“Oh, cool, Berlin, da wohnst du bestimmt in Kreuzberg, oder? Oder Neukölln, da geht ja voll viel ab, ich glaube, da hat auch letztens so ein veganer Burgerladen aufgemacht von diesem Fitness-Influencer aus LA, hab ich bei Instagram gesehen, wenn ich dich besuchen komme, können wir ja mal…” – “Ich wohne im Wedding.” – “Oh.… Wo ist das denn?”
Zum Glück kennt den Wedding keine Sau
Als ich 2014 zum Studium nach Berlin gekommen bin, hab ich diese Konversation mit Freund*innen und Geschwistern wohl nicht nur einmal geführt. Das ist jetzt sechs Jahre her und das Beste daran? Ich führe sie genau so immer noch. Den Wedding kennt außerhalb Berlins Stadtgrenzen immer noch keine Sau, und das kann meinetwegen auch gerne so bleiben. Okay, den ambitionierten kleinen Cafés auf der Seestraße, die regelmäßig neu aufpoppen und wenige Monate später wieder schließen müssen, weil irgendwie doch recht wenig Laufpublikum vorbeiflaniert – denen würde ich ein paar Wedding-Besucher*innen mehr wünschen.
Andererseits – was soll man schon an der Seestraße (außer verzweifelt versuchen, sie in einer Grünphase zu überqueren, ohne auf halber Strecke von der M13 mitgenommen zu werden)?
Damals bin ich hergezogen, weil hier noch was Bezahlbares aufzutreiben war auch für junge Leute, deren Eltern nicht direkt die Wohnung oder das ganze Haus kaufen. Ich mach’ mir nix vor – dass ich in den Wedding kam, machte mich ein Stück weit trotzdem zur Gentrifiziererin (mein Gewissen beruhigte damals ein klein wenig, dass aus “unserer” Wohnung damals kein Renter*innenehepaar verdrängt wurde, sondern dass sie freiwurde, weil das junge Paar / Trio in spe darin nun doch lieber in den Prenzlauer Berg übersiedeln wollte. Ganz schön arriviert – ich bin sechs Jahre später keinen Schritt weiter in meiner Familienplanung, aber der Wedding, der damals noch Neuland war, ist mir so fest ins Herz gewachsen, dass ich mir nicht vorstellen kann, ihn jemals für einen anderen Kiez in Berlin herzugeben.
Pragmatischer, zuverlässiger Liebhaber, dieser Wedding
Wenn der Wedding eine Kontaktanzeige wär’, würde er sich wohl als pragmatischen, zuverlässigen Liebhaber ausweisen. Hat alles, was du brauchst, um deine Grundbedürfnisse zu stillen; steht nicht so auf Glitzer, Fahrradfahren, Technoclubs und andere Extravaganzen, aber hat dafür 20 Discounter auf einem Quadratkilometer und immer ’ne offene Notapotheke für dich! Dann triffst du dich mit ihm, bist erst bisschen angewidert, aber irgendwie ist er doch ganz korrekt. Und dann lernst du ihn kennen und stellst fest, fuck, da steckt verdammt viel hinter dieser schnodderigen Fassade. Ihr schlendert zusammen über die Müllerstraße und du denkst: “Ja, ist jetzt keine Bergmannstraße, aber dafür sind die Leute hier auch entspannter.” Den Genter Markt findest du sofort phantastisch (Maybachufer? Kennen wir hier nicht), die kleine Galerie direkt neben der Obdachlosenunterkunft, aber hier ignoriert man sich nicht gegenseitig oder pöbelt sich an, sondern man teilt ohne großen Bohei seine belegten Schrippen. Wenn er dich auch mag, zeigt dir der Wedding beim dritten Date vielleicht die Rehberge:
Ganz ehrlich, wer von uns hätte die Corona-Ausgangsbeschränkungen ohne diesen Himmel auf Erden überlebt? (Tiergarten? Kennen wir hier nicht). Außerdem, wie chillig sind eigentlich die Wildschweine?! Ich könnte ewig weiterschreiben, aber sollte besser mal langsam die Kurve kriegen, die Arbeit ruft.
Lokalpatriotismus braucht immer eine Weile, bis er sich einstellt: Anfangs ist alles ungewohnt und komisch. Dann reißt man sich zusammen und fängt an, Dinge zu unternehmen. Ganz nebenbei fängt man an, Erinnerungen in seinem Kiez zu machen: Hier die Bank vor dem Späti, wo wir Sonntagabends den Verkehrslärm mit unserem Lachen übertönen. Da der Stromkasten auf dem LIDL-Parkplatz, wo wir ins neue Jahr gefeiert haben. Der Imbiss, wo ein Kumpel eine Lebensmittelvergiftung bekam und wir nachts ins Virchow-Klinikum mussten. Die Post, wo ich schon so viel Lebenszeit in der Warteschlange gelassen habe. Der beste Simit-Laden der Stadt, hier stand bei der vorletzten Fete-de-la-Musique eine unfassbare Live-Band, dort war im Frühjahr ein Schwanennest, da hinten, zwischen der Linden und dem alten Bauzaun versteckt sich ein verzauberter Buchladen… Und, und, und. Und eh man sich’s versieht, ist man heillos verloren. Man fängt an, sein nicht-Weddinger Umfeld mit Liebesbekundungen zu nerven und hört auf, die schlechten, problematischen, rotzigen Seiten wahrzunehmen- genau, wie wenn man frisch verliebt ist. Und ich sag mal so, bei mir hat noch keine Beziehung so lange gehalten wie die Liebe zum Wedding.
Autorin: Katharina
„Und ich sag mal so, bei mir hat noch keine Beziehung so lange gehalten wie die Liebe zum Wedding…“
Das lässt wirklich tief blicken. Da würde ich mir aber wirklich mal Gedanken machen…
Danke! ich lebe selbst seit fast 20 Jahren im Wedding (nahe dem Lädchen auf dem Bild unten) und fühle mich hier sehr wohl.