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Immer gleich Großalarm im Wedding

4. Juli 2018
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Kunstwerk
Was im Kopf pas­siert. Foto: Mar­cel Nakoinz

Mei­nung Alles fing ganz harm­los an, indem ich zusag­te, jeden Tag in der Zei­tung nach­zu­schau­en, ob da etwas über den Wed­ding steht. Nach ein paar Mona­ten die­ses Tuns muss ich zuge­ben: ich habe mich ver­än­dert. Wie es der Algo­rith­mus der Such­ma­schi­ne schaff­te, mein Wed­ding-Welt­bild zu ändern.

Ich stel­le mir vor, ich sit­ze am Tele­fon einer Hot­line, in der Not­ruf­zen­tra­le. Da ruft mir ein jun­ger Spund ins Ohr, in die Schu­le XYZ sei­en Män­ner hin­ein gerannt. Ich rufe mir den Stadt­plan auf mei­nem Moni­tor auf und lese: Gesund­brun­nen. Das ist der Moment, wo es bei mir *Klick* machen wür­de. Was wür­de ich jetzt tun? Die Lage ana­ly­sie­ren und bewer­ten und dann han­deln oder sofort Ter­ror­alarm auslösen?

Amokalarm in der Wilhelm-Hauff-Grundschule, die Polizei sperrte am 5. Juni die Prinzenallee. Foto: Hensel
Wahr­schein­lich oder unwahr­schein­lich: Amok an Wed­din­ger Schu­le. Foto: D. Hensel

Wahr­schein­lich wür­de ich heu­te, nach meh­re­ren Mona­ten des täg­li­chen Schrei­bens des Wed­ding­ti­ckers und des News­let­ters, genau­so han­deln wie der Poli­zist, der am 5. Juni gegen halb elf hin­ter der Num­mer 110 Dienst tat  – und den Groß­alarm aus­lös­te. Ich bin nicht Poli­zist, son­dern nur ehren­amt­li­cher Worte­ma­cher. Ich kann kei­nen Groß­alarm aus­lö­sen. Ich pos­te bloß „Eil­mel­dung“ auf Face­book. Noch zu Beginn des Jah­res, vor mei­nem täg­li­chen Kon­takt mit dem Algo­rith­mus, hät­te ich weit mehr Geduld und Unglau­ben im Gepäck gehabt und an der Groß­alarm­la­ge zumin­dest kurz gezwei­felt. War­um sind die Zwei­fel fort?

Täglicher Glückskeks: bei Google Wedding eintippen

Hochzeit
Für Goog­le ist Wed­ding vor allem Hoch­zeit. Foto: Weddingweiser

Wer täg­lich das Wort „Wed­ding“ bei Goog­le ein­tippt, der weiß bald alles über das Roy­al Wed­ding von Herrn Wales und Frau Mark­le. Wie teu­er der Ring war, wann die Queen den Raum betritt, wer die Rosen gießt. Hoch­zei­ten stim­men froh­ge­mut. Nach den vie­len Wochen mit den guten Nach­rich­ten über das Ehe­glück, hät­te ich bei einem Anruf eines Mei­nungs­in­sti­tuts wahr­schein­lich dem Satz zuge­stimmt: die bri­ti­sche Mon­ar­chie ist für die Demo­kra­tie in Groß­bri­tan­ni­en unverzichtbar.

Ungesundbrunnen

Gesundbrunnen
Idyl­le passt zu Gesun­brun­nen? Nicht für Goog­le. Foto: And­rei Schnell

Welch Gegen­pro­gramm ergibt dage­gen die täg­li­che Online­su­che nach „Gesund­brun­nen“. „85-jäh­ri­ger ermor­det Rent­ne­rin in Senio­ren­wohn­heim“, „Jesi­de schoss, weil Toch­ter Mus­lim lieb­te“, „Mit Base­ball­schlä­ger ver­prü­gelt“, „Arzt attes­tiert Mes­ser­op­fer natür­li­chen Tod“. Es dau­ert lan­ge bis ich mer­ke, nicht der Gesund­brun­nen liebt die Gewalt, son­dern Goog­le. Es ist bloß der Algo­rith­mus. Die welt­wei­te Such­ma­schi­ne ver­schweigt mir kon­se­quent, was im Gesund­brun­nen in Augs­burg los ist. Oder in Baut­zen. Oder in der Gesund­brun­nen-Kli­nik in Heil­bronn. Was dort so geschieht, erfah­re ich auch nach tau­send Such­an­fra­gen nicht.

Men­schen, die gewief­ter sind als ich, wis­sen natür­lich: das liegt an der Stand­ort­er­ken­nung. Aber ist das Leben am Ber­li­ner Gesund­brun­nen wirk­lich so unge­sund, wie es Mar­lon Bran­do in Der Pate for­mu­lie­ren wür­de? Nur Mord und Tot­schlag? Ich fra­ge – obwohl ich die Ant­wort ahne – beim Lan­des­kri­mi­nal­amt nach. Wird im Gesund­brun­nen mehr gemor­det als in ande­ren Stadt­tei­len? „Ent­ge­gen Ihrer Wahr­neh­mung ist der Orts­teil Gesund­brun­nen auch im stadt­wei­ten Ver­gleich unauf­fäl­lig“, lau­tet die Antwort.

Die tägliche Polizeimeldung höhlt den Stein

Zeitung
Wie gut fil­tern die Zei­tun­gen? Man­che weni­ger gut.  Foto: And­rei Schnell

Und außer­halb von Goog­le? Zei­tun­gen zum Bei­spiel wer­ben damit, für mich zu fil­tern. Doch in Wirk­lich­keit über­neh­men man­che Poli­zei­mel­dun­gen in unge­zähl­ter Men­ge. Gibt man in den Online­por­ta­len der gro­ßen Zei­tun­gen aus Ber­lin die Stich­wor­te Wed­ding oder Gesund­brun­nen ein, erhält man (bei eini­gen!) zunächst eine lan­ge Lis­te mit Blau­licht-Fotos. Jeden Tag. Mit einem Male ver­ste­he ich den Leser, der uns eine Wei­le mehr­mals pro Woche auf Kri­mi­na­li­tät im Wed­ding hin­wei­sen woll­te. Über die wir bit­te­schön mal berich­ten soll­ten. Ich begrei­fe: er hat­te kein ver­dreh­tes Welt­bild, er hat ledig­lich täg­lich eine bestimm­te Zei­tung gelesen.

Gehirnwäsche mit eigenem Kopf erlebt

Frü­her nann­te man es Gehirn­wä­sche, was die sich stets wie­der­ho­len­den, ein­sei­ti­gen Ant­wor­ten des Algo­rith­mus anrich­ten. Ich habe es selbst unge­plant erfah­ren. Am Ende glaub­te ich tat­säch­lich, ein Amok­lauf in einer Wed­din­ger Schu­le ist bei der (dün­nen) Fak­ten­la­ge die wahr­schein­lichs­te Sze­na­rio. Ich war­te nicht ab, was dran ist an der Mel­dung. Wo täg­lich Rent­ner dran glau­ben müs­sen, kann es auch Schü­ler erwi­schen. So der Kurz­schluss in mei­nem Kopf. Ich tip­pe: Eilmeldung …

Autorenfoto Andrei SchnellAnd­rei Schnell merkt, wie der Algo­rith­mus der Such­ma­schi­ne sein Bild von Wed­ding und Gesund­brun­nen veränderte.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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