Wenn eine Ruine zuwuchert und aus dem Bewusstsein der Nachbarn verschwindet, redet man gern vom Dornröschenschlaf. Wenn das Bild auch bei der Wiesenburg zutreffen sollte, so darf das wildromantische Gelände jetzt endgültig als wachgeküsst gelten. Anders ist das große Publikumsinteresse beim ersten Wiesenburgfestival an diesem so verwunschen wirkenden Ort mitten im Wedding, an der Panke, nicht zu erklären.
Etwas geben, ohne Gegenleistung
Von Prinzen, die daherkommen, um das ehemalige Obdachlosenasyl wachzuküssen, kann indes keine Rede sein. Eher ist es der neue Eigentümer, die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo, die den reizvollen Standort entwickeln möchte. Die bisherigen Bewohner und Bewahrer des Denkmals, die in einem Verein organisierten “Wiesenburger”, haben wenig Geld entgegenzusetzen. Sie möchten aber mit ihrem kreativen Potenzial, ihrer Erfahrung und ihrer Ortskenntnis in diesen Prozess integriert werden. Damit nicht nur für sie selbst, sondern auch für den umliegenden Kiez etwas dabei herumkommt. Etwas geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, das hat hier nämlich Tradition, sagt Robert Bittner, der Hunderte Besucher beim ersten Wiesenburgfestival am 10. und 11. September in den nicht abgesperrten Bereichen des 12 000 Quadratmeter großen Geländes herumführt.
Kleingewerbe, Kunst und Underground sind schon da
Was die vielen Besucher dieses Areals staunend feststellen: die Wiesenburg ist ein lebendiger Kulturort – mit einer Tanzhalle, einem Tonstudio, zwei metallverarbeitenden Kleinbetrieben und sogar mit einem Imker, der echten Wiesenburger Honig und Met herstellt. Höhepunkt der Führung war das Holzbildhauer-Atelier mit einem aus 80 000 Teilen bestehenden “Pharaonenbett”. Leider hat der neue Eigentümer Degewo große Teile des Geländes absperren lassen, da Einsturzgefahr besteht. Und doch sind die wenigen Räume, die sich besichtigen lassen, beeindruckend.
Der im ehemaligen Wasserturm befindliche Kommunikationsraum der Wiesenburger und Sympathisanten, die „UnbezahlBar“, ist ein veritabler Underground-Treffpunkt der Kunst- und Kulturszene.
Nun gilt es, diese Vielfalt mitten im Wedding zu bewahren, ohne dass der unverwechselbare Charakter dieses lange Zeit “vergessenen Ortes” erhalten bleibt. Die “Wiesenburger” brauchen viel Unterstützung, auch aus dem Wedding, damit dies gelingt.
Mehr Informationen: diewiesenburg.de
Eine filmreife Geschichte dieses Ortes
Als im Jahr 1868 die Kaufmannsgattin Berta Hirsch-Neumann ein Obdachlosenasyl besucht, schlägt ihr das Elend offen entgegen und sie initiiert die Gründung des „Berliner Asyl Vereins“. Prominente Gründungsmitglieder waren der Arzt Virchow, die Industriellen Borsig und Bolle und viele mehr. Der Verein veranstaltete Benefizveranstaltungen und fand viele wohlhabende Spender, so dass er das Gelände an der Wiesenstraße kaufen konnte. 1896 entstand nach einem Jahr Bauzeit das größte und modernste Obdachlosenasyl der Welt – mit eigener Stromversorgung und Brunnen. Schnell nannte der Volksmund diesen Ort ‘die Wiesenburg’, eine Einrichtung in der bis zu 700 Männer ein kostenloses, kurzfristiges Obdach fanden. Hier spielte Religion keine Rolle. Stattdessen wurden in der seuchenanfälligen Stadt durch moderne Betten, das Desinfizieren und Waschen der Kleidung und die Möglichkeit zum Duschen und Baden neue Standards gesetzt. Außerdem konnte man hier anonym eine Bettstatt erhalten. Jeder Obdachlose bekam eine warme Mahlzeit und ein kleines Frühstück. 1907 wurde ein Bereich für 400 Frauen bzw. Kinder geschaffen, so dass das Asyl nun 1100 Betten hatte und pro Jahr bis um die 300.000 Übernachtungen verzeichnen konnte.
1926 wurde das Gelände an die jüdische Gemeinde verpachtet und 1935 von den Nazis enteignet. Im Krieg wurden große Teile des Asyls von Brandbomben zerstört – wohnungslose Familien zogen in das ehemalige Verwaltergebäude, so auch die Nachfahren einer der Stifter, die Dumkows, welche bis zum Jahr 2014 die Hausverwaltung inne hatten. Die Familie Dumkow öffnete die Wiesenburg nach und nach für Handwerker, Künstler und Kulturschaffende jeglicher Couleur.
Schlöndorff drehte hier die Szenen der Reichskristallnacht für seinen oscarprämierten Film „Die Blechtrommel“. Da das ehemalige Eingangsportal des Männerasyls, vom selben Architekten erbaut, dem der Danziger Synagoge nachempfunden war, fand sich hier der perfekte Drehort.
Fassbinder drehte auf der Wiesenburg Szenen aus „Lilli Marleen“, Ballmann Szenen für seine ZDF-Fallada-Serie „ein Mann will nach oben“, Filme wie „Tadellöser und Wolf“, „Fabian“, „Der Gehilfe“ und „Die Buschows“ fanden hier den perfekten Drehort.
Quelle: diewiesenburg.de
Auch ich habe 8 Jahre (1979−87) in den Räumen der Wiesenburg gearbeitet. Dort war damals eine Metallgießerei untergebracht, mit Büroräumen (in denen ich als Bürokraft tätig war) und den Arbeitshallen, wo Metall gegossen wurde und man viel über Sand- und Schleuderguss lernen konnte … Frau Dumkow ist mir in sehr guter Erinnerung geblieben, ebenso ihr Mann und ihr Sohn und Schwiegertochter, für die ich damals ein Hochzeitsgedicht schrieb … Dies schrieb zur frdl. Erinnerung Angelika Baum