ein Dorf machen!” ist noch der freundlichste Ausruf hartnäckiger Autobesitzer:innen, die keinen Zentimeter Platz für andere Verkehrsteilnehmende räumen möchten. Die Betreffenden sind wohl schon länger nicht mehr in einem Dorf gewesen, wo für jede noch so kleine Erledigung das Auto benutzt wird (und oft auch keine Alternativen zur Verfügung stehen).
Fotos: Samuel Orsenne
In Städten, zumal wachsenden Städten wie Berlin, ist der Platz jedoch begrenzt. Weil die Zahl der Kraftfahrzeuge weiter wächst, der Platz hingegen nicht, ist stockender Verkehr in nahezu jeder größeren Straße an der Tagesordnung. Dazu kommt noch der wachsende Liefer- und Parksuchverkehr. Halbherzige Versuche, dagegen anzugehen, haben nur in seltenen Fällen etwas bewirkt. Daher greift die Bezirkspolitik jetzt zum größeren Besteck. Gefühlt passiert jetzt ganz viel auf einmal, wobei oft vergessen wird, dass jahrelang der Zunahme des Verkehrs tatenlos zugeschaut wurde.
Beispiel Parkraumbewirtschaftung: Fast der ganze Wedding wird bis Jahresende zur Parkzone. Für die Anwohner und Schichtarbeiter, die nur eine relativ geringe Jahresgebühr zahlen müssen, stehen plötzlich wieder mehr Parkplätze zur Verfügung. So zumindest die Hoffnung.
Beispiel Fahrradstraßen: Teile der Kameruner, der Togo- und der Antwerpener Straße sind in erster Linie, aber nicht ausschließlich, für Fahrradfahrer gedacht. Leider hat sich das noch nicht bei allen Autofahrer:innen herumgesprochen, die weiterhin durch diese Straßen brettern.
Beispiel Radwege: Von dreispurigen Straßen wie der Amrumer Straße und der Müllerstraße, die jeweils eine Spur nur fürs Autoabstellen haben, müssen die Autos jetzt eine geschützte Spur an die Fahrräder abgeben. Das bisweilen geäußerte Argument, es seien ja bis jetzt nur wenige tödliche Unfälle passiert und Radler könnten ja auch auf Kopfsteinpflaster in Nebenstraßen ausweichen, zeugt von Herablassung.
Beispiel Diagonalsperren: Um durch Navigationssysteme optimierten Durchgangsverkehr in Wohnkiezen zu verhindern, wird die Durchfahrt mit Modalfiltern (durchlässig für Radfahrende und Einsatzfahrzeuge) unmöglich gemacht. Dafür wird es auf den Hauptstraßen mehr überbezirklichen Verkehr geben, aber dafür sind sie auch gedacht.
Bei allen hochkochenden Emotionen: Mit solchen Maßnahmen wird letztlich die Fläche nur minimal neu verteilt. Unerwünschte Effekte wie Kiezdurchquerungen für Ortsfremde werden erschwert. Monatelanges Abstellen von Anhängern und LKW an Wohnstraßen fällt weg.
Ganz schön viele Veränderungen auf einmal! Das alles ist für notorische Autobenutzer, von denen nur die wenigsten tatsächlich auf ihr Fahrzeug angewiesen sein dürften, ungewohnt und neu. Vielleicht testen sie auch einmal, 9‑Euro-Ticket sei Dank, die gut ausgebauten öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt.
Von individuellen Befindlichkeiten einmal abgesehen: Solche Veränderungen sollten endlich kommen, wenn wir umweltfreundliche Verkehrsmittel angesichts der Klimakrise wirklich bevorzugen wollen. Und wenn es sein muss, auch mit Pollern. Die Forderung danach kommt übrigens von unten, wie Anwohnerbeteiligungsverfahren zeigen. Die große Mehrheit der Stadtbewohner ist von Lärm, Abgasen und rasenden Autos genervt und hätte nichts gegen ein wenig mehr Bullerbü. Auch wenn es am Ende ein Pollerbü ist.
Foto: Samuel Orsenne